Montag, 30. April 2012

43 Weißer Overall j

Im Unigelände führt Mark Tamura auf einen Hügel und nimmt neben ihm Platz auf einer Parkbank mit Blick auf den Campus. Quaderförmige Gebäude, zum Teil miteinander verbunden, zum Teil einzeln stehend. Der Vorlesungstrakt, die Mensa, ein Verwaltungsgebäude, dahinter die Institute. Die Bibliothek sticht heraus, weil man an ihr, mit einer überkragenden Glasfront, etwas mehr architektonisches Geschick hat walten lassen. Auf den von jungen Bäumen gesäumten Wegen gehen einzelne Menschen, ab und zu auch größere Gruppen. Auffallend ist, dass sie alle eine Mappe unterm Arm oder einen Rucksack über der Schulter tragen. Er kommt auf den denkwürdigen Tag zu sprechen, an dem er die Universität verließ.
„Paradoxerweise habe ich just an diesem Tag, ein Angebot gekriegt, auf das ich lange gewartet hatte“, hebt er an. „Als ich diesen Weg dort entlang ging – er deutet auf einen geraden Weg zwischen zwei großen Gebäuden – kam mir ein großer, stattlicher Mann entgegen. Er trug einen weißen Overall, hatte den Reißverschluss weit offen. Am liebsten hätte ich die Hand in die Öffnung gesteckt und seinen Oberkörper berührt. Er bot mir die Teilnahme an einem Forschungsprojekt an. Die Aufarbeitung der Biografien und besonderen Schicksale hombscher Persönlichkeiten. Männer wie Frauen. Eine Einladung zu einem Date von einem so tollen Mann hätte mich nicht mehr freuen können, als dieses Angebot. In meinem Lieblingsgebiet forschen und dafür auch noch bezahlt zu werden, was konnte ich mir Besseres wünschen. Ein lang gehegter Traum ging in Erfüllung.“
Er schaut auf Tamura. Dessen Blick ist ganz auf ihn gerichtet, also fährt Mark fort. „Aber dann spürte ich etwas in mir zurückweichen. Ich wurde plötzlich unsicher. Die Farbe seines Kombi-Anzuges mochte einen Einfluss ausgeübt haben. Schon damals reagierte ich empfindlich auf die Farbe Weiß. In der kurzen Zeit unseres Gesprächs, hatten meine Augen zu brennen begonnen. Statt sofort zuzusagen, wie er gewiss erwartete (und ich auch), erbat ich mir Bedenkzeit. Er schien nicht enttäuscht zu sein. Was wiederum mich enttäuschte. Ich fühlte mich von einem tollen Hirsch beim ersten Hindernis fallen gelassen. Aber das war nicht der Grund meiner späteren Absage.“
Mark ging damals weiter zur Bibliothek. Es war wie immer auffällig ruhig, dafür, dass sich in diesen Gebäuden so viele Menschen aufhielten. Aus einer Saaltür hörte er die eindringliche Stimme eines Vortragenden. In der Imbiss-Ecke lachten ein paar Studenten. Aber diese Laute wurden sofort aufgesogen von einer Atmosphäre des Lernens, die allgegenwärtig war. In der Bibliothek arbeitete Mark wie gewohnt. Er vergaß sogar die Begegnung mit dem Strotzenden im Overall.
Als er gegen Abend den Lesesaal verließ, geriet er in den Strom der Studenten. Eine farbige Frau mit hellbrauner Haut und kurzen Haaren schwang einen Plastikbeutel und rief.
 „Vesper umsonst abzugeben!“
Mark kannte diese junge Frau. Sie war eine umtriebige Person und hatte schon einiges zur Gender-Forschung veröffentlicht. Einmal war er in der Mensa zufällig neben ihr zu sitzen gekommen. Er hatte versucht das Gespräch auf persönliche Dinge zu lenken. Sicher war sie hombsch. Es hätte ihn interessiert, was sie für Erfahrungen gemacht hatte. Aber sie gab ihm deutlich zu verstehen, dass das an diesem Ort kein Thema war. Es ging um Forschung und nicht um Persönliches.
Als er den Beutel sah, verspürte er Hunger, sah aber, dass dieser nichts als eine trockene Brezel enthielt und wandte sich ab.
Als nächstes drängte ein verrückter Typ durch den Strom der Studenten. Er balancierte auf einem Stock das Tablett mit seinem Mensaessen. Auch er bot es an. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren, nicht mal er selber. Da hob er das Tablett auf einen Stapel von Geschirr, der sich an der Wand hoch bis zum oberen Stock türmte. Dort war das Küchenfenster. Mark sah, wie sie die Tabletts oben reinnahmen, um sie abzuräumen. Was für ein eigenartiger Kreislauf, dachte er.
Als Geschenk zum Diplomabschluss hatte er ein Gerät erhalten, mit dem man Entscheidungen leichter treffen konnte. Es stammte von einer der an der Universität angesiedelten Entwicklerfirmen – ein Werbegeschenk. Die Funktionsweise war ganz einfach. Man gab die verschiedenen Ziele – meistens zwei gegensätzliche – mit zugehörigen Argumenten ein und erhielt innert Kurzem ein Diagramm, das die Bewertung der Zielpunkte anzeigte. Je nach Verteilung der Bewertungsgrade erklangen verschiedene Töne. Das Gerät war zweiteilig. Die eine Hälfte konnte man einer nahe stehenden Person geben, so dass beide davon profitierten und die Gemeinsamkeit gefördert wurde. Dem Ehemann, der Ehefrau oder sonst einer Person, mit der man gesinnungsmäßig eng zusammenzugehen wünschte. Ein schöner Nebeneffekt des Gerätes war, dass es so schön flunkerte und blinkte.
Tamura unterbricht ihn mit der Frage, wem er die andere Hälfte gegeben habe? „Oder hast du sie noch bei dir?“
„Ich hatte damals Abasi, einen jungen Farbigen, zum Freund“, gibt Mark zur Antwort. Ich mochte ihn sehr, ja, heute aus Distanz, muss ich wohl sagen, dass ich in ihn verliebt war. Aber es war mir nicht möglich mich ihm zu öffnen. Seine sinnliche Art verunsicherte mich. Trotzdem wünschte ich ihm näher zu kommen. Dazu schien mir das Werbegeschenk wie geschaffen. Ich schenkte ihm mein Zwillingsstück ungefähr ein halbes Jahr vor dem Tag, von dem ich dir berichte. Am Tag davor hatte ich bemerkt, dass meines nicht mehr blinkte. Ich hatte es gar nicht so oft benutzt. Die meisten Entscheidungen traf ich ja doch aus dem Bauch heraus. Es war mehr das fröhliche Flunkern und Blinken, das mir gefiel. Dass das Flunkern aussetzte, beunruhigte mich. Also suchte ich Abasi auf, zu sehen, ob seine Hälfte noch tat.“
Mark unterbricht sich und weist in die Richtung des WG-Gebäudes, in dem Abasi wohnte.
Tamura nickt.
„Ich traf ihn in seiner Wohnung an. Er hatte gerade ein Bad genommen und zog sich an. Da entdeckte ich, warum mein Gerät nicht mehr flunkerte. Die Innereien von seinem lagen draußen, jemand hatte sie herausgerissen. Wer anders als Abasi? Ich wollte ihm gerade Vorwürfe machen, als mein Blick in die Wanne fiel. In dem Becken lag seine kleine Schwester – unter Wasser.
„Pass auf!“, herrschte ich ihn an, „so lange unter Wasser zu sein, wird ihr nicht guttun.“
Abasi schicksalsergeben: „Die ist schon lange hinüber!“
Dass Abasi seine kleine Schwester verlor, konnte ich nicht einfach so wegstecken. Das gab den Ausschlag, dass ich dem Strotzenden im weißen Overall definitiv absagte und die Universität verließ.
Tamura schaut ihn ungläubig an. „Hast du es nie bereut?“, fragt er.
Ganz scheint er die Tragweite dieses Vorfalls noch nicht begriffen zu haben, denkt Mark und wiegt den Kopf. „Ich gebe zu, die Entscheidung damals war spontan. Erst als mir klar wurde, dass die kleine Schwester ertrunken ist, während Abasi mit meinem Diplom-Geschenk gespielt hat, habe ich sie für mich auch begründen können. Aus Verzweiflung hatte er dann das Gerät zerstört. Mark fügt hinzu, dass er den Entschluss seither nicht einen Tag bereut habe. MLF

Freitag, 27. April 2012

43 Weißer Overall i

Mili war nicht jedesmal nackt, wenn Toni aufwachte. Sie liebte es, sich zu verkleiden. Ihr Lieblingskostüm waren die Nixenflossen. Aber Toni hatte sie auch schon in einem gefleckten Negligé, mit den Farben einer Kuh gesehen. In dieser Nacht hatte sie eine neue Überraschung für ihn bereit. Keine Ahnung wie sie auf diese verrückte Idee gekommen war. Sie lag im Bett mit einem schwarzen Talar umgeben, wie die Nacht die Erde umhüllt und auf dem Kopf ein komischer schwarzer Deckel, ebenfalls in Schwarz – ein Doktorhut. Das einzige nicht schwarze, war ihr köstliches Gesicht, das im Dunklen wie der Frühlingsmond erstrahlte. Toni rieb sich die Augen, war er noch im Schlaf oder war er schon in der nächtlichen Welt, die er mit Mili teilte? Ganz sicher war er sich nicht.
Für Milis Temperament ging es etwas zu langsam. Mit einem Ruck hob sie den Stoff an. Zum Vorschein kamen ihre glatten, langen Beine, die wohlgeformte Hüfte und ihr haarloses Geschlecht, dann die Taille. Das fand Toni so erotisierend, dass er sie sofort an sich zog. Da riss sie das Gewand kurzerhand in Stücke und warf es als Schnipsel neben das Bett. Erst da bemerkte er, dass es nur aus Papier bestand. Beim Tollen verlor sie auch ihren Hut. Aber als sie danach zu ihrer Geschichte anhob, setzte sie ihn wieder auf. AS

Während der Zeit, in der er auf Anraten Oppermanns als Fahrender unterwegs war, kam er eines Tages in Heimen vorbei. Er hielt auf dem Gelände von Baumeisters, ging hinüber zum Haus auf der anderen Straßenseite und legte sich im Garten auf einen ihrer Liegestühle.
Wie er so daliegt, hört er die Türe aufgehen. Er schaut hin und sieht sie hinaustreten – MaLu - zu der er mit seiner Mitte wie durch eine Nabelschnur verbunden ist. Sie schaut in seine Richtung, zögert. Es ist, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Dann kommt sie freudig her und begrüßt ihn zärtlich. Sie rückt einen Stuhl herbei. Mark setzt sich auf die Liege.
Da sieht er einen hageren, gehetzten Mann, durch die Vordertür das Haus verlassen. Mark wird sich einmal mehr bewusst, wie wenig er über diese Frau weiß. Obwohl sie – wie er spürt - den Boden bildet, in den er seinen Anker geworfen hat. Anscheinend vollzieht sich gerade jetzt, im Moment, da er angekommen ist, ein tiefgreifender Wandel in diesem Haus. MaLu macht nicht den Eindruck, als würde sie dem fliehenden Partner nachtrauern. Sie bleibt ihrem Gast ganz zugewandt und wirkt glücklich und ausgewogen, wie er sie lange nicht erlebt hat. Vielleicht trifft das Verschwinden des Gehetzten nicht ganz zufällig mit seinem Besuch zusammen, überlegt er.
Ein, zwei Stunden bleibt er bei MaLu sitzen. In ihrer Gegenwart lädt sich seine Mitte wie ein Akku auf. Gestärkt für die Fahrt verlässt er ihren Garten.

In der Baumeisterei drüben trifft er zwischen Stapeln von Mauersteinen und Gerüstbrettern auf einen Asiaten, der sich umzusehen scheint.
„Willkommen in Heimen“, ruft Mark ihm freundlich zu und will zu seinem Wohnmobil gehen.
Der Asiate macht einen irgendwie hilflosen Eindruck. Mark gefällt dieser andersartige Mensch, er fühlt sich gleich zu ihm hingezogen. Von der Gesichtsform, der Hautfarbe und vom Körperbau mag er ja sehr verschieden sein, aber in der Lebenseinstellung, das spürt Mark, ist er ihm ähnlich. Schwärmen vom Dolce far niente würde ihn eher bedrücken. Wogegen die Geschichten der Taten des Herakles ihn wohl aufleben ließen.
Mark dreht sich um und geht auf ihn zu. „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, fragt er.
Dem Asiaten entfährt ein Seufzer, er lehnt sich gegen die Gerüstbretter und stößt dann die Frage hervor: „Ist Ihnen schon aufgefallen, wie ungleich Geschichte auf die Völker verteilt ist?“
Verwundert über diese Frage schaut Mark ihn nachdenklich an und setzt sich auf einen Steinhaufen. Der Asiate holt weiter aus. „Ich habe mir ja als Junge einiges eingebildet auf die Traditionen unseres Inselstaates, berichtet er. Aber als ich dann älter wurde und die abendländische Kultur kennenlernte, da kam ich mir vor wie am Rand der Welt. Was diese westlichen Länder in ihrer Verbundenheit und in ihrem gegenseitigen Wettstreit an Wissenschaft und Kultur geschaffen haben, ist schlicht unfasslich.“
Mark fällt einiges ein, das er darauf erwidern könnte. Zum Beispiel, dass sich ein asiatisches Inselreich sehr erfolgreich in die Fortsetzung dieses Wetteiferns eingeklinkt hat. Oder wie viele Hiesige sich gerne von der westlichen Kultur lösten und ein ganz anderes Leben führen würden. Als Zen-Mönch zum Beispiel oder als Samurai. Aber er wird abgelenkt.
Der Asiate hält ein Messer in der Hand und spielt damit. Wahrscheinlich ist das nur ein Tick von ihm, denkt Mark. Trotzdem ist ihm nicht wohl dabei.
„Darf ich mal?“, fragt er.
Der Asiate ist zwar verdutzt, reicht es ihm aber bereitwillig.
Mark nutzt die Gelegenheit und entfernt mit der Spitze des Messers die dunklen Ränder, die sich unter seinen Nägeln gebildet haben. Seit er Fahrender ist, kommt die Körperpflege oft zu kurz. Er bedankt sich und reicht das Messer zurück.
Er ist dem Asiaten eine Antwort schuldig. Aber statt sich auf ein Für und Wider der hiesigen einzulassen, möchte Mark ihm lieber schildern, wie er über eine Unzulänglichkeit dieser Kultur, die der Asiate so hochhält, gestolpert ist.
Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen. Am liebsten da, wo es mir zugestoßen ist – auf dem Campus. Wenn Sie Zeit hätten, mich zu begleiten?
Der Asiate nickt eifrig. Er streckt Mark die Hand entgegen und stellt sich vor. „Ich heiße Tamura.“
„Mark – sehr erfreut.“
Tamura nimmt auf dem Nebensitz Platz. Sie fahren zum Unigelände. Dort parkt er seinen Wohnwagen zwischen den PKWs der Studenten. MLF

Donnerstag, 26. April 2012

42 Reussbuhlen

In dieser Nacht kam ihm sein Bett sehr eng vor. Als Mili kam, glaubte er keinen Platz mehr zu haben, um sich drehen und wenden zu können. Er hatte in einem schönen, luftigen Traum die Weiten einer unbegrenzten Welt genossen. Ihre Nähe, ihre Hitze und ihre Sinnlichkeit waren ihm fast zu viel. Lieber hätte er gedöst und weiter seinem Traum nachgehangen.
Mili schien es zu spüren. Plötzlich erhob sie sich und war verschwunden. Er streckte sich und genoss die Freiheit. Aber dann erkannte er seinen Traum als bloßes Trugbild. Er sah Mili beim Fenster in ihrer vollen Schönheit. „Mili“, rief er, „verlass mich nicht!“ Sie kehrte zurück, schmiegte sich an ihn und sie feierten Réunion.
Anschließend erzählte sie einen weiteren Abschnitt der Geschichte von Bodo und Enrico. AS

Solange er in Reussbuhlen nur zu Besuch war, hatte er die Andersartigkeit dieser Welt nicht so stark empfunden wie jetzt, da er zu Enrico zog. Plötzlich war der Raum, den er seinen eigenen nannte, auf ein Drittel des vorigen geschrumpft. Zudem sah es Enrico ungern, wenn er sich in seinem Zimmerchen verschanzte.
Bodo hatte davor in einer mondänen Welt Zwischenstation gemacht. Ein Haus am See, Teil eines großen Parks. Die Nachbarn alle in Villen. Man traf sich, aß Kuchen und trank Kaffee aus zierlichem Porzellan und tauschte die neusten Mitteilungen der medial Begabten aus. Denen zufolge lebte man in einer Zeit des großen Wandels. Der eigene Wohlstand bestätigte das Gesetz der kosmischen Fülle. Nur Menschen, die sich durch ihre Gedanken selbst beschränkten, mussten noch darben. Die anderen, Reiferen, hatten bereits Anteil an der göttlichen Unbegrenztheit.
Für Bodo blieb auch nach dem zweiten Stück Kuchen und der dritten Tasse Kaffee sein Leben noch immer ein reduzierter Zustand in einer Projektionsebene, in der er wer weiß was zu lernen hatte. An eine Transformation glaubte er nicht – jedenfalls nicht solange er diese Luft atmete (egal ob sie nach Rosenwasser oder nach Abgasen roch). Wenn es doch ein Mittel zur Verwandlung gab, dann am ehesten die Liebe, weil sie der schönste und zugleich unsicherste Zustand war.
Bei Enrico war alles anders. Nicht nur im Haus, in das er eingezogen war, sondern im ganzen Viertel empfand Bodo die drangvolle Nähe der Menschen zueinander. Er hatte das Gefühl, die Arme an sich halten zu müssen, um nicht an andere zu stoßen.
„Sie werden dich fragen, wer du bist und was du machst“, bereitete Enrico ihn vor und warnte ihn zugleich. „Eine hombsche Partnerschaft erlaubt ihre herkömmliche, begrenzte Sichtweise nicht. Sei vorsichtig, was du sagst“, warnte er ihn.
„Wie sollen die Menschen mich akzeptieren, wenn ich nicht zeige, wie ich bin?“, fragte er. Bemerkte aber, dass sein Geliebter erschrak.
„Sich gegenseitig akzeptieren, ist das Letzte, zu was die Menschen hier bereit sind“, entgegnete Enrico erhitzt. „Vielmehr tratschen sie und zerreißen sich den Mund über einander. Wann morgens die Fensterläden hochgehen, wohin du zur Arbeit fährst, was für ein Auto draußen steht (wehe, du hast keins). Das sind die Dinge, die sie interessieren. Durch Rasen Mähen und Unkraut Beseitigen, kannst du Punkte machen.“
Wenn Enrico so redete, sah Bodo das Bild einer mit Fischen prall gefüllten Reuse. Die Fische mussten sich von ihrer Natur her bewegen, waren sich aber so nahe, dass es eigentlich gar nicht möglich war.
Enrico hatte sich kraft seiner Sinnlichkeit eine eigene Welt erobert. Am liebsten hätte er Bodo ständig im Arm gehalten, ihm alles, was ihm gerade in den Kopf kam, mitgeteilt und morgens im noch warmem Bett, mittags auf dem Sofa und abends bei besonderer Beleuchtung mit ihrer beider Schlüssel gespielt. „Ich lebe nur einmal und möchte in diesem kurzen Leben so viel Sinnlichkeit wie möglich spüren“, war seine Devise. In den eigenen vier Wänden, tagsüber die Vorhänge gezogen, nachts die Rollläden unten, konnte er seiner Sinnlichkeit folgen, die ihm einzig lebenswert schien. Gewisse Cafés, der Strand an der gegenüberliegenden Seite des Badesees und das Lila-Center bildeten als schöne Spielflächen sozusagen die Außenstellen seines sinnlichen Reiches.
Ein bisschen hatte sich Bodo schon mit ihm und diesen Menschen, die er früher gemieden hatte, angefreundet. Aber dann trat ein kleiner Dicker auf und schmiss sich an ihn ran. Er stieß ihn von sich und floh.
Zurück in der Welt der großen Rasenflächen und der kommoden kosmischen Pläne fühlte sich Bodo tief unglücklich. Es zog ihn erneut zu Enrico. Dabei verspürte er wunderlicherweise nicht Angst, sondern eine prickelnde Spannung. MLF

Mittwoch, 25. April 2012

41 Fund an der Grenze j

Am nächsten Morgen hielt sich Tommy an die Arbeit. Zum Fundbüro konnte er auch am Nachmittag noch gehen.
Im Laufe des Morgens kam sein Bekannter, Peter Matt, vorbei.
„Hallo Peter, wie geht’s?“, fragte Tommy, erfreut über die Zerstreuung.
Matt schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Habe heute schon kalt geduscht. Jetzt ist auch noch die Gastherme kaputt.“
„Was, kalt duschen? Wie schrecklich! Hast du dem Installateur Bescheid gegeben?“
„Noch nicht. Was glaubst du, was das wieder kostet. Keine Rücklage. Da rödelt man den ganzen Tag und es bleibt doch nichts hängen.“
Matt war ein lieber Kerl, aber er brachte nichts auf den Punkt. Und was Tommy wirklich nervte, er schwärmte gerne von den früheren Zeiten. Aber er hatte sich ihm gegenüber als hilfsbereit erwiesen. Tommys Blick fiel auf die Scheine. Da entschied er, Matt zwei Hunderter zu geben. Er stellte es so an, dass sein Bekannter das Kuvert nicht sah. Als Peter, sich herzlich dankend verabschiedete, legte Tommy den Umschlag unter die Werkbank zu dem Wust von Dingen, die da lagen. Da kam ihm erstmals der Gedanke, dass er das Kuvert auch behalten könnte. Falls ihn doch jemand gesehen hatte, konnte er ja sagen, er habe es unter der Werkbank vergessen. Mit diesem Geld wären nicht nur seine Probleme gelöst, sondern er könnte auch andern helfen, die wie Peter in Schwierigkeiten steckten.
Kurz darauf trat Jella in die Werkstatt. Sie warf einen Blick auf seine Arbeit und sagte dann. „Um fünf bin ich zurück. Kannst du bis dahin das Essen richten?“
Er nickte mechanisch. Da sie arbeitete und ihn mit dem Nötigsten versorgte, verrichtete er einen Teil der Hausarbeiten. Er stellte sich vor die Bank und schob das Kuvert etwas tiefer nach hinten. Es war weniger die Angst, sie würde einen Anteil fordern, als die Vermutung, dass sie ihn drängen würde, das Gefundene abzuliefern oder es zumindest als Einnahme korrekt zu versteuern. (Was auf das Gleiche hinausgelaufen wäre)
Weder der Besuch von Peter, noch der von Jella hatten Tommy überrascht. Was er hingegen kurz danach sah, ließ ihn an seinen Sinnen zweifeln. Unweit von ihm stand plötzlich ein Weib. Er beobachtete, wie diese hässliche, schrumpelige Frau sich über ein irdenes Becken beugte, das auf der hinteren Werkbank lag. Seit er auf das Kuvert gestoßen war, spielte seine Fantasie verrückt. Erst den chinesischen Weisen und nun dieses fürchterliche Erdweib. Tommy näherte sich ihr. Das Wasser war eine widerliche, dreckige Brühe. Nichtsdestotrotz senkte sie ihren verstrubbelten Kopf und trank wie ein Tier von diesem Schmutzwasser. Tommy tat die Frau leid.
„Warten Sie“, sagte er, „ich fülle Ihnen frisches Wasser ein.“
Aber alles was er zur Antwort bekam, war ein verächtlicher, abwehrender Blick.

Von seiner Werkstatt aus führte eine kurze Straße abwärts und mündete im spitzen Winkel in die große Hauptstraße. Dieser kurze Abschnitt war bekannt für seine Blitzer. Gleich mehrere waren dort aufgestellt. Die Fahrer wurden kontrolliert, bevor sie in die große Straße einmündeten. Das Besondere an diesen Geräten war, dass sie die Fahrzeuge nicht nur von vorne, sondern auch von hinten prüften. Eines der Geräte, hatte er bemerkt, war völlig eingewachsen. Unten war nur der halbe Tragepfosten zu sehen und oben ein Eck des Kastens. Er hatte bezweifelt, dass diese Geräte wirklich eingesetzt würden, wenn man sie so verkommen ließ. Andererseits hatte er von jemandem erfahren, der, aufgrund einer Prüfung in diesem Abschnitt, vor Gericht gestellt worden war und eine Haftstrafe verbüßen musste. Der Bestrafte hatte ein Stück von einer Plane unter die Heckklappe geklemmt, um das Erkennungsschild zu verdecken. Vor Gericht versuchte er seine Maßnahme damit zu rechtfertigen, dass er die Heckseite als seine Intimseite habe schützen wollen. Damit erreichte er keine Milderung, im Gegenteil. Tommy hatte das Auto gesehen. Man hatte es zur Abschreckung eine Weile lang stehen lassen. Die Plane hing noch so, wie er sie angebracht hatte, sie ließ Tommy an einen Lendenschurz denken. Dies ging ihm durch den Kopf, als er nach dem Fund der Geldscheine diese Straße abwärts fuhr.
Da traf ihn plötzlich wie ein Blitzstrahl der prüfende Blick einer Person. Der Mann stand am Straßenrand und fixierte ihn durch die Frontscheibe hindurch. Tommy erschrak. Dieser Blick drang tiefer als er mit seinem Gewissen bisher gekommen war, das spürte er. Ich bin jetzt auch einer von denen, die Geld an sich ziehen, warf er sich vor. So ins Visier genommen zu werden, hatte bestimmt einen Grund. Ein solcher Blick ließ sich nicht täuschen. Er gestand sich schmerzlich ein: Ich bin jetzt auch ein Korrupter. Am selben Tag, da er die Scheine gefunden und an sich genommen hatte, war er schon denen zugeordnet worden, die Geld an sich zogen und nie genug davon kriegten. MLF

Dienstag, 24. April 2012

41 Fund an der Grenze i

Toni war unglücklich. Er liebte Mili sehr und hätte ihr gerne Schmuck gekauft. Wenn es für eine goldene Kette nicht reichte, dann sollte es mindestens eine silberne sein. Aber nicht mal dafür hatte er Geld genug. Hätte er die Augen geöffnet und seine Geliebte angesehen, so würde er bemerkt haben, dass sie eines Schmuckes nicht bedurfte. Der sanft gewölbte Bauch (japanisch: ‚Hara‘), die vollendeten Brüste, der zierliche Hals und das Gesicht einer Göttin, an nichts fehlte es ihr. Aber er war halt in seinen Vorstellungen verstrickt und konnte sich nicht davon lösen. Erst als sie ihn neckte und durch gezielte Berührungen sein Feuer entfachte, vergaß er seinen Kummer und ließ sich auch das Spiel ein.
Im Anschluss daran vernahm er von ihr die folgende Geschichte. AS

Für ihn, der kein Geld verdiente – der Chef hatte ihm verboten einen Hilfsjob anzunehmen [5 Keine Aushilfen mehr] und bei der Agentur hatten sie sich geweigert, ihn in die Reihe der Abrigatoren aufzunehmen [24 Hochzeit im Schutz des hotel de ville] – war es eine große Überraschung, plötzlich über einen Haufen von Geldscheinen zu verfügen. Hätte er diese schon früher gehabt, so wären die Jahre viel sorgloser verstrichen, schien ihm. Aber war es wirklich sein Geld? Doch wohl eher nicht. Jedenfalls hatte er, als er darauf stieß, das Gefühl gehabt, es gehöre jemand anderem. Aber von Anfang an:
Tommy war immer klar gewesen, dass er eines Tages in sein Heimatland zurückkehren müsse. Er scheute auch nicht davor zurück. Aber es war noch nicht die Zeit seiner Rückkehr, das spürte er. Doch einmal nachts, als er einen großen Spaziergang machte, stand er plötzlich in Sichtweite des Übergangs. Er sah den Zaun und die zwei Gebäude, zwischen denen der Grenzposten stationiert war. Die Parkplätze für die Wartenden bei großem Andrang, waren in dieser Nacht leer. Es standen nur zwei Wagen am Durchgang. Beim vorderen sah er einen Beamten, der den Ausweis kontrollierte. Als Tommy klar wurde, wohin er gelangt war, drehte er um. Doch da sah er am Boden ein Kuvert liegen. Ein gewöhnliches langes Kuvert, wie es die Firmen für die Korrespondenz nutzen. Aber dick ausgebeult. Womit mochte es gefüllt sein?
Der Anblick dieses prall gefüllten Briefumschlags weckte in ihm sonderbare Assoziationen. Ein spleeniger Einfall, eine fremdartige Szene – wohl angeregt vom nahen Grenzübergang – tauchte in seiner Fantasie auf. Er glaubte an einem der ungezählten Grenzposten des chinesischen Reiches zu stehen. Und vermeinte, einer der spitzbärtigen Weisen habe sein unnütz gewordenes Vermächtnis fallen lassen. Als habe er verhindern wollen, dass ein geschäftstüchtiger Zöllner, aus der Arbeit, die ihm ein Leben lang nur Schimpf eingebracht hatte, Geld zu schlagen versuchte.
Aber was Tommy darin entdeckte, waren nicht Notizen und erst recht keine Weisheiten in gebundener Schrift, sondern einfach nur Geld. Der ganze Umschlag war prall gefüllt mit Geldscheinen. Was er all die Jahre vermisst hatte, lag jetzt plötzlich in großer Fülle vor ihm. Er hatte immer behauptet, dass er sich nichts aus Geld mache und hatte mit Gelassenheit hingenommen, dass ihn flüchtige Bekannte wie engste Freunde für einen Müßiggänger und Schmarotzer hielten. Aber als er jetzt das Geld vor sich liegen sah, bemerkte er doch, wie sein Pulsschlag sich änderte. Anscheinend war er nicht so immun gegen die Verlockung dieses mächtigen Tauschmittels, wie er geglaubt hatte. Er spürte eine angenehme Wärme in seinen sonst eher blassen Wangen. Ob ihn jemand gesehen hatte? Er nahm sich vor, das Kuvert umgehend auf die Fundstelle zu tragen. Vielleicht würde ihm ja ein Finderlohn zufallen. Vorne schaute ihm ein Hunderter-Schein entgegen. Eine kleine Erleichterung wollte er sich an dem Glückstag gönnen. Er nahm ihn, faltete ihn schnell mit der freien Hand und steckte ihn in die rechte Gesäßtasche. Aber schon diese winzige Selbstbelohnung regte in ihm Schuldgefühle. Die werden davon ausgehen, dass ich mich bedient habe und werden mich filzen. Aber der Hunderter wollte nicht mehr aus der Tasche heraus. Vom Spaziergang zurück, trug er das Kuvert nicht ins Haus, sondern legte es in die Werkstatt. MLF

Montag, 23. April 2012

40 Einmachäpfel j

Franz war am Nachmittag anderweitig verpflichtet. Mark brach die Arbeit ab und unternahm eine größere Wanderung. Das schöne Wetter lud förmlich dazu ein. Er war schon länger nicht beim elterlichen Haus vorbeigegangen. Bis dorthin war es eine ziemliche Strecke, aber wenn er gleich losginge, würde er es noch schaffen, bevor es dunkel wurde. Unterwegs dachte er über den Hof nach. Sie hatten ihn der Familie Neu zur Pacht übergeben. Seit Oppermann ihm damals das Problem mit der Jauche lösen half, hatte er sich nicht mehr eingemischt. [Kotstreuende Kuh, 02.02.] Paula Neu hatte das Sagen und sie machte es gut.
Eine Umformierung der Wolken nach Westen hin, deutete an, dass der Nachmittag langsam in den Abend überging. Da kam das Elternhaus in Sichtweite. Vor dem Eingang des Hauses stand ein Baum in einem Wagen. Drumherum waren mehrere Personen beschäftigt. Die Bäume wurden folglich in Wannen gepflanzt und konnten so zur Ernte vors Haus gefahren werden. Sechs, sieben fleißige Menschen wirkten mit. Sie waren so beschäftigt, dass sie ihn gar nicht bemerkten. Die Schürzen, die sie trugen, gaben ihnen einen etwas altertümlichen Ausdruck. Es handelte sich um eine besonders große Sorte von Äpfeln. Sie wurden gepflückt und an Ort und Stelle eingemacht. So weit er sehen konnte, wurden sie bloß tranchiert, in ein Glas gesteckt und mit einer besonderen Flüssigkeit aus einem großen Topf übergossen, das Glas verschlossen, fertig. Beim Zuschauen überkam ihn die Lust einen Apfel zu probieren. Mark räusperte sich.
„Hallo, Ihr seid ja eifrig am Arbeiten. Schmecken diese Äpfel? Darf ich einen probieren?“
Sie wirkten nicht überrascht, waren aber sichtlich verlegen. Schauten sich gegenseitig fragend an.
„Die schmecken frisch nicht“, sagte schließlich diejenige, die die Äpfel sorgfältig vom Ast löste, „das sind Einmachäpfel.“
Mark wies auf ein paar, die schöne rote Backen hatten. „Aber die sind doch reif hier“, hielt er dagegen.
Die Person, die sie einschloss, öffnete ein Glas, zog ein langes Stück heraus und reichte es der nächsten, die es weiterreichte, bis es bei ihm anlangte. Mark roch daran, Gewürze konnte er keine feststellen. Er brach ein Stück ab, steckte es in den Mund und kaute langsam, den Geschmack und die Bissfestigkeit prüfend.
„Sehr gut“, befand er, „die sind ja richtig knackig.“
Diese Äpfel könnten wir eigentlich in unserem Katalog aufnehmen, überlegte Mark. Doch dann fiel ihm auf, dass die Mitarbeiter alle schon etwas älter waren. Ihre Schürzen und zum Teil Kopftücher verstärkten noch diesen Eindruck. Widerspricht das nicht dem Wunsch von Franz, dass die Protagonisten des Katalogs in einer gegenwärtigen Zukunft zuhause sein sollen? Tja, würde er mit ihm bereden müssen. Aber so sind halt Menschen, die Äpfel einmachen, sagte er sich. Das lässt sich wohl nicht ändern. MLF

Freitag, 20. April 2012

40 Einmachäpfel i

 Toni sah im Dunkel, dass Mili etwas in der Hand hielt. Als er sie fragte, was es sei, streckte sie ihm die Hand entgegen. Auf dieser lag ein Apfel. Unwillkürlich schreckte er zurück. Die Geste des Apfelüberreichens hatte sich als verhängnisvoll in sein Gedächtnis eingeschrieben. (Trojanischer Krieg, Garten Eden, Schneewittchen) Doch etwas – fand er – war ungewöhnlich an diesem Apfel. Da er im Halbdunkel schlecht sehen konnte, rührte er ihn vorsichtig mit dem Finger an. Die Haut fühlte sich nicht glatt, sondern ledern an. Er formte mit Daumen und mittlerem Finger eine Zange und drückte ihn zur Probe. Das war kein frischer Apfel, stellte er fest, sondern ein eingelegter. Jetzt verlor er die Scheu und nahm Milis Angebot dankend an. Er aß den ganzen Apfel – der schmeckte köstlich. Nichts Schicksalsträchtiges widerfuhr ihm. Wahrscheinlich – sagte er sich – hat das Verhängnisvolle bei jenen Überreichungen am Rohzustand des Apfels gelegen.
Mili wartete geduldig bis er fertig gekaut hatte. Dann schmiegte sie sich an ihn und sie begannen ihr sinnliches Spiel. Anschließend erzählte sie ihm die Geschichte von den Einmachäpfeln. AS

Sie trafen sich im Studiensaal, um weiter an ihrem Katalog zu arbeiten. Der Saal erinnerte ihn an den Raum, in dem sie im Internat über ihren Hausaufgaben gebrütet hatten. Nur waren die Tische nicht ganz so streng geordnet. Er versuchte seinem Mitstreiter, Franz, einen Vorschlag schmackhaft zu machen, nämlich: längere Artikel zweizuteilen.
„Das brauchst du nicht begründen“, dämpfte Franz seinen Eifer. „Natürlich müssen wir die langen zweiteilen. Mich stört nur ‚eins, zwei‘ und ‚a, b‘, die du vorgeschlagen hast.“
„Ach, wieso?“, fragte Mark verwundert.
„Die übliche Aufzählung betont zu wenig den Zusammenhang“, stellte Franz fest. „Das scheint mir bei ‚i, j‘ stärker gegeben.“
„Und was ist, wenn wir eine Dreiteilung brauchen, wie in unserem einleitenden Artikel schon geschehen?“
„Einfach fortfahren, ‚i, j, k, ...‘“, sagte Franz und hob beide Hände.  
„Zwischen b und c sehe ich aber mehr Zusammenhang, als zwischen j und k“, fand er.
„Da magst du Recht haben“, gab Franz zu, „aber meistens handelt es sich ja um eine Zweiteilung.“
Mark erklärte sich einverstanden. Er lehnte sich im Stuhl zurück und dachte nach. Plötzlich war er in Gedanken ganz woanders. Er dachte an die Schwierigkeiten, die sich bei einem großen literarischen Werk zwangsläufig einstellten und war froh, dass sie nur einen Katalog in Arbeit hatten. „Bei einem Katalog haben wir nicht das Problem wie bei einem großen Roman, stellte er fest und schaute, ob Franz bereit war, seinem Gedankengang zu folgen.
Dieser sah ihn fragend an.
„Was mich an ‚Krieg und Frieden‘ unter anderem beeindruckt, ist die konsequente Aufteilung dieses riesigen Werks in kleine Happen. Die passen zu meiner kurzen Lesezeit. Ich kann gerade einen Abschnitt bewältigen.“
Franz sagte nichts.
„Nicht einverstanden?“, fragte er verunsichert.
„Doch, schon“, entgegnete Franz. „Nur betrachte ich die Aufarbeitung zurückliegender Epochen, wie das Tolstoi mit Russland zur Zeit von Napoleons Angriff getan hat, mit Skepsis.“ Franz hielt inne, als prüfte er sein Argument. Dann sprach er die Folgerung aus: „Ich finde, sie bergen stets eine Rückwendung in sich.“ Mit einem auffordernden Blick auf seinen Mitstreiter gerichtet, sagte er. „Ich wünschte mir, dass die Protagonisten, die in unserem Katalog zum Zug kommen, in einer gegenwärtigen Zukunft zuhause sind.“
„Gegenwärtige Zukunft?“, fragte er verblüfft.
„Wenn man sich die Zeit als eine Balkenwaage vorstellt mit der Gegenwart als Drehpunkt, so möchte ich, dass wir das Hauptgewicht in die Z-Schale legen“, verdeutlichte Franz. MLF

Donnerstag, 19. April 2012

39 Komplexe Lichtanlange

Toni wachte nicht vollständig auf. Er blieb auf einer Zwischenstufe hängen. Die Sinne vermittelten die Daten eines Ortes und einer Person neben ihm, aber er konnte das Wahrgenommene nicht mit etwas Bekanntem verbinden. Nächtlich matter Lichtschein dringt durchs Fenster. Schlafnische in größerem Raum. Zweitperson auf dem Bett. Oberkörper unbedeckt. Weiblich. Schön. Es begann in ihm zu rödeln wie auf einer Festplatte, nach Eingabe eines komplexen Suchbefehls. Er suchte nach einer Frau, die ihm heimlich gefolgt sein könnte. Er war alarmiert, weil Frauen für ihn Verpflichtungen bedeuteten. Bevor die Suche beendet war, fiel er wieder in Schlaf.
Beim zweiten Mal wachte er richtig auf. Es war immer noch dunkel, aber dieses Mal war es sein Zimmer und neben ihm lag Mili. In ihrem Blick glaubte er eine gewisse Unsicherheit zu erkennen. Du wirst dich mir doch nicht entziehen wollen?, las er als Frage in ihren Augen.
„Guck doch nicht so besorgt“, sagte er aufmunternd. „Zwar verlangst du mehr von mir, als ich mir je hätte vorstellen können. Aber du gibst mir ja auch viel.“
Da strahlte Mili, deckte sich ganz ab und zog ihn an sich.
Im Anschluss an das Liebesspiel erzählte sie ihre Geschichte. AS

An die große unterirdische Garage, die halbvoll von geparkten Autos, schließt eine schmale Halle an, die deutlich tiefer liegt als die Parkebene und entsprechend mehr Höhe hat, als die zwei Meter zehn einer Tiefgarage. Ein Teil der Trennwand ist schon fertig. Er wartet auf den Bescheid des Bauführers. Ganz abschließen kann er diesen tiefer gelegenen Raum erst, wenn alle großen Einrichtungs-Objekte nach drinnen gebracht sind.
Während er dasteht und wartet, fällt ihm in etwa zwanzig Metern Distanz ein schwarzer Wagen auf. Mehrere Menschen sitzen darin und scheinen zu warten. Die werden doch nicht die Nacht im Auto verbringen wollen. Das wäre ja nochmal eine neue Dimension. Sie starren zu ihm herüber. Durch die Scheibe der hinteren Tür, sieht er das Gesicht einer jungen Frau. Das ist doch ihre Schwester, durchfährt es ihn. Er schaut mehrmals hin, um sich zu vergewissern. Kann gut sein, dass ich mir das nur einbilde, schließlich leide ich seit neustem an Verfolgungswahn, murmelt er halblaut. Seit eine junge Frau, die ihr ähnelt, ihm auf den Fersen ist, glaubt er sie überall zu sehen. Doch nach wiederholtem Hinschauen besteht kein Zweifel mehr, sie ist die Schwester. Zweimal hat er sie in ihrer Gesellschaft gesehen. Dann wird sie selber ja nicht weit sein.
Seit Wochen, ja Monaten, verfolgt ihn eine junge Frau. Er weiß gar nicht, wann er sie zum ersten Mal wahrgenommen hat. Sie musste in einer ganz besonderen Stimmung gewesen sein, als er ihren Weg gekreuzt hatte. Anders konnte er sich ihre Vernarrtheit nicht erklären. Sobald er sie sah, drehte er ihr den Rücken zu. Nur zwischendurch, wenn die Neugierde zu stark wurde, warf er einen verstohlenen Blick auf sie. Zu sehen, was für eine Frau sie war. Sie war hübsch, ohne Zweifel. Wenn er sich noch für Frauen interessiert hätte, wäre sie wohl sein Typ gewesen. Aber auf eine Beziehung zu einer jungen Frau wollte er sich nicht mehr einlassen. Er tendierte zum gleichen Geschlecht – seiner Freiheit wegen.
Das vom matten Schein der nahen Lampe erleuchtete Gesicht ist ohne Zweifel das ihrer Schwester. Der dunkle Mann vorn am Steuer ist wohl ihr Vater und auf dem Nebensitz vorne, nur vage zu erkennen, ihr Bruder. Jetzt lässt sie sich schon von ihrer Familie hinter mir herfahren, sagt sich Lothar kopfschüttelnd. Sie muss sie verrückt gemacht haben. Ihre Liebe scheint nicht nur unvernünftig, sondern auch maßlos zu sein. Oder kann es sein, dass sie zufällig da sind? Unmöglich, bei den Dutzenden von Tiefgaragen in der Stadt. Wenn jemand so an Liebe leidet, tut man wahrscheinlich alles, um sein verheerendes Feuer einzudämmen. Lothar überlegt, ob er zu ihnen hingehen soll. Aber ganz sicher ist er sich dann doch nicht. Und ungern würde er ihr im Beisein der Familie klaren Wein einschenken. Mit der Arbeit ist er auch unentschieden. Er weiß nicht, ob er die Wand an diesem Abend noch vervollständigen kann. Da steht sie plötzlich vor ihm.
Sie fixiert ihn mit ihren dunklen Augen. Keine Möglichkeit ihr auszuweichen. Vom Alter her ist sie, wie er dachte, sechzehn, höchstens. Oder doch schon älter? Schwer zu sagen. Ihr Kopf wirkt breiter, als bei den früheren Malen, da er sie gesehen hatte. Dass sie einen breiten Kopf hat, passt zu ihrer Beharrlichkeit, denkt er. Da Lothar nichts anderes einfällt, fragt er.
„Bist du die, die meine Nähe sucht?“ Seine Stimme klingt sachlich wie die Durchsage in einem Sprechzimmer: Der Nächste bitte!
Sie blickt ihn mit leicht gesenktem Kopf von unten an und sagt nichts. Nach einer Weile bewegt sie ihren Kopf bekräftigend.
Dann muss es jetzt sein, sagt sich Lothar. Ich werde ihr in Ruhe meine Lage schildern. Dass ich sehr beschäftigt bin und ihr nichts von dem geben kann, was sie sich von einem reiferen Mann erhofft. Und dass ich neuerdings hombsch bin, werde ich ihr auch sagen. Dass ich einer Frau gar nicht mehr beiwohnen kann, weil ich im Beisein einer Frau keine Erektion mehr kriege. Aber just in diesem Moment spannt seine Unterhose. Die Aufregung, nichts als die Aufregung, sagt er sich. Ihre Nähe hat halt doch eine Wirkung auf ihn. Umso wichtiger, dass sie sich aussprechen und er diesem Spiel ein Ende bereitet.
„Sollen wir miteinander reden?“, fragt er zögernd und nicht mehr ganz so sachlich.
Sie nickt hastig.
„Also gut, lass uns nach oben gehen.“ Er schaut zerstreut auf seinen Arbeitsplatz, ob da noch was Wichtiges zu erledigen ist. Die Maschinen hat er schon verräumt. Das bisschen Späne kann liegen bleiben. „Am besten setzen wir uns oben ins Foyer“, überlegt er laut.
„Würdest du deiner Familie Bescheid geben. Eine halbe Stunde sollten sie bereit sein zu warten.“
Sie überhört seinen Auftrag. Dreht sich nicht zum Auto zurück, sondern drängt zur Tür des Treppenhauses. Lothar sieht aus den Augenwinkeln, wie der schwarze Wagen wendet und hört die Reifen knirschen. Ein sonderbares Gefühl beschleicht ihn. Wie wenn er an sich plötzlich ein neues Körperteil entdeckt hätte. Zwei neue Arme zum Beispiel. Er wäre wohl nicht verwirrter gewesen.
An der Lichtanlage im Treppenhaus hat er die üblichen Schwierigkeiten. Die Tasten sind verschieden belegt, in Abhängigkeit von Faktoren, die er noch nicht durchschaut hat. Er versucht es mit denjenigen, die er beim letzten Mal nach langem Probieren für die richtigen entdeckt hat. Keine Wirkung. Im vertieften Raum brennt weiterhin das Licht. Sie kommt näher, wirft einen Blick auf die Paneele. Er schaut sie verwundert an. Im Licht des Treppenhauses wirkt ihr Gesicht wieder viel schmäler. Sie trägt deutlich die Züge einer Fahrenden, hohe Stirnknochen, dunkles, kräftiges Haar und eine hellbraune Haut. Kurz bildet sich eine senkrechte Falte zwischen ihren geschwungenen Brauen. Dann drückt sie in schneller Folge drei Schalter. Das Licht erlischt. Wahrscheinlich ist sie doch nicht so jung wie ihm schien, überlegt er, als sie die Treppen hochsteigen. Aus ihrer Beharrlichkeit habe ich auf die Verliebtheit einer Teenagerin geschlossen, begründet er seine Annahme. Vielleicht hat sie ja ganz andere Motive, warum sie meine Nähe sucht. Ihr ins Foyer folgend ist er unsicher, ob es ihm gelingen wird, sie von sich fernzuhalten. MLF

Mittwoch, 18. April 2012

38 Langer, tiefer Raum mit Steg

 Woher rührte die köstliche Erregung, die von ihrem Körper auf ihn überging? Wo war das Besondere wohl versteckt?, fragte sich Toni. Am liebsten hätte er mit der Hand in Mili hinein gefasst, in ihre Taille und ihre Schenkel und hätte in ihre Brust gebissen wie in eine reife Frucht. Aber das ging natürlich nicht. Ihr Körper war ja abgeschlossen, wie seiner auch. Aber es gibt Körper, die offen sind, überlegte er wie die Erde zum Beispiel oder die Pflanzen. An denen können wir uns bedienen. Die geben sich uns hin in dieser noch extremeren Form. Vor lauter Sinnieren vergaß Toni beinahe das Liebesspiel. Um ihn aufzumuntern, umfasste Mili den Stamm seines Penis mit zwei Fingern. Sie spannte diese wie einen Cockring. Da schwoll der Stab zu schöner Fülle an. Behutsam führte sie ihn in sich ein und sie kosteten Lust.
Danach bettete sich Mili auf die Kissen und begann ihre Geschichte. AS

Nachdem Ruben die Bilderwand für die westsibirische Stadt beendet hatte, begann er ein neues, noch größeres Unterfangen.
„Ich kann die Arbeit, die mir vorschwebt, nur unter Dach leisten“, sagte Ruben zu Jasmus. „Könntest du dir vorstellen, mich bei dieser Arbeit zu unterstützen?“
„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Jasmus abwehrend. „Bisher haben wir es irgendwie geschafft, dich über Wasser zu halten. Weil ich und Inge arbeiten. Aber wenn zwei um der Muse Lohn arbeiten, wird das nicht lange gut gehen.“
„Wir kriegen doch demnächst das Geld vom Gouverneur. Das teilen wir redlich auf. Dann können wir, wenn wir sparsam sind, uns ein Jahr lang intensiv dem Prozess widmen“, sagte Ruben und strahlte beglückt aus seinen blauen Augen.
Jasmus tat es leid, dass er seinen Freund immer wieder mit der rauen Wirklichkeit konfrontieren musste. „Du denkst also, dass du das Fördergeld kriegen wirst?“, fragte er in einem Ton, der an einen herbstlichen Windstoß denken ließ.
„Wir sind doch extra dorthin gegangen. Man hat uns das Geld doch zugesagt“, befand der Künstler voller Zuversicht.
„Du hast einen Antrag gestellt, hast ein Formular ausgefüllt, mehr nicht“, entgegnete Jasmus trocken und bedauerte, dass er schon wieder dabei war, die Illusionen seines Freundes zu zerstören.
Ruben schaute ihn trotzig an, enttäuscht wie ein bestraftes Kind.
„Also gut“, lenkte Jasmus ein, „solltest du den Förderpreis kriegen, bin ich dabei.“
„Das kann aber unmöglich warten“, sagte Ruben gepresst, „ich habe doch schon damit begonnen. Da ist plötzlich die Eingebung gewesen, habe zu graben angefangen. Es hat geklappt. Stell dir vor es hat geklappt. Der Prozess läuft. Ich brauche dringend ein Dach.“
„Was hat geklappt?“, fragte Jasmus neugierig. Ruben führte ihn zu einem großen Mannschaftszelt. Ein unförmiges Ding unweit von Rubens Haus.

Drei Monate später: Vom Haus aus zieht sich eine Halle den Hang hoch und geht ein Stück über die Kuppe. Mit jedem Arbeitsfortschritt, wird sie verlängert. Die Frontwand wird vorgeschoben, neue Seitenteile und transparente Dachplatten werden eingesetzt.
Jasmus geht nach drinnen. Durchs Plexiglasdach fällt gedämpftes Licht. Den Hauptteil bildet der in der Erde liegende, aus vielen Segmenten bestehende, erdige Körper. Rechts davon, der Wand entlang, führt ein Steg. Auf diesem läuft er zur Kuppe hoch und die Neigung leicht abwärts bis zur Plattform an der Spitze des Projekts. Diese bildet die Fläche, von der aus Ruben und seine Helfer ihre Arbeit verrichten. Sie ist begrenzt von der Stirnwand, die in Intervallen weiter geschoben wird.
Fünf Personen sind im Einsatz, als Jasmus an die Stirnseite kommt. Eine Frau und ein Mann stehen auf der Plattform. Sie senken den Kopf und weichen zurück, als wollten sie unsichtbar bleiben. Ruben steckt mit den Jungs in der Vertiefung. „Hallo“, grüßt er nach unten. Sie schauen kurz auf, aber er ist sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt sehen. Anders, wenn es die Halle zu verlängern gilt. Dann ist er plötzlich der gefragte Mann. Rubens Projekt besteht darin, aus dem in der Erde enthaltenen Fleisch einen Körper zu schaffen. Es gelingt ihm tatsächlich immer neue Segmente zu bilden und mit dem Gesamtkörper zu verbinden. So zieht sich vom Anfang der Halle über die Kuppe bis hierher ein raupenförmiger Körper. Noch ist es kein vollständiges Wesen, der Kopf fehlt und Beine sind auch nur vereinzelt zu sehen. Aber der Körper hält zusammen und zersetzt sich nicht. Jeden Tag wird er ein Stück lebendiger. Die Schwierigkeit bei dieser Arbeit ist, das Fleisch aus der Erde zu einer Einheit zu runden und dann mit dem bestehenden Körper zu verbinden. Auch darf man sich nicht von Fossilien irritieren lassen, die höchstens als Krallen zu verwenden sind. Die Jungs zeigen schon ein großes Geschick und unterstützen ihren Vater in jeder freien Minute. Zusätzlich haben sich als helfende Engel die beiden auf der Plattform in das Projekt mit eingeklinkt. Wenn Ruben unten nicht beurteilen kann, ob etwas Fleisch oder bloß Humus ist, bewerten sie die Stücke aus Distanz und sind mit ihrem Gutachten meist richtig. Sie reichen aber auch Werkzeug runter, sorgen für frisches Wasser etc.
Jasmus sieht, dass der Abstand zur Stirnwand noch ausreicht und geht den Steg wieder zurück. Unten trifft er auf einen Journalisten, der aus der Seitentür tritt. Er hat von dem Projekt gehört und bittet Jasmus um eine genauere Beschreibung.
„Dokumentationsmaterial haben wir bisher leider keines“, antwortet Jasmus bedauernd.
Der Journalist wirft einen Blick in die Vertiefung, scheint irritiert, setzt zu einer Bemerkung an, besinnt sich aber anders und verlässt die Halle wieder.
Jasmus bereut, dass er ihm keine Beschreibung in Aussicht gestellt und nicht nach den Kontaktdaten gefragt hat. Das ist es doch, was wir die ganze Zeit herbeigesehnt haben, sagt er sich.
Zum Glück kommt bald darauf wieder eine interessierte Person. Es ist eine Frau. Sie bringt mehr Zeit mit und Jasmus gibt sich mehr Mühe, ihr Interesse an diesem Projekt zu fördern. Er führt sie der Vertiefung entlang und beschreibt den Körper. „Sehn Sie, hier ist ein Segment zu Ende und da beginnt ein Neues. Der Künstler schafft diese aus dem in der Erde enthaltenen Fleisch.“
„Man hat mir sowas gesagt“, bemerkt sie zögernd. „Wie kann man den Unterschied zu einem Körper aus gewöhnlicher Erde erkennen? Vielleicht bin ich etwas unbedarft, aber ich sehe da keine Differenz.“
Jasmus weist auf die Spalte zwischen zwei Gliedern. „Wenn sie hierhin schauen, können sie eine ganz leichte Bewegung sehen. Sehn sie’s?“
„Vielleicht, ich bin mir nicht sicher“, sagt sie verhalten.
„Warten Sie’s ab. Der Körper wird sich weiter entwickeln. Ich bin gerade daran, ein Faltblatt über dieses Projekt zusammenzustellen. Darf ich es Ihnen zukommen lassen?“
„Gerne.“ Sie reicht ihm ein Kärtchen und verabschiedet sich.
Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe, sagt sich Jasmus, bis die Halle zu verlängern ist, muss ich die Dokumentation fertig kriegen. MLF

Montag, 16. April 2012

37 Reh im Trikotstoff

Toni ahnt, dass die schnöde Welt ihm nicht erlauben wird, ausschließlich für Mili da zu sein. In der Nacht ihr beizuwohnen, sich ihre Geschichte zu merken und den Blog zu schreiben.
Mili und er werden von der Vermieterin mit einem Stock aus dem Haus getrieben. Sie laufen durch die Straßen und über die Felder und landen schließlich im Wald, wo sie unter den Ästen Schutz suchen. Sie legen sich auf ein Bett aus Moos und schlafen vor Erschöpfung sofort ein. Am Morgen erwacht Toni. Er verspürt einen großen Durst und geht zu einem munter plätschernden Bach. Wohl ahnt er, dass dies kein gewöhnliches Wasser ist. Aber selbst, als er schon die Verwandlung spürt – seine Haut verfärbt sich braun, wird samtig, die Füße werden zu schwarzen, paarigen Hufen – trinkt er noch immer, weil das Wasser so frisch ist und so gut schmeckt. Doch als er sich wieder zu Mili ins weiche Moos betten will, erschrickt er doch. Wie soll er als Reh fortan für Mili den Blog schreiben? Just im Moment, als er die Vorderläufe beugt, wacht er auf.
Mili blinzelt mit den Augen. Sie kommt ihm ganz nah und stubst mit ihrer Nase gegen die seine. Er ist noch ganz benommen. Die Vermieterin, was hat sie getan? Wohin sind wir geflüchtet? Sind wir wirklich im Wald gewesen? Mili wird ungeduldig. Ihr Blick ist fordernd: Bist du mein Gespiele oder bist du‘s nicht? Sie küsst ihn heftig, fasst ihm zwischen die Beine, bis sein Feuer erwacht und sie sich im Bett tollen.
Dann bettet sie sich auf das Kissen und beginnt mit der folgenden Geschichte. AS

Am Nachmittag, wenn die Schüler weg sind und der Hausmeister auf dem Putzfahrzeug über den Schulplatz roll, geht er - im Rock, wie sonst auch -  den Hecken entlang und sammelt die Tüten, Papierle und Vesperreste ein, die die jungen Leute achtlos in die Büsche werfen. Das ist an sich eine völlig unsinnige Maßnahme, dessen ist er sich bewusst, denn am nächsten Tag sieht es wieder genauso aus. Er hat auch nicht die Absicht, die Schüler zu bekehren. Er weiß, dass in einer gewissen Lebensphase diese Haltung angesagt ist. Man muss sich von den Kräften, die das Leben ermöglichen, erst abnabeln, um die Chance zu bekommen, sich als Teil von ihnen zu erkennen. Er freut sich an jeder Pflanze, die wieder in reinem Grün dasteht und zudem gibt ihm diese gleichförmige Tätigkeit viel Muße zum Nachdenken. Im Grund entspricht das Jugendalter unserem kulturellen Zustand, sagt er sich. Dieser befindet sich auch in der Ablösungsphase und nur ansatzweise scheint auf, dass die Menschen auch in etwas eingebettet sind, das nicht von toten Gesetzen bestimmt ist, sondern von höheren Sinnen musiziert wird. Da René den einzelnen Busch als Teil eines größeren Gartens sieht, mag er nicht, wenn Blech, Papier und Plastik diesen verunstalten. Aus diesem Grund verrichtet er diese wenig geachtete Arbeit und hat dabei nicht einen Moment erwartet, dass sie eines Tages sein Leben erleichtern würde.
Da er als Mentor eine Lücke füllt, die die Lehrer selber nicht einnehmen können und er bei den Schülern gut ankommt, möchte die Berufsschule ihn als solchen beschäftigen. Nur für wenige Stunden soll er belohnt werden, aber immerhin. Das Angebot weckt in ihm die Hoffnung, wieder ein normales Leben führen zu können, mit eigenen kleinen Einkünften. Er möchte nicht mehr auf die Hilfe von Freunden angewiesen sein, die ihre anfängliche Bereitschaft, ihm wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, immer mehr durch das Erteilen von Ratschlägen ersetzen. Doch bei der Anmeldung auf dem zuständigen Amt gibt es Probleme. Als Mentor gilt nur, wer eine entsprechende Schulbildung durchlaufen hat. Nicht was ein Mensch erfahren und was für eine Entwicklung er durchgemacht hat, ist entscheidend, sondern was ihm die Lehrer beigebracht und was er gelesen hat. Das Amt verlangt Zeugnisse und da er solche nicht vorweisen kann, wird der Antrag abgelehnt. Überraschend zeigt sich eine andere Lösung. René kommt doch zu dem Geld, das er dringend braucht. Der Hausmeister, der ihn als eine wirkliche Stütze sieht, schlägt vor, ihn als Helfer bei ihm anzustellen. Die Anmeldung einer Hilfskraft in der Hausmeisterei ist eine reine Formsache. Schneller als erwartet hat er jetzt doch seine Vergütung. Sein Konto wird entsperrt und er kann sich an den Wochenenden und in den Ferien selber versorgen. Schwierigkeiten bereiten nur noch einzelne Eltern, die finden, eine Mentorschaft sei eine ehrenamtliche Aufgabe und als solche nicht mit einer gleichzeitigen Anstellung vereinbar - sei sie noch so gering. Die Schulleitung lässt sich zum Glück von diesen Stimmen nicht irritieren.
Als René am Nachmittag beim Spielplatz des zur Schule gehörenden Kindergartens vorbeikommt, sieht er ein Reh im Sandkasten stehen. Es scheint die kreischenden Kiddies nicht zu scheuen. Normalerweise geht er hier schnell vorbei. Im Gegensatz zu den großen Schülern, die seine weibliche Kleidung akzeptiert haben, verspotten ihn die kleinen Gören beharrlich immer wieder. Er wundert sich, dass das Waldtier dort bleibt und nicht wegrennt. Und noch etwas versetzt ihn in Erstaunen. Das Tier trägt einen Trikotstoff. Über dem Fell oder statt des Fells. Genau kann er das aus der Distanz nicht erkennen. Das Geschrei der Kids ist verstummt, wie gelähmt starren sie auf das fremdartige Wesen. Er lehnt sich an einen Baumstamm und beobachtet was passiert. Ihn überkommt das verwirrende Gefühl, das Reh gleiche Nathalie. Irgendetwas an diesem Tier erinnert ihn an diese außergewöhnliche Frau. Vielleicht der Blick oder die Haltung des Kopfes oder doch eher der zierliche, aber kraftvolle Leib. Ja, er glaubt Nathalie dort zu sehen. Weist sich aber sofort zurecht: Deine Art sie dauernd gegenwärtig zu haben, führt dich zu solchen Wahnvorstellungen. So mächtig ist sie dann auch wieder nicht, dass sie sich in ein Tier zu wandeln vermöchte. Die ganze Zeit haben die Kinder das andersartige Reh mit offenen Mündern begafft. Da greift eines in den Sand und wirft eine Handvoll nach ihm. Und wie vom Anführer geheißen, fassen alle andern auch in den Sand und bewerfen es. Das Tier flieht noch immer nicht, Für René, der zu dieser Tierart in einer besonderen Beziehung steht und sogar selber Rehe hält, ist es schrecklich, das mitansehen zu müssen. Die Kids versuchen sich gegenseitig zu übertreffen. Das Tier rührt sich nicht, es bleibt unverrückt stehen. René sieht verwundert, dass der Sand nicht am Reh abprallt, sondern durch dieses hindurch geht. Es stellt ihm kein Hindernis dar. Kopfschüttelnd löst er sich vom Baum und geht weiter. Da trifft ihn eine volle Ladung von dem feuchten, klebrigen Sand. Schnell entfernt er sich und fährt sich mit der gespreizten Hand angewidert durch die Haare, schüttelt den Kopf und wischt sich den Sand von der Bluse.
Irgendwie ist er dennoch erleichtert. Die Kinder scheinen dem Tier nicht wirklich was anhaben zu können. MLF

Freitag, 13. April 2012

36 Gras im Rucksack j

Erneut schlüpfte er in die Kleider und ging nach draußen. Da sah Mark an die zwanzig Personen, die sich mitten in der Nacht am Eingang des Gartens zusammengefunden hatten. Jetzt war ihm auch klar, warum die beiden sich nicht in den Bus hatten legen wollen. Sie hatten auf andere Nachtschwärmer gewartet. Ein großer schwarzer Hund rannte auf ihn zu. Er zögerte.
„Nicht beachten.“ „Der tut dir nichts“, riefen ihm raue Stimmen zu. Am liebsten wäre er umgekehrt. Durfte man aber nicht, wenn ein Hund auf einem zukam. Zudem wollte er Oppermann bitten, den Anhänger abzustoßen. Der Hund verlor tatsächlich das Interesse an ihm. Es hatte ihn aber einiges an Überwindung gekostet. Langsam beruhigte sich sein Blut wieder. Er setzte sich zu Franz und schaute auf die illustren nächtlichen Gäste, soweit er sie im Mondlicht erkennen konnte. Ihre grobe Kleidung weckte in ihm den Eindruck von Nachtfaltern, deren pelzige Flügel weniger bunt und weniger ausgeformt sind als die der Tagfalter. Sie tauschten mit gedämpften Stimmen Erfahrungen aus. Oder erzählten aberwitzige Geschichten, von denen er auf die Kürze nichts aufschnappen konnte. Sie kauten Kräuter wie Franz, manche rauchten. Zwei, drei Frauen waren auch dabei. Da fiel ihm ein, dass er Oppermann mitteilen wollte den Anhänger wieder zu verkaufen.
„Der hat sich jetzt doch in den Bus gelegt“, teilte ihm Franz mit.
Es standen viele Autos an der Straße. Der Bus war wohl der letzte in der Reihe. Für den Fall, dass Oppermann schlief, wollte er ihm einen Zettel unter den Scheibenwischer stecken. Deshalb ging er ins Haus zurück und holte seinen Rucksack. Die Kräuter, die noch immer in der Hosentasche steckten, schob er in den Sack.
Der letzte Wagen in der Reihe war es auch nicht. Daran anschließend begann mit einem zweistöckigen Carport und dem zugehörigen Haus die Siedlung. Mark schaute auch da noch nach. Da stand ein Bus im überdachten Bereich, aber der war beschriftet. Durch die Scheibe spähend sah er blitzende Rohre und einen Schrank für Werkzeuge oder Ersatzteile. Das war ohne Zweifel der Werkwagen eines Installateurs. Von einem Sog gezogen ging Mark die Treppen hoch zum oberen Stock des Carports. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass Oppermann hier geparkt hatte. Und doch, im oberen Stock stand der Bus, ohne Anhänger. Mark ging nach unten, um aus dem Rucksack, den er neben dem Treppenaufgang gelassen hatte, Zettel und Stift zu holen. Aber der Rucksack war nicht da. Obwohl er sich sicher war, ihn unten gelassen zu haben. Man kann sich ja täuschen, sagte er sich und ging wieder hoch. Zweimal ging er hoch und runter und konnte einfach nicht verstehen, wo der Rucksack geblieben war. Er fürchtete, die Leute zu wecken. Als er wieder hinunterkam, stand eine Frau bei der Treppe im Halbdunkel. Umständlich entschuldigte er sich.
„Es tut mir leid, dass ich hier mitten in der Nacht hoch und runter gehe. Aber oben steht der Bus eines Bekannten. Ich will ihm einen Zettel schreiben. Aber mein Rucksack ist weg.“
Die Frau fing an zu kichern. „Ich hab ihn“, sagte sie und lachte unverhohlen. Ihr Gesicht wirkte im Halbdunkel verlebt, die Schwellungen unter den Augen traten deutlich hervor.
Was für ein Scherz, mitten in der Nacht. Mark war sauer. Aber das schien sie noch mehr zu belustigen.
Und es war Gras drin“, rief sie und lachte laut, dass er fürchtete, die ganze Nachbarschaft würde zusammenlaufen. „Sie haben Gras im Rucksack.“
Mark glaubte, es mit einer Irren zu tun zu haben. Aber da fiel ihm ein, dass er von den Kräutern, die Franz ihm gereicht hatte, nur wenig gegessen und den Rest eingesteckt hatte. Im Rucksack waren nicht nur Zettel und Stift drin, sondern auch seine ganzen Papiere und sein Geld. „Kann ich ihn wiederhaben?“, fragte er vorsichtig.
Sie ging ihm voran zum Haus. Das war modern, aber unfertig und wirkte dadurch wie eine Ruine. Auf das Betätigen des Türklopfers ging die Türe auf. Eine junge Frau stand in der Öffnung mit einem rotbackigen Gesicht, wie dem ‚Tomi-Ungerer-Liederbuch‘ entsprungen. Offensichtlich war sie die Tochter der Humoristin, denn sie zeigte sich genauso erheitert. Lachend ließ sie ihn wissen.
Ich habe einen Freund, der isst auch Gras. Er heißt Schaman.“
Mark war nur an einem gelegen. Möglichst schnell von diesem Haus am Rand der Siedlung wegzukommen. Sobald er den Rucksack hatte, lief er davon. Aufs Zettelschreiben verzichtete er.
Als er sich später bei Oppermann über diesen nächtlichen Vorfall beklagte, meinte dieser lakonisch. „Was hast du anderes erwartet? Du bist ja ein Kind der Erde und nicht des Glücks.“ MLF

Donnerstag, 12. April 2012

36 Gras im Rucksack i

Nach dem Liebesspiel glitt Mili auf dem Kissen nach oben und zog Toni rücklings auf ihren Bauch. Sein Gesäß kam zwischen ihre Beine und sein Kopf zwischen ihre Brüste zu liegen. Ihre noch feuchte Haut am Rücken spürend, trat ihm das Bild einer mexikanischen Malerin vor Augen, auf dem sie ihren Mann trägt und selber im Schoß einer großen Mutter ruht. Leicht entrückt, glaubte Toni im Schoß einer ebensolchen Mutter zu liegen. Erst als Mili ihre Stimme erhob, die von seinem Gewicht etwas gepresst war, vergegenwärtigte er sich, wo er lag. AS

Da war auch noch das Haus der Mutter, das außerhalb der Siedlung lag und oft leerstand, der Garten von einer dichten Hecke umschlossen. Gelegentlich blieb er über Nacht dort und schlief im Bett, in dem auch die Mutter lag, wenn sie dort war.
An jenem Abend war Mark früh zu Bett gegangen. Er hatte nichts Neues mehr anfangen wollen und keine Lust gehabt fernzusehen. Gegen Mitternacht wachte er auf. Sein Blick fiel auf die Stelle, wo der weiße Tisch gestanden hatte. Dieser war umgefallen – nein, nicht gefallen, sondern in sich zerfallen. Genau wie bei mir, in meiner Wohnung auch, stellte er verwundert fest. Zumindest ihren Tisch, nahm er sich vor, werde er wieder aufbauen. Er war sich aber nicht sicher, ob sie dies überhaupt wünschte. Dass sie ihn so sehr hatte verkommen lassen, musste ja einen Grund haben. Er stand auf und schlüpfte in Hemd und Hose. Als er durchs Fenster in den vom fahlen Mondlicht erhellten Garten schaute, bemerkte er hinter der Hecke eine Gestalt. Wer mochte sich mitten in der Nacht so nah am Haus der Mutter aufhalten?, fragte er sich und nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Durch die Terrassentür gelangte er nach draußen.
Wie er durch den von Büschen torartig umfassten Ausgang des Gartens kam, traf er auf einen Freund.
 „Franz, nanu. Was machst du hier?“
„Wir wollten dich besuchen. Aber da die Fenster dunkel waren, haben wir nicht gewagt zu klingeln.“
Das Gesicht seines Freundes war breiter geworden. Er wirkte gelassener, erdiger. Franz war in der Jungend sein Spielgefährte gewesen. In verschiedenen Lebensabschnitten hatten sie sich wieder getroffen und jedes Mal Neues miteinander auszutauschen gehabt.
„Was heißt ‚wir‘?“, fragte Mark.
Franz drehte sich gemächlich um und wies auf einen Mann, der nahe an der Straße im trockenen Gras lag.
„Oppermann? Was, der ist auch dabei?“
Franz drehte sich andersherum und zeigte auf einen Bus samt Anhänger. „Er wollte dir den Bus vorführen. Aber das Ganze hat sich verzögert. Du hast schon geschlafen. Deshalb haben wir uns entschlossen, dich erst am Morgen zu überraschen.“
Franz kaute Gras. Mark sah ihn verwundert an. „Probier, schmeckt gut“, sagte sein Freund einladend.
Mehr aus Höflichkeit nahm Mark an und schob sich ein paar Halme in den Mund. Er war überrascht, nicht diesen bitteren, eintönigen Geschmack von Gras zu schmecken – den wohl nur Kühe mögen – sondern vielseitige Empfindungen zu spüren. Er fing an, jedes Hälmchen einzeln zu kauen und bemerkte, dass keines wie das andere schmeckte.
„Wo hast du das her?“, fragte er Franz, der gegen die Gartenmauer gelehnt nachdenklich seine Kiefer mahlen ließ. „Das ist ja köstlich.“
„Gibt’s hier überall. Aber du musst es nachts pflücken. Sobald es hell wird, drängen die lichthungrigen Pflanzen nach vorne und du suchst vergeblich. Solche Kräuter kauen ist besser als jede Lektüre, findest du nicht?“
„Schmeckt wirklich super“, bestätigte Mark. Begriff aber nicht, wie sein Freund Kauen und Lesen vergleichen konnte. Er wollte nachts nicht zu viel essen. Um nicht ein anderes Mal durch eine solche Gewohnheit geweckt zu werden. Deshalb steckte er das restliche Gras in die Hosentasche.
Der Liegende am Straßenrand rührte sich und richtete sich auf. Als er Mark sah gewahr wurde, sagte er.
„Na, hast du gespürt, dass wir auf dich warten?“
Der Angesprochene überhörte die Frage und bewegte langsam den Kopf. „Wie kannst du im Freien schlafen, ohne Decke und so nah an der Straße?“
„Alles eine Frage der Übung und des Vertrauens“, sagte Oppermann. „Aber wenn du schon hier bist, so wirf doch einen Blick auf den Bus.“
Gemeinsam gingen sie zum Bus. Oppermann, der schon seit Langem Marks Berater war, hatte ihm empfohlen, den festen Wohnsitz aufzugeben und eine Zeitlang unterwegs zu sein. „Jeder Mensch sollte das mal erleben. Wenn nicht in der Jugend, dann halt später.“
Auf den Scheiben und den Zierleisten reflektierte sich der matte Schein des Mondlichts. Das Gefährt mit dem Anhänger schien Mark doch etwas ungelenk. „Ich kann mit einem Anhänger schlecht rückwärtsfahren“, gab er zu bedenken.
„Dann lass ihn doch weg“, warf Franz ein.
„Du brauchst ihn für die Bücher“, erklärte Oppermann. „Du kriegst sie nicht alle vorne rein. Oder hättest keinen Platz, dich darin aufzuhalten.“
„Verstehe, dann muss es wohl sein“, stimmte er zu. War aber von dieser Lösung nicht begeistert. Andererseits gefiel ihm der Gedanke, sich in einen Extraraum setzen zu können, wenn ihn die Lust zu lesen überkam.
„Kommt, jetzt gehen wir ins Haus“, lud Mark sie ein.
„Nein, nein, wir bleiben draußen.“
„Dann legt euch doch mindestens in den Bus“, bot er an.
Wollten sie auch nicht.
„Macht was ihr wollt. Ich bin müde.“ Mark begab sich ins Haus zurück.

War er eingeschlafen oder hatte er nur gedöst? Das mit dem Anhänger beschäftigte ihn. Wozu brauchte er die ganzen Bücher? Er hatte sich doch das Lesen schon so gut wie abgewöhnt. Mark spitzte die Ohren. Da waren Stimmen zu hören. MLF

Mittwoch, 11. April 2012

35 Das Erdloch unterhalb des Hauses


Beim Aufwachen spürt Toni, dass sein Penis steinhart ist. Mili liegt neben ihm. Eine Scham überkommt ihn, wie damals in der Jugend. So will er sich ihr nicht zuwenden. Damit sein Penis abschwillt, dreht er sich von ihr weg. Er zieht die Beine an und wartet, dass sich seine Erektion löse. Aber die wird im Gegenteil immer stärker. Sein Penis schmerzt.
Irgendwann scheint Mili die Lust am Warten vergangen zu sein. Sie rutscht hoch und beginnt ihre Geschichte zu erzählen. Ob er zuhört oder nicht, scheint sie nicht zu kümmern. Aber er versteht jedes Wort. AS

Im Hang unterhalb des großen Gebäudes lag ein kleiner Teich versteckt. Näher besehen erwies er sich nur als ein Erdloch, ein paar Meter im Durchmesser, aber ziemlich tief. Er stieß auf dieses Wasser, als er am frühen Morgen das Haus verließ und den Hang zum Tal hinabging. Von dichten Graspolstern umfasst, fiel das Wasserloch kaum auf. Mark überkam die Lust ein Bad zu nehmen.
„Oh ja, gehen wir auch baden“, hörte er vom Haus oben. „Lasst uns eine Runde planschen gehn.“
Er blickte nach oben. Von einem der Balkone aus war gesprochen worden. Das Haus enthielt etliche Wohneinheiten, in denen sich vorwiegend junge Menschen befanden – jedenfalls waren die Insassen deutlich jünger als er. Es war ein modernes Gebäude mit mehreren Stockwerken und flachem Dach, ziemlich lang. Er war vor wenigen Tagen in eine dieser Wohnungen eingezogen. Vom Fenster aus hatte er einen tollen Blick ins Tal. Dass auch andere ein Bad nehmen wollten, störte ihn nicht, im Gegenteil. Das gab ihm die Gewissheit, dass das nicht ganz koschere Wasser zum Schwimmen taugte.
In einer Zwischenphase seines Lebens war Mark in dieses Haus eingezogen. Bis dahin hatte er im Pfortenbereich des umfriedeten Geländes gewohnt. [18 Pforte und Innenbereich, 19.02.] Nachdem die Kinder ausgeflogen waren und auch seine Frau ihn verlassen hatte, wollte er nicht mehr in der Wohnung bleiben, die vorher zu klein gewesen und jetzt zu groß war. Also brach auch er auf und machte sich auf die Suche – wonach wusste er nicht. Da fand er dieses moderne Haus über einem schönen Tal. Die jungen Leute irritierten ihn nicht, im Gegenteil. Junge Menschen sind im Aufbruch wie ich auch, sagte er sich. Dass er in mancher Hinsicht doch nicht so unbefangen war wie sie, bemerkte er an diesem frühen Morgen beim Wasserbecken.
Wie er die Joggingkleider abstreifen wollte, fiel ihm auf, dass die Morgenfülle seines Gliedes noch nicht abgeschwollen war. Wenn ich mich jetzt ausziehe und die anderen kommen, wird mein Penis hart werden wie frisch vom Bett die Morgenlatte. Da genierte er sich doch. Während er noch zögernd am Ufer stand und überlegte, ob er es wagen sollte sich auszuziehen oder nicht, kamen drei junge Männer und zwei Frauen herabgesprungen. Ohne Hemmung warfen sie ihre Kleider ab und hüpften ins Wasser.
„Worauf wartest du, wandte sich einer von ihnen ihm zu?“ Es war sein Wohnungsnachbar, mit dem er flüchtig Bekanntschaft gemacht hatte.
„Ich werde erst joggen gehen“, gab Mark zur Antwort. Es war ihm höchst peinlich, dass er, der sich sonst so sicher fühlte und in vielen Bereichen als kompetent galt, sich hier vor diesem Erdloch dermaßen unbeholfen anstellte.
Der ihn angesprochen hatte, sollte sich als ein hilfreicher Nachbar erweisen. Ein rundlicher, knuddeliger Mensch, den er anfänglich nicht ganz ernst nahm. Auf sehr feinfühlige Weise ließ er Mark eine neue Form der Liebe entdecken. Von ihm hörte er zum ersten Mal den Satz. "Die Liebe lieben, das Leben leben“, den sich Mark fortan zum Motto erhob.
Kurz überlegte er, ob er’s nicht doch wagen sollte, sich in das fröhliche Necken und Spritzen der Badenden einzuklinken. Aber der Entscheid fürs Laufen war schon gefallen.
In der Talfläche unten lief er eine größere Distanz und rannte auch den Hang wieder hoch. Da hatte er keine Lust mehr auf ein Bad, sondern stellte sich unter die Dusche. MLF

Dienstag, 10. April 2012

34 Renaissance kein Thema

Toni ging mit bangem Gefühl zu Bett. Was mochte wieder alles auf ihn einstürzen? Würde Mili zu ihm kommen? Hundert Skrupel trieben ihn um. Aber er schlief ohne Störung und Mili lag neben ihm, als er gegen drei erwachte. Ihr eines Auge war auf ihn gerichtet. Es schien ihm größer als sonst. Wie ein Reh, dachte er. Auch ihr Hals erschien ihm länger als gewöhnlich. Toni legte seine linke Hand auf ihre Brüste, die an der gewohnten Stelle waren. Da drehte sie mit zierlicher Bewegung erst den Kopf und dann den ganzen Körper ihm zu. Sie küssten sich intensiv und begannen eine wildes Liebesspiel.
Als Tonis Atem sich beruhigt hatte, begann Mili mit ihrer Geschichte. AS

Beim Gehöft hält er eine kleine Herde Rehe. Sie sind ihm einzeln zugelaufen. Nachts ist überraschend Schnee gefallen. Er geht hinunter zu schauen, ob sie genug zu fressen haben. Er tritt in die Koppel. Der Schnee ist nicht sehr tief. Die Tiere stoßen ihn mit den Hufen weg und fressen das freigelegte Gras. Da sieht René wie eines seinen Kopf tief in den Boden steckt. So tief kann der Schnee nicht sein, sagt er sich. Es muss in den Boden eingedrungen sein. René tritt näher, um zu sehen, ob da ein Loch ist. Das Tier richtet sich auf und sagt: „Ich fürchte, es muss etwas geschehen, die Leitung im Waschraum ist gebrochen.“
Er kann es kaum fassen. Sein Reh spricht und das mit so deutlichen, klaren Worten. Seit längerem unterhält er eine intensive Beziehung zu diesen Waldtieren und hat schon viel aus ihrem Gebaren gelesen. Aber dass eines ihn anspricht, ist bisher nicht vorgekommen. Er hat aber nicht die Zeit, lange darüber zu sinnieren. Da läuft tatsächlich ein Rinnsal durch die Wiese und lässt den Schnee schmelzen. Er bedankt sich beim Reh und rennt zum Gehöft hoch. Da kommt ihm gerade der Verwalter Peter entgegen.
„In der Rehkoppel läuft Wasser. Eine Leitung im Waschraum muss gebrochen sein“, ruft René und schnappt nach Atem. Wie er darauf gekommen ist, verschweigt er. Der Verwalter steht sowieso skeptisch der Rehhaltung gegenüber.
„Kannst du den Sanitär-Installateur verständigen? Ich dreh solange den Hahn ab“, bittet René.
Die Frau des Verwalters leert gerade die Waschmaschine und hat auch eine zweite Wanne mit Schmutzwäsche da stehen. Während René den Haupthahn abdreht, bittet er sie.
„Kannst du mit dem nächsten Maschinengang warten? Eines der Rohre leckt. Peter ruft gerade den Installateur.“
Ich muss jetzt hier die Wäsche aufhängen, sagt sie in einem Ton, der deutlich macht, dass sie sich gestört fühlt.
„Geht das nicht auch im Haus?“, fragt er. „Hier ist kein Platz. Gleich wird der Installateur kommen, um die Leitung zu reparieren. Sonst musst du warten, bis er die Leitung repariert hat.“
Brummend, den Korb mit der nassen Wäsche unterm Arm, verlässt sie den Raum.
Der Sanitär-Installateur, ein großer Mann, kommt in Begleitung eines ebenfalls sehr hochgewachsenen Mannes, dem Bäcker, daher. Sie haben sich wohl gerade in einem Gespräch befunden. Das könnte der Grund sein, warum der Bäcker dabei ist. Der Leitungsbruch gibt ihnen Anlass zu hochgeistigen Gesprächen wie sie René von einem Sanitär und einem Bäcker nicht erwartet hätte. Aber an diesem Tag scheint ja manches nicht in der gewohnten Bahn zu laufen – Mein Reh hat zu mir gesprochen, er kann es noch immer nicht fassen – Er hört heraus, dass ein unerlaubter Satz über die Renaissance zu diesem Rohrbruch geführt habe. René vermutet, dass sie sich wohl nicht ganz aus dem davor geführten Gespräch haben lösen können und dieses versehentlich mit dem Vorfall durcheinander bringen. Er fragt mit skeptischem Unterton.
„Was für ein Satz, könnte das gewesen sein?“
Der Installateur zieht den Zettel, auf dem er gerade eine Notiz gemacht hat, heraus und liest:
1942 ermordet. Nach Atlantica. Und jetzt hier.
„Halt“, ruft René, „das hat neulich mein Mentor zu mir am Telefon gesagt.“
„Aha, da haben wir ja das Problem“, brummt der Installateur und kratzt sich am Kopf. „Wie heißt dein Mentor?“
René hebt die Schultern. „Da bin ich überfragt. Ich kenne ihn nur vom Telefon.“
„Hast du wenigstens seine Nummer?“
René schüttelt den Kopf. „Er ruft mich an.“
Der Installateur streckt die Hand aus. René reicht ihm sein Handy. Er blättert die einkommenden Anrufe durch.
„Wann hat er diesen Satz gesagt?“
René denkt nach. Es ist beim Ausflug mit den Berufsschülern gewesen, im Schienenbus. Nachdem ihn der Hüne von einem Jungen bedroht hat. „Vor drei Tagen.“
„Um welche Uhrzeit?“
„Gegen Abend, so zwischen fünf und sechs.“
„Unbekannt. Habe ich mir schon gedacht. – Aber das werden wir rausfinden. – Ist ja nicht weiter schlimm. Du hast es ja bemerkt. Wichtig ist, dass du das für dich behältst. Sonst haben wir bald überall Brüche im geschlossenen Kreislauf.“ MLF

Donnerstag, 5. April 2012

33 Mentor und Bettler j

René berät sie auch dabei und wird von mehreren Jungs umringt, die alle Vorschläge für ein besonderes Gericht wollen.
„Also, etwas Frittiertes kommt an einem solchen Tag immer gut an“, sagte René. „Z.B. in Teig getauchte Früchte oder Gemüse, knusprig gebacken. Dazu eine süßsaure Soße oder Vanillesoße.“
„Das ist viel zu schwierig!“ „Was für Früchte eignen sich?“ „Helfen Sie mir!“… gehen die Stimmen durcheinander. Ein hübscher Junge schmiegt sich an ihn und lenkt ihn zu seiner Ausstellungsfläche. René wird weich wie Wachs in der Mittagshitze. Doch dann wird ihm bewusst, dass dieser Schüler vor den andern bevorzugt werden möchte. Er fasst sich, gibt ihm einen kurzen Ratschlag, Crêpes mit Bananen und Schokolade und geht weiter.

Auf einem Ausflug mit der Klasse kommt es zu einem prekären Zwischenfall. Ein besonders großer Schüler packt René und bedroht ihn.
Sie befinden sich auf einer Reise in einem altertümlichen Bahnbus, der auf Schienen rollt. Das Mobiliar besteht aus dunklem Holz. Jungs und Mädels halten sich in getrennten Teilen auf. Die Jungs vorne, die Mädels hinten. René steht zwischen den Jungs, obwohl er seiner Kleidung nach zu den Mädchen gehörte. Aus unerfindlichen Gründen bleibt der Schienenbus mitten im Feld stehen und rührt sich nicht mehr. Kein Schaffner, der eine Erklärung abgibt, nicht mal eine Durchsage. Es wird gemunkelt, dass es bald weitergehe. Es gibt aber auch Stimmen, die behaupten, das sei’s gewesen, man solle nach Hause gehen. Unvermeidlich, dass in einer solchen Situation die Spannung steigt. Plötzlich tritt der Größte aus der Klasse auf René zu und starrt auf seine Kleidung. Als René nicht zurückweicht, packt ihn der kräftige Kerl an der Bluse und zieht ihn zu sich. René, der so viel Sympathie und Anerkennung in der Klasse erfahren hat, strahlt ihn an. Er glaubt, dieser große Junge wolle ihm durch seinen theaterhaften Auftritt besondere Achtung erweisen. Der verachtende Blick, als er ihn loslässt, stimmt ihn doch etwas skeptisch. Vor allem als er hervorstößt:
„Dann muss halt die kleine Verdrückte da hinten herhalten.“
Anscheinend waren das doch Aggressionen, die er zu spüren bekommen hat. Im Nachhinein erschrickt er. Von den Jungs kann er keine Hilfe erwarten. Die sind beeindruckt von dem Kerl, das hört er. Sie flüstern.
„Zwei Meter.“ „Der haut jeden um.“
Glück gehabt, denkt er. Sein Puls ist deutlich erhöht. René schaut rüber zu den jungen Frauen. Es fällt ihm auf, wie viel kleiner und unscheinbarer sie sind als die Kerle.
„Gehören die wirklich zu eurer Klasse?“, fragt er.
Sie bestätigen es. Dabei beobachtet er die Jungs und kommt nicht aus dem Staunen heraus, wie verschieden sie sind und was für vielseitige Persönlichkeiten er vor sich hat. Er hat das seltsame Gefühl, dass je ein Junge und ein Mädchen eine Einheit bilden. Wie zwei komplementäre Mengen im Kreis. Als fehlte den Mädels, was die Jungs im Überfluss haben.
Als der Schienenbus sich schließlich doch wieder in Bewegung setzt, klingelt Renés Handy. Er drückt auf das Hörersymbol und hält das Gerät ans Ohr. Es ist sein Betreuer. (Auch Mentoren haben Betreuer) Seine Stimme klingt euphorisch.
„Mutprobe bestanden. Tatsächlich, wir packen noch ein Mischwesen! Herzlichen Glückwunsch.“
René fällt nichts ein, was er darauf entgegnen könnte. Der Mentor hat noch nicht alles gesagt. „Bedenke, 1942 getötet. Nach Atlantika. Und jetzt hier. Das glaubt uns niemand“, fährt er fort.
Dass er manches nicht versteht, was sein Betreuer sagt, ist er gewohnt. René freut sich aber trotzdem, dass dieser so enthusiastisch ist. Die Aufregung hat sich gelegt. Sein Blut fließt wieder normal. MLF