Toni wachte nicht
vollständig auf. Er blieb auf einer Zwischenstufe hängen. Die Sinne
vermittelten die Daten eines Ortes und einer Person neben ihm, aber er konnte
das Wahrgenommene nicht mit etwas Bekanntem verbinden. Nächtlich matter
Lichtschein dringt durchs Fenster. Schlafnische in größerem Raum. Zweitperson
auf dem Bett. Oberkörper unbedeckt. Weiblich. Schön. Es begann in ihm zu rödeln
wie auf einer Festplatte, nach Eingabe eines komplexen Suchbefehls. Er suchte nach
einer Frau, die ihm heimlich gefolgt sein könnte. Er war alarmiert, weil Frauen
für ihn Verpflichtungen bedeuteten. Bevor die Suche beendet war, fiel er wieder
in Schlaf.
Beim zweiten Mal wachte er
richtig auf. Es war immer noch dunkel, aber dieses Mal war es sein Zimmer und
neben ihm lag Mili. In ihrem Blick glaubte er eine gewisse Unsicherheit zu
erkennen. Du wirst dich mir doch nicht entziehen wollen?, las er als Frage in
ihren Augen.
„Guck doch nicht so besorgt“,
sagte er aufmunternd. „Zwar verlangst du mehr von mir, als ich mir je hätte
vorstellen können. Aber du gibst mir ja auch viel.“
Da strahlte Mili, deckte
sich ganz ab und zog ihn an sich.
Im Anschluss an das Liebesspiel
erzählte sie ihre Geschichte. AS
An die große unterirdische Garage, die halbvoll von geparkten
Autos, schließt eine schmale Halle an, die deutlich tiefer liegt als die Parkebene
und entsprechend mehr Höhe hat, als die zwei Meter zehn einer Tiefgarage. Ein
Teil der Trennwand ist schon fertig. Er wartet auf den Bescheid des Bauführers.
Ganz abschließen kann er diesen tiefer gelegenen Raum erst, wenn alle großen
Einrichtungs-Objekte nach drinnen gebracht sind.
Während er dasteht und wartet, fällt ihm in etwa zwanzig Metern
Distanz ein schwarzer Wagen auf. Mehrere Menschen sitzen darin und scheinen zu
warten. Die werden doch nicht die Nacht im Auto verbringen wollen. Das wäre ja
nochmal eine neue Dimension. Sie starren zu ihm herüber. Durch die Scheibe der
hinteren Tür, sieht er das Gesicht einer jungen Frau. Das ist doch ihre Schwester, durchfährt es ihn. Er
schaut mehrmals hin, um sich zu vergewissern. Kann gut sein, dass ich mir das
nur einbilde, schließlich leide ich seit neustem an Verfolgungswahn, murmelt er
halblaut. Seit eine junge Frau, die ihr ähnelt, ihm auf den Fersen ist, glaubt
er sie überall zu sehen. Doch nach wiederholtem Hinschauen besteht kein Zweifel
mehr, sie ist die Schwester. Zweimal
hat er sie in ihrer Gesellschaft gesehen. Dann wird sie selber ja nicht weit sein.
Seit Wochen, ja Monaten, verfolgt ihn eine junge Frau. Er weiß
gar nicht, wann er sie zum ersten Mal wahrgenommen hat. Sie musste in einer
ganz besonderen Stimmung gewesen sein, als er ihren Weg gekreuzt hatte. Anders
konnte er sich ihre Vernarrtheit nicht erklären. Sobald er sie sah, drehte er
ihr den Rücken zu. Nur zwischendurch, wenn die Neugierde zu stark wurde, warf
er einen verstohlenen Blick auf sie. Zu sehen, was für eine Frau sie war. Sie
war hübsch, ohne Zweifel. Wenn er sich noch für Frauen interessiert hätte, wäre
sie wohl sein Typ gewesen. Aber auf eine Beziehung zu einer jungen Frau wollte
er sich nicht mehr einlassen. Er tendierte zum gleichen Geschlecht – seiner Freiheit
wegen.
Das vom matten Schein der nahen Lampe erleuchtete Gesicht ist
ohne Zweifel das ihrer Schwester. Der dunkle Mann vorn am Steuer ist wohl ihr
Vater und auf dem Nebensitz vorne, nur vage zu erkennen, ihr Bruder. Jetzt
lässt sie sich schon von ihrer Familie hinter mir herfahren, sagt sich Lothar
kopfschüttelnd. Sie muss sie verrückt gemacht haben. Ihre Liebe scheint nicht
nur unvernünftig, sondern auch maßlos zu sein. Oder kann es sein, dass sie
zufällig da sind? Unmöglich, bei den Dutzenden von Tiefgaragen in der Stadt. Wenn
jemand so an Liebe leidet, tut man wahrscheinlich alles, um sein verheerendes
Feuer einzudämmen. Lothar überlegt, ob er zu ihnen hingehen soll. Aber ganz
sicher ist er sich dann doch nicht. Und ungern würde er ihr im Beisein der
Familie klaren Wein einschenken. Mit der Arbeit ist er auch unentschieden. Er weiß
nicht, ob er die Wand an diesem Abend noch vervollständigen kann. Da steht sie
plötzlich vor ihm.
Sie fixiert ihn mit ihren dunklen Augen. Keine Möglichkeit ihr
auszuweichen. Vom Alter her ist sie, wie er dachte, sechzehn, höchstens. Oder
doch schon älter? Schwer zu sagen. Ihr Kopf wirkt breiter, als bei den früheren
Malen, da er sie gesehen hatte. Dass sie einen breiten Kopf hat, passt zu ihrer
Beharrlichkeit, denkt er. Da Lothar nichts anderes einfällt, fragt er.
„Bist du die, die meine Nähe sucht?“ Seine Stimme klingt sachlich
wie die Durchsage in einem Sprechzimmer: Der Nächste bitte!
Sie blickt ihn mit leicht gesenktem Kopf von unten an und sagt
nichts. Nach einer Weile bewegt sie ihren Kopf bekräftigend.
Dann muss es jetzt sein, sagt sich Lothar. Ich werde ihr in Ruhe
meine Lage schildern. Dass ich sehr beschäftigt bin und ihr nichts von dem
geben kann, was sie sich von einem reiferen Mann erhofft. Und dass ich
neuerdings hombsch bin, werde ich ihr auch sagen. Dass ich einer Frau gar nicht
mehr beiwohnen kann, weil ich im Beisein einer Frau keine Erektion mehr kriege.
Aber just in diesem Moment spannt seine Unterhose. Die Aufregung, nichts als
die Aufregung, sagt er sich. Ihre Nähe hat halt doch eine Wirkung auf ihn. Umso
wichtiger, dass sie sich aussprechen und er diesem Spiel ein Ende bereitet.
„Sollen wir miteinander reden?“, fragt er zögernd und nicht mehr
ganz so sachlich.
Sie nickt hastig.
„Also gut, lass uns nach oben gehen.“ Er schaut zerstreut auf
seinen Arbeitsplatz, ob da noch was Wichtiges zu erledigen ist. Die Maschinen
hat er schon verräumt. Das bisschen Späne kann liegen bleiben. „Am besten
setzen wir uns oben ins Foyer“, überlegt er laut.
„Würdest du deiner Familie Bescheid geben. Eine halbe Stunde
sollten sie bereit sein zu warten.“
Sie überhört seinen Auftrag. Dreht sich nicht zum Auto zurück,
sondern drängt zur Tür des Treppenhauses. Lothar sieht aus den Augenwinkeln,
wie der schwarze Wagen wendet und hört die Reifen knirschen. Ein sonderbares
Gefühl beschleicht ihn. Wie wenn er an sich plötzlich ein neues Körperteil
entdeckt hätte. Zwei neue Arme zum Beispiel. Er wäre wohl nicht verwirrter
gewesen.
An der Lichtanlage im Treppenhaus hat er die üblichen
Schwierigkeiten. Die Tasten sind verschieden belegt, in Abhängigkeit von
Faktoren, die er noch nicht durchschaut hat. Er versucht es mit denjenigen, die
er beim letzten Mal nach langem Probieren für die richtigen entdeckt hat. Keine
Wirkung. Im vertieften Raum brennt weiterhin das Licht. Sie kommt näher, wirft
einen Blick auf die Paneele. Er schaut sie verwundert an. Im Licht des
Treppenhauses wirkt ihr Gesicht wieder viel schmäler. Sie trägt deutlich die
Züge einer Fahrenden, hohe Stirnknochen, dunkles, kräftiges Haar und eine
hellbraune Haut. Kurz bildet sich eine senkrechte Falte zwischen ihren geschwungenen
Brauen. Dann drückt sie in schneller Folge drei Schalter. Das Licht erlischt. Wahrscheinlich
ist sie doch nicht so jung wie ihm schien, überlegt er, als sie die Treppen
hochsteigen. Aus ihrer Beharrlichkeit habe ich auf die Verliebtheit einer
Teenagerin geschlossen, begründet er seine Annahme. Vielleicht hat sie ja ganz
andere Motive, warum sie meine Nähe sucht. Ihr ins Foyer folgend ist er
unsicher, ob es ihm gelingen wird, sie von sich fernzuhalten. MLF
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