Freitag, 27. April 2012

43 Weißer Overall i

Mili war nicht jedesmal nackt, wenn Toni aufwachte. Sie liebte es, sich zu verkleiden. Ihr Lieblingskostüm waren die Nixenflossen. Aber Toni hatte sie auch schon in einem gefleckten Negligé, mit den Farben einer Kuh gesehen. In dieser Nacht hatte sie eine neue Überraschung für ihn bereit. Keine Ahnung wie sie auf diese verrückte Idee gekommen war. Sie lag im Bett mit einem schwarzen Talar umgeben, wie die Nacht die Erde umhüllt und auf dem Kopf ein komischer schwarzer Deckel, ebenfalls in Schwarz – ein Doktorhut. Das einzige nicht schwarze, war ihr köstliches Gesicht, das im Dunklen wie der Frühlingsmond erstrahlte. Toni rieb sich die Augen, war er noch im Schlaf oder war er schon in der nächtlichen Welt, die er mit Mili teilte? Ganz sicher war er sich nicht.
Für Milis Temperament ging es etwas zu langsam. Mit einem Ruck hob sie den Stoff an. Zum Vorschein kamen ihre glatten, langen Beine, die wohlgeformte Hüfte und ihr haarloses Geschlecht, dann die Taille. Das fand Toni so erotisierend, dass er sie sofort an sich zog. Da riss sie das Gewand kurzerhand in Stücke und warf es als Schnipsel neben das Bett. Erst da bemerkte er, dass es nur aus Papier bestand. Beim Tollen verlor sie auch ihren Hut. Aber als sie danach zu ihrer Geschichte anhob, setzte sie ihn wieder auf. AS

Während der Zeit, in der er auf Anraten Oppermanns als Fahrender unterwegs war, kam er eines Tages in Heimen vorbei. Er hielt auf dem Gelände von Baumeisters, ging hinüber zum Haus auf der anderen Straßenseite und legte sich im Garten auf einen ihrer Liegestühle.
Wie er so daliegt, hört er die Türe aufgehen. Er schaut hin und sieht sie hinaustreten – MaLu - zu der er mit seiner Mitte wie durch eine Nabelschnur verbunden ist. Sie schaut in seine Richtung, zögert. Es ist, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Dann kommt sie freudig her und begrüßt ihn zärtlich. Sie rückt einen Stuhl herbei. Mark setzt sich auf die Liege.
Da sieht er einen hageren, gehetzten Mann, durch die Vordertür das Haus verlassen. Mark wird sich einmal mehr bewusst, wie wenig er über diese Frau weiß. Obwohl sie – wie er spürt - den Boden bildet, in den er seinen Anker geworfen hat. Anscheinend vollzieht sich gerade jetzt, im Moment, da er angekommen ist, ein tiefgreifender Wandel in diesem Haus. MaLu macht nicht den Eindruck, als würde sie dem fliehenden Partner nachtrauern. Sie bleibt ihrem Gast ganz zugewandt und wirkt glücklich und ausgewogen, wie er sie lange nicht erlebt hat. Vielleicht trifft das Verschwinden des Gehetzten nicht ganz zufällig mit seinem Besuch zusammen, überlegt er.
Ein, zwei Stunden bleibt er bei MaLu sitzen. In ihrer Gegenwart lädt sich seine Mitte wie ein Akku auf. Gestärkt für die Fahrt verlässt er ihren Garten.

In der Baumeisterei drüben trifft er zwischen Stapeln von Mauersteinen und Gerüstbrettern auf einen Asiaten, der sich umzusehen scheint.
„Willkommen in Heimen“, ruft Mark ihm freundlich zu und will zu seinem Wohnmobil gehen.
Der Asiate macht einen irgendwie hilflosen Eindruck. Mark gefällt dieser andersartige Mensch, er fühlt sich gleich zu ihm hingezogen. Von der Gesichtsform, der Hautfarbe und vom Körperbau mag er ja sehr verschieden sein, aber in der Lebenseinstellung, das spürt Mark, ist er ihm ähnlich. Schwärmen vom Dolce far niente würde ihn eher bedrücken. Wogegen die Geschichten der Taten des Herakles ihn wohl aufleben ließen.
Mark dreht sich um und geht auf ihn zu. „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, fragt er.
Dem Asiaten entfährt ein Seufzer, er lehnt sich gegen die Gerüstbretter und stößt dann die Frage hervor: „Ist Ihnen schon aufgefallen, wie ungleich Geschichte auf die Völker verteilt ist?“
Verwundert über diese Frage schaut Mark ihn nachdenklich an und setzt sich auf einen Steinhaufen. Der Asiate holt weiter aus. „Ich habe mir ja als Junge einiges eingebildet auf die Traditionen unseres Inselstaates, berichtet er. Aber als ich dann älter wurde und die abendländische Kultur kennenlernte, da kam ich mir vor wie am Rand der Welt. Was diese westlichen Länder in ihrer Verbundenheit und in ihrem gegenseitigen Wettstreit an Wissenschaft und Kultur geschaffen haben, ist schlicht unfasslich.“
Mark fällt einiges ein, das er darauf erwidern könnte. Zum Beispiel, dass sich ein asiatisches Inselreich sehr erfolgreich in die Fortsetzung dieses Wetteiferns eingeklinkt hat. Oder wie viele Hiesige sich gerne von der westlichen Kultur lösten und ein ganz anderes Leben führen würden. Als Zen-Mönch zum Beispiel oder als Samurai. Aber er wird abgelenkt.
Der Asiate hält ein Messer in der Hand und spielt damit. Wahrscheinlich ist das nur ein Tick von ihm, denkt Mark. Trotzdem ist ihm nicht wohl dabei.
„Darf ich mal?“, fragt er.
Der Asiate ist zwar verdutzt, reicht es ihm aber bereitwillig.
Mark nutzt die Gelegenheit und entfernt mit der Spitze des Messers die dunklen Ränder, die sich unter seinen Nägeln gebildet haben. Seit er Fahrender ist, kommt die Körperpflege oft zu kurz. Er bedankt sich und reicht das Messer zurück.
Er ist dem Asiaten eine Antwort schuldig. Aber statt sich auf ein Für und Wider der hiesigen einzulassen, möchte Mark ihm lieber schildern, wie er über eine Unzulänglichkeit dieser Kultur, die der Asiate so hochhält, gestolpert ist.
Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen. Am liebsten da, wo es mir zugestoßen ist – auf dem Campus. Wenn Sie Zeit hätten, mich zu begleiten?
Der Asiate nickt eifrig. Er streckt Mark die Hand entgegen und stellt sich vor. „Ich heiße Tamura.“
„Mark – sehr erfreut.“
Tamura nimmt auf dem Nebensitz Platz. Sie fahren zum Unigelände. Dort parkt er seinen Wohnwagen zwischen den PKWs der Studenten. MLF

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