…
Die Stimmen, die Tonke hörte, rührten von einer Wandergruppe her,
die den Weg, den er gerade gegangen war, hoch kam. Er sah Erwachsene, Männer
und Frauen, von Kindern begleitet. Ihren bunten Kleidern nach stammten sie
nicht aus dem Dorf, sondern kamen von weiter her. Ihm fiel der Wagen ein.
Vielleicht waren sie mit dem Auto gekommen, das er gehört hatte. Unten haltend,
hatten sie, statt in der Wiese zu picknicken, sich auf eine Wanderung begeben.
Zwischen den Wandernden ging ein Tier. Tonkes Aufmerksamkeit
wurde von den Wanderern auf dieses Tier gelenkt. Es wirkte groß und
schwerfällig wie ein Rind, hielt aber seine Nüstern in steter Neugier am Boden.
Diese eigentümliche Kopfhaltung verleitete ihn zu der Vermutung, dass es sich
um einen Tapir handeln könnte. Wenn Menschen Giftschlangen und Krokodile
hielten, warum dann nicht auch einen Tapir. Ein Tapir war wahrscheinlich nicht
schwieriger zu halten als ein Rind. Trotz seiner Größe schien dieses Tier sehr
beweglich zu sein. Er war unsicher, vielleicht war es doch ein riesiger Hund.
Tonke wartete und ging noch nicht durch das Loch.
Ein bisschen war ihm Angst vor dem großen unbekannten Tier, aber
er war auch neugierig. Die Personen musterte er erst, als sie schon ziemlich
nah waren. Männer, Frauen und Kinder. Da erkannte er, das Gesicht unter einer
Deckelkappe, in halblangen Hosen, seinen Kontrahenten Alex. Tonke wurde
unheimlich zu Mute. Das war ja der Freund, dem er vorwarf, diese Welt kreiert
zu haben. Hatte Alex ihn hierher gelockt, um ihm die Hässlichkeit der Bergwelt
zu beweisen? Ja, so musste es sein.
Statt zu lachen und versöhnlich auf den Gegenspieler, der ja
immerhin sein Freund war, zuzugehen, Blieb Tonke im Schutz eines großen
Felsbrockens. Er kam sich wirklich vor wie ein Hinterwäldler. Er hätte doch
offen auf ihn zugehen und ihm gratulieren können. Es war Alex gelungen, ihn in
seine Vorstellungswelt zu locken.
Aber alles, was er hervorbrachte, war die Frage. „Ist das Tier,
das euch begleitet ein Tapir?“
„Aber nein“, sagte sein Kontrahent und grinste, „siehst du denn
nicht, dass das ein Rind ist.“
In Wirklichkeit war es ein etwas überdimensionierter Hund. Tonke
blieb weiter hinter dem Felsen. Er beobachtete das Tier, wie es überall umherging
und schnüffelte. Es hielt mit treuen Augen die Verbindung zu den Mitgliedern
der Gruppe, suchte aber auch Kontakt zu ihm. Das nahm ihm die letzte Scheu und
er trat hinter dem Stein hervor.
Jetzt fing Alex laut an zu lachen. „Da ist ja ein Nackter“, rief
er. „Habt ihr den schon gesehen“, rief er zu den andern. „Kinder schaut weg,
der ist nackt.“
Tonke sah sich bloßgestellt. Er hatte versäumt sich anzuziehen.
Er stand da, wie er aus dem Bett gestiegen war.
Die anderen Erwachsenen und die Kinder lachten eher verlegen. Ihnen
schien die Situation nicht ganz geheuer zu sein. Alex dagegen fand Tonkes Blöße
sehr erheiternd. Er freute sich außerordentlich, dass ihm sein Coup gelungen
war. Er klopfte sich immer wieder auf seine halblange Hose und rief, „ein
Nackter, ein Nackter.“
Ganz nackt war Tonke nicht. Immerhin trug er eine Boxer-Short.
Von wegen die Kinder sollten wegschauen.
Das Gelächter von Alex nahm Tonke vollends gegen ihn ein.
Etwas abseits stellte er sich auf. Während die Gruppe im Gelände sich
niederließ und die Kinder zwischen den Felsen spielten, baute sich zwischen den
beiden Männern eine Kampfsituation auf. Wie zwei Böcke am Rande der Herde, so
traten sie in einigem Abstand von der Gruppe gegeneinander an. Der Jüngere setzte
voll auf Konfrontation, er kam hoch erhoben auf Tonke zu. Dieser erschrak und
fühlte seine Kräfte schwinden. Ich bin zu alt, einer solchen Auseinandersetzung
bin ich nicht mehr gewachsen, sagte er sich. Ein laues Gefühl im Magen
schwächte ihn zusätzlich. Aber das lag daran, dass er versäumt hatte zu
frühstücken. Er raffte sich auf und stand hin wie ein mit Hörnern bewehrter
Widder. Die Shorts war genau die richtige Kleidung für den bevorstehenden
Kampf.
Der Jüngere reagierte verblüfft und wurde zornig. Er versuchte
ihn wegzustoßen. Aber Tonke, der sich in seiner Boxer-Shorts gut in Form
fühlte, stieß ihn seinerseits und rief:
„Bergwacht, das ist
gut. Niemals würde die Bergwacht ein solches Bild der Bergwelt zeichnen. Das
stammt von dir. Es ist das düstere Bild, das du dir von den Bergen machst.
Warum bleibst du nicht in deiner Stadt. Niemand zwingt dich die Berge
aufzusuchen.“
„Doch du“, konterte Alex, „indem du ständig von ihnen schwärmst
und weiß was für Wunder von Oben und Unten
erzählst.“
Tonke sah, dass sie wieder am immer gleichen Punkt ihrer Auseinandersetzung
angelangt waren. Sie waren keinen Schritt weiter gekommen. Im Gegenteil, mit
diesem gelungenen Streich hatte der Kontrahent einen Vorteil über ihn gewonnen.
Wer würde denn von einem Nackten etwas annehmen. Er hatte die Hoffnung verloren,
seinen Gegner überzeugen zu können. Deshalb machte er sich für den Rückzug
bereit. Der Klügere weicht aus.
Als Alex, von seiner Frau gerufen, sich umdrehte, schlüpfte Tonke
schnell ins Loch und ließ den Verstockten in seiner öden, selbsterzeugten
Bergwelt zurück.
In sein Zimmer zurückgekehrt lag das große Bild noch immer auf
dem ungemachten Bett. Tonke schlug schnell die Seiten um und stopfte den Kalender
in den Umschlag. Wie sein Kontrahent sich die Berge vorstellte, sollte ihm
fortan egal sein. Er musste sich nur davor hüten, ihm jemals wieder von seinen
Erfahrungen mit Oben und Unten zu
berichten.
Den Pappkarton warf er neben den Papierkorb, der nicht groß genug
war ihn zu fassen.
Er rieb sich den Schweiß von der Stirn, das war ein heikles
Unterfangen gewesen. Ein solches Abenteuer schon am Morgen. Ein starkes
Hungergefühl überkam ihn. Er zog sich ein T-Shirt über, schlüpfte in die
Pantoffeln und ging nach unten. Endlich frühstücken. MLF