Das Waldschulheim liegt in einem Wald, der uns rätselhaft bleibt, obwohl wir ihn häufig begehen. Dieser besondere Wald gilt als dunkel und undurchdringlich und nicht zu unrecht besteht die Angst, dass man sich darin verlieren könne. Man nennt diesen Wald auch Märchenwald. Grund genug für manche Menschen seine Existenz überhaupt zu bezweifeln. Wenn wir die Geschichte vom Waldschulheim anhören, werden wir den Eindruck bekommen, dass die Zweifler im Unrecht sind. Es scheint ihn doch zu geben, diesen großen Wald, man kennt ihn nur nicht so gut, weil wir meistens die Augen schließen, wenn die ersten Schatten seiner hohen Tannen auf uns fallen.
Unbemerkt von den
Nachbarn begab sich eine Familie täglich in den großen Wald. Sie verfolgten
dort seit langem ein ehrgeiziges Projekt. Zwischen den uralten Bäumen hatten
sie Wasserflächen mit ganz besonderen Eigenschaften entdeckt. Um diese zu studieren,
hatten sie in der Nähe eine Hütte errichtet und diese im Laufe der Jahre mit
viel Sorgfalt zu einer Schule ausgebaut. Das Schwierigste an diesem Projekt war
gewesen, einen verlässlichen Pfad zu dieser Lichtung hin zu bahnen. Man muss
nämlich wissen, dass die herkömmlichen Wege des ‚Märchenwalds‘ wie ein Flusslauf
mäandern und sich in ständiger Veränderung befinden. Die drei
Familienmitglieder aber begradigten mit großer Hartnäckigkeit nach und nach
ihren Pfad und kämpften für seinen Erhalt. Nur so konnten sie sicher zu ihrer
Arbeit in der Lichtung gelangen.
Otis, seine Frau
Luise und ihre Tochter Marylin schlugen den Pfad in den großen Wald ein. Kaum
auf dem Weg, wurden sie von einer Stille umfangen, als seien sie vom Schlaf in
Watte gehüllt. Der Vorausgehende hatte die schnell wachsenden Äste abzubrechen,
die ihnen stets von Neuem den Zugang zu verwehren drohten. Mann und Frau
wechselten sich bei dieser schweißtreibenden Arbeit ab. Die Tochter brauchte
trotzdem länger. Sie hatte noch nicht so kräftige Beine und zudem hing sie
gerne ihren Gedanken nach. Wenn sie so weit abgefallen war, dass die Eltern sie
nicht mehr sehen konnten, hielten sie inne, bis Marylin aufgeholt hatte, um sie
zu mehr Eile zu ermuntern. Mit viel Kraft stiegen sie den stetig ansteigenden
Pfad bergan, bis sie bei einem Felsen den höchsten Punkt ihres Weges
erreichten. Von den Strapazen erschöpft, lehnten sich die Eltern an den großen
Stein und pickten sich, während sie verschnauften, gegenseitig die Kletten aus
den Haaren. Die Tochter ging zwei Schritte weiter und hockte sich auf die
oberste der Stufen, die sie selbst angelegt hatten, um die abgründige Stelle
dahinter Stufe um Stufe überwinden zu können. An dieser Stelle war der Wald
etwas lichter und gab den Blick frei hinunter auf einen mäandernden Weg, der
zur Lichtung führte. Auf diesem
kam ihnen ein alter Mann mit Pferd und Fuhrwerk entgegen.
Er ging in geduckter Haltung neben dem Pferd her. Der Wagen war schwer beladen
mit Holzplatten. So wie es aussah, machte der Alte ein griesgrämiges Gesicht.
Die drei rafften sich auf und gingen ausgeruht leichten Fußes die Stufen hinab.
Diese waren aus senkrecht stehenden Holzstämmen gebildet, die Otis und seine
Frau auf einer Seite konkav geformt hatten, damit sie sich aneinander fügten.
Als die drei von ihrem Pfad auf den kurvenreichen Waldweg kamen, war das
Fuhrwerk schon hinter der nächsten Biegung zwischen den Bäumen verschwunden.
Das war ihnen, bei der schlechten Laune, die sie dem Alten schon von weitem angesehen
hatten, gerade recht. Einige Schritte weiter tat sich unten die Lichtung auf,
mit dem langgezogenen, filigranen Holzhaus, das sie erbaut und als Seminarraum
eingerichtet hatten.
Sie gingen aber
nicht zur Lichtung hinunter, sondern stiegen nach links auf eine erhöhte
Fläche, welche wie auch die Lichtung von ihnen gerodet worden war. Die erhöhte
Stelle war von wildwachsendem Gras überwuchert. Dazwischen glänzten
geheimnisvoll mehrere Wasserflächen, jede von der Größe einer stattlichen
Regenlache. Einem inneren Antrieb folgend ging Otis auf eine der Wasserflächen
zu und legte sich ins üppige Gras daneben. Dabei legte er sich mit dem Kopf nah
an den Rand, den Blick aufs Wasser gerichtet. Derweil setzten sich Frau und
Tochter ins Gras und ruhten sich von der Wanderung aus.
Kaum hatte Otis sich
im Gras etwas zurechtgerückt, den Arm angewinkelt und den Kopf in die Hand
gelegt, da geriet das Wasser vor ihm in Bewegung, es wallte hoch auf und
spielte ihm eine spannende Szene vor. Er blickte auf eine Spielfläche. Die
Anlage ähnelte einer mehrteiligen Kegelbahn mit Gaststätte. Von seiner Position
aus lagen ihm die Bahnen am nächsten und die Theke stand dahinter. Er sah diese
Anlage also genau in umgekehrter Richtung, als wie sie die Besucher für
gewöhnlich sehen. Links von der Theke saßen auf den Zuschauer-Stufen einzelne
Schüler. Unversehens war Otis ins Geschehen involviert. Er bewegte sich in der
Spielfläche, die aus einem glatten, sattgrünen Rasen bestand. Dieser war
mittels Talg in zwölf gleiche Streifen unterteilt. Auf diese Bahnen waren die
Spielsteine gelegt, wie sie im Spiel davor gewürfelt worden waren. Die Aufgabe
von Otis bestand darin, die Steine einzusammeln und sie den wartenden Schülern
zu überreichen. Er sammelte einen Teil der Steine, ging damit zu den
Jugendlichen und gab sie denen, die auf der ersten Stufe saßen. Die Steine
verwandelten sich bei der Übergabe in Mangold-Pflanzen. Dieser Vorgang
überraschte ihn selber. Er machte nicht früher halt, als bis die Spielfläche
komplett geräumt war und auch der letzte Schüler sein Mangold dankend entgegen
genommen hatte.
Sobald sich das
Wasser gelegt hatte, erhob sich Otis und ging nach unten ins Waldschulheim.
Dort hielt er das Erlebte im einzigen Sessel des Hauses sorgfältig fest. Frau
und Tochter folgten ihm leise, damit er die spannende Szene nicht verlöre. Da
es im Wald feucht war, machte Otis seine Aufzeichnungen auf Buchentafeln, wie
man es vor wenigen hundert Jahren noch gemacht hatte, bis das Papier den Weg in
diese Region gefunden hatte. Sobald Otis den letzten Satz geschrieben hatte,
rief er Luise. Sie setzte sich zu ihm in den bequemen Sessel. Otis schmiegte
sich an sie und rekelte sich in ihren Armen. Nach einiger Zeit raffte er sich
wieder auf, um sich an die nächste Wasserlache zu legen. Luise sah ihm draußen
nach, bis er rechts oben auf der erhöhten Fläche nicht mehr zu sehen war.
Sie wollte sich als
Lehrerin jetzt ihrer gewohnten Tätigkeit zuwenden und einige der Buchentafeln
aus dem Glasschrank holen, sie studieren und vergleichen. Aber noch ehe sie
sich zur Tür gedreht hatte, sah sie eine Person den Weg herab kommen, in der
sie ihre Buchhalterin erkannte. Die Stirn der Lehrerin kräuselte sich. Luise
hielt die Buchhalterin zwar für eine freundliche, besorgte Person, ohne deren
Hilfe sie ihr Waldschulheim längst hätten aufgeben müssen, aber wenn sie den
weiten Weg bis zum Waldschulheim gelaufen kam, hatte das wohl keinen
erfreulichen Grund. Das ganze Projekt des Waldschulheims lag in der Schwebe,
nur dank dieser Frau hatten sie überhaupt so lange durchhalten können.
Es war denn auch
tatsächlich kein erfreuliches Gespräch. Die Verwalterin klagte über die
aussichtslose Lage und zeigte keine Hoffnung mehr für den Fortbestand des
Projekts. Schließlich wandte sie sich um und ging mit gesenktem Kopf schnellen
Schrittes zurück, als fürchtete sie in diesem undurchdringlichen Wald eingeschlossen
zu werden. Sie wollte dort keinen Augenblick länger verweilen.
Als die Buchhalterin
zwischen den Bäumen verschwunden war, schüttelte Luise vehement den Kopf, so
als handelte es sich um Schnaken, die man auf diese Art vertreiben könne.
„Wo ist eigentlich
dein Vater?“, rief sie zur Tochter nach drinnen.
Marylin war bei
ihrer Lieblingsbeschäftigung. Vornüber gebeugt zeichnete sie an einem der
Tische Cartoons. Sie richtete sich auf und schaute die Mutter fragend an.
„Schau doch mal
nach, dein Vater ist gewiss eingeschlafen“, forderte die Mutter sie auf.
Hin und wieder
schlief Otis am Wasserrand ein und konnte die Szenen des Wassers nicht
aufzeichnen.
„Ja, gleich“, rief
Marylin gedehnt. Sie hielt ihre Zeichnung nochmals vor sich hin und betrachtete
sie aus der Distanz. Da und dort radierte sie überflüssige Striche weg und
schaute sie erneut an. Halbwegs zufrieden verstaute sie ihren Zeichenblock unter
dem Tisch und erhob sich.
Otis wachte von den
Rufen seiner Tochter auf. „Wo bleibst du? Wir warten schon!“ feixte sie von
unten, vom Weg her.
Müde von der
Wanderung war er tatsächlich vom Schlaf übermannt worden. Folglich konnte er
sich dieses Mal an keine Szene erinnern. Spurlos waren die Wallungen aber
trotzdem nicht an ihm vorüber gegangen. Während er geschlafen hatte, waren doch
seine Gefühle wach geblieben und hatten Anteil an den mal gefälligen, mal
dramatischen Bewegungen des Wassers genommen. Nur eine leise Ahnung dessen, was
in diesem raffinierten Theater gespielt worden war, blieb ihm erhalten. Aufzeichnen
würde er dieses Mal nichts können. Daran ließ sich nichts mehr ändern. Er
raffte sich auf und folgte der Tochter zur Schule.
In der Zwischenzeit
hatte sich die Lehrerin von dem Konflikt mit der Buchhalterin soweit erholt,
dass sie mit der Besprechung des Wassertheaters beginnen konnten. Ihr Mann
holte von drinnen die neuste Aufzeichnung und gesellte sich draußen zu ihnen.
Die Tochter hielt Abstand zu den beiden. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein eher
skeptischer Ausdruck. Otis begann mit der Erzählung seines jüngsten Erlebnisses
an der Wasserfläche. Seine Frau hörte gebannt zu und vergaß dabei, was die Buchhalterin
ihr geklagt hatte.
„Ich sehe vor mir
Spielbahnen wie in einem Bowlingcenter, aber aus umgekehrter Richtung“,
berichtete er. „Eine große, breite Fläche, in zwölf Bahnen unterteilt. Dahinter
sind Stufen zum Sitzen und rechts davon geht es zur Theke hoch. Ich stehe
selber in der Spielfläche, die aus einem glatten Rasen besteht. Die zwölf
Bahnen sind mit weißem Talg markiert. In den Bahnen liegen, als Ergebnis eines
Würfelspiels, die Steine verteilt.“
Wie er nun
berichtete, dass sich die Steine beim Überreichen an die Schüler in Mangold
verwandelt hatten, rief die Tochter gereizt:
„Was fängt denn ein
Schüler mit diesem Gemüse an?“
Die Mutter als Lehrerin ermahnte sie:
„Hör genau hin, englisch ‚man‘ und ‚Gold‘, begreifst du nicht, diese Steine
stellen etwas sehr Wertvolles dar.“
Stirnrunzelnd zog
die Tochter ihre Jacke enger, sie fror von innen heraus. Die Erklärung ihrer Mutter
hatte sie nicht befriedigt. Ihr war kalt.
Um sie aufzumuntern,
fragte Luise, was sie gerade gezeichnet habe. Marylin ging nach drinnen und kam
mit ihrem Zeichenblock zurück. Dabei sah sie die Eltern herausfordernd an. Auf
dem Blatt waren zwei ungleiche Tiere akribisch gezeichnet, ein Frosch und eine
Zikade. Der Frosch lag auf dem Rücken. Das Übergewicht seines mit Buchentafeln
gefüllten Rucksacks hatte ihn nach hinten gerissen. Die Zikade stand lässig
daneben und schüttelte den Kopf. In der Sprechblase darüber war zu lesen: „Ich
habe dich ja gewarnt, man kann sich auch zu viel aufladen.“
Die Eltern sahen
sich halb belustigt, halb bekümmert an, handelte es sich hierbei doch um eines
der Erlebnisse bei den Wasserflächen, das Otis vor wenigen Tagen berichtet
hatte. Mit Vorliebe griff die Halbwüchsige wenig schmeichelhafte Ereignisse auf
und verwandelte diese in Cartoons.
Otis und Luise
entschieden sich, das jüngste Erlebnis unter dem Titel ‚Mangold-Spiel‘
aufzubewahren. Daraufhin nahm die Lehrerin die Buchentafel und verstaute sie in
den Schrank zu den vielen andern, welche sie für den Unterricht im
Waldschulheim zu verwenden beabsichtigte. Die, welche sie nicht verlangte,
steckte Otis in die Nebenräume, die von den vielen, als weniger wichtig
geltenden Buchentafeln, überquollen. Der Alte, der sich des Waldschulheimes
annahm, spannte deshalb gelegentlich sein Pferd vor den Karren, holte die
Tafeln aus den Nebenräumen und packte sie auf den Wagen. Er fuhr sie auf dem
mäandernden Weg in den Wald – wie an diesem Morgen geschehen. Weder die
Lehrerin noch ihr Mann wussten wohin er sie brachte.
Trotz der scheinbar
ausweglosen Lage ließen die drei sich nicht entmutigen. Wider Erwarten fand die
Buchhalterin doch noch einen Weg. Schon bald weckten die kostbaren Tafeln aus
dem Schrank des Waldschulheims großes Interesse und fanden begeisterten Anklang.
So verging Tag um Tag und wenn sie nicht gestorben sind, dann agieren sie noch
heute im Märchenwald. MLF mit Illustrationen von Hans-Christian Rost