Sonntag, 10. März 2013

149 III Herrlisberg – Eine dürftige Ernte



Als er vom Wald in die Herrlisberger Hochfläche hinausfuhr, hatte Wendy das sonderbare Gespür, dass er sich in einer anderen Welt befinde. Ihm war als sei er in einen Brunnen gesprungen und als würden plötzlich die Äpfel und die Brote zu ihm sprechen. Er hätte nicht genau sagen können, woran es lag, aber er war sich sicher, dass dies kein bloßes Feld war, sondern ein Gefilde. Weiter fahrend kam er schließlich zu einem großen Gebäude, das an einer schönen, ebenen Stelle der Hochfläche stand. Wie ein Herrenhaus sah der Bau nicht aus, eher wie ein stattlicher Zweckbau, einer Zehntscheuer ähnlich. Wendy hielt vor dem Holzbau und stieg aus dem Wagen. Da trat ein großer, wohlgebildeter Mann vor das Tor hinaus. Der dunkel Gekleidete glich treffend Leonhard Schmid, einem soliden und kompetenten Freund von ihm. Wendy war daran, ihn mit Vornamen zu begrüßen. Der große Mann blieb jedoch zurückhaltend. Er sah Wendy freundlich an, schien ihn aber nicht persönlich zu kennen. Wendy holte seine Trage vom Hintersitz des kleinen Wagens. Er schlüpfte in die Gurten und folgte dem Mann, von dem er vermutete, dass er der Verwalter war. Dieser öffnete die hölzerne Tür im großen Tor und ging ihm voran. Das Gebäude hatte keine Fenster, aber es drang genügend Licht durch die Ritzen zwischen den Brettern, so dass es im Innern hell war. Sie wandten sich nach rechts, wo auf einem Podest ein großer Behälter stand. Der Verwalter wies darauf. Wendy stieg die Stufen hoch. Als er vor dem Behälter stand, bückte er sich und leerte die Bütte seitlich an der Schulter vorbei in die große, runde Öffnung. Leider stand er etwas zu nah, so dass ein Teil des Inhalts über den Rand hinausschoss. Es war nicht viel, aber der Verlust ärgerte ihn. Hätte er die Trage vorsichtig an den vorderen Rand angesetzt, wäre nichts daneben gegangen. Aber etwas anderes beunruhigte ihn viel stärker. Das Ergebnis seiner Ernte erschien in diesem Behälter ein Nichts zu sein. Die dunkle Flüssigkeit bedeckte kaum den Boden. Zwischen dem dunklen Saft war sogar noch eine Stelle des leicht gewölbten Bodens trocken geblieben. Der Verwalter war zu ihm hochgestiegen und schaute in den Behälter. Erschrocken drehte sich Wendy ihm zu. Er erwartete Spott, wenn nicht sogar Schelte. Aber der große, ruhige Mann blieb stumm und veränderte auch nicht seine Mimik. Es schien nicht seine Aufgabe zu sein, die Ernte zu bewerten. Sein Job war wohl bloß, sie entgegen zu nehmen. Was sollte er auch sagen. Das Ergebnis war auch so deutlich genug.

Man schien ja in diesem Gefilde nicht viele Worte zu machen. Aber draußen vor der Tür konnte sich Wendy doch nicht verkneifen, die Frage, die ihn drängte, zu stellen.

„Man hat mir gesagt, hier sei das Gefilde des Herrn. Können Sie das bestätigen?“, fragte er in möglichst sachlichem Ton.

Der Verwalter bequemte sich jetzt doch zu einer Antwort. Nur, so richtig verstand Wendy seine Worte nicht.

Das mit dem Max-Re-Turm stellt ein Problem dar.“ Das war die Erwiderung, die Wendy erhielt.

Er schaute den Verwalter verdutzt an. Was ist ein Max-Re-Turm?, lag ihm auf der Zunge zu fragen. Aber er fürchtete, die Reaktion darauf könnte noch kryptischer ausfallen als die vorherige. Also nickte er bloß etwas zerstreut. Dann verstaute er die leere Bütte auf dem Rücksitz, grüßte und setzte sich in Astrids rundes Auto, startete den Motor und fuhr davon.



Er war noch nicht weit gelangt, als er mitten auf der Straße eine Person sah, die, wie sich bald herausstellte, einen Druckschlauch in Position brachte. Erst glaubte er, die Person sei im Begriff, die Straße zu überqueren, aber dem war nicht so. Als er näher kam, sah er eine fesche, junge Frau dort stehen. Sie hielt ein leichtes Rohrgestell, in dem ein Druckschlauch, wie ihn die Bauern zum Jauchen der Felder benutzen, steckte. Aber statt die Felder zu düngen, schoss jetzt der Strahl genau in die Richtung von der Wendy herkam. Ein beißender Gestank ging diesem voraus. Nach wenigen Metern würde ihn die braune Brühe treffen. Ist das die Quittung auf meine klägliche Ernte, fragte er sich entsetzt. Schnell riss er das Steuer nach rechts und fuhr parallel zur Straße durch die Wiese. Sie hielt den Strahl weiter auf die Straße gerichtet und ließ ihn passieren. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Geschichte eines Florentiners, der nach dem freudigen Besuch bei einer schönen Dirne in der Jauchegrube gelandet war. Da er nicht zahlen konnte, war ihm statt der vermeintlichen Außentür, ein Verschlag zur Grube geöffnet worden. Besonders nachdenklich stimmte Wendy, dass die am Schlauch stehende junge Frau die hübscheste Bäuerin war, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Um ein Haar wäre er von ihr mit Dung begossen worden. Erleichtert, dass er es geschafft hatte, unbesudelt vorbei zu kommen, lenkte er wieder auf die Straße zurück.

Im Weiterfahren, sah er linkerhand Kühe weiden. Es waren schöne Tiere, einfarbige, sowohl als gefleckte, mit glänzendem Fell, ganz im Gegensatz zu den Kühen der Fleischers. Zwischen ihnen stand aufrecht eine Hirtin. Er sah sie von hinten. Sie trug eine hellgraue Kapuzen-Jacke, mit einem – für eine Kuhhirtin - erstaunlich kurzen Rock darunter. Ob sie wohl auch so schön war wie ihre Schwester oder Mitarbeiterin am Druckschlauch? Ihre Beine waren nicht gerade grazil, aber keinesfalls dick, sondern durchaus attraktiv. Als sie sich umdrehte, erschrak er. Er glaubte die gleiche Bäuerin nochmal vor sich zu haben. Ihr Gesicht war diesmal mürrisch und der Blick so bohrend, dass er diesem nicht standhalten konnte. Sie musste die Zwillingsschwester der Frau am Druckschlauch sein, so sehr glichen sie sich. Beim Wegsehen fiel ihm noch auf, was für eine stattliche Oberweite sie hatte. Dass ihr dieser Hütejob nicht gefiel, war unverkennbar. Aber das ist doch nicht meine Schuld, dass sie hier auf dem Feld stehen muss, rechtfertigte er sich. Oder etwa doch? Hatte für sie vielleicht die Aussicht bestanden, vom Hüten der Rinder wegzukommen, wenn eine große Ernte angekommen wäre?

Seine Aufmerksamkeit wurde bald von etwas anderem abgelenkt. Unweit der Hirtin hielten zwei Bullen ihre Hörner ineinander verkeilt, prächtige, dunkelbraun glänzende Viecher. Sie kämpften gegeneinander, bewegten sich aber kaum. Die Spannung übertrug sich durch die Luft bis auf ihn. Schon die bloße Masse ihrer Leiber mutete erschreckend an. Der junge Stier rechts war anscheinend der Angreifer. Er war nur halb so lang wie der ältere Bulle, der die Vorherrschaft zu verteidigen schien. Dieser erweckte den Eindruck, als sei er unbesiegbar, so lang war er und so schwer. Der junge Stier wirkte aber dynamischer. Wendy sah, wie er kurz zurücksetzte und dann mit voller Wucht wieder den Kopf des Verteidigers rammte. Der Knall drang bis zum Wald hoch, von dort hallte das Echo zurück. Was das wohl zu bedeuten hatte, wenn in diesem Gefilde ein junger Stier mit einem alten die Kräfte maß? Noch schien ja keine Veränderung bevorzustehen. Aber der Große würde älter werden und irgendwann würde er dem Ansturm des Jungen nicht mehr standhalten können. In absehbarer Zeit stand also bei dieser Herde eine Ablösung bevor. Ob diese woanders einen Wandel mit sich bringen würde? Wendy konnte nur Mutmaßungen anstellen. Mit den möglichen Wechselwirkungen der Gefilde des Herrn zu andern Welten kannte er sich nicht aus. Er wusste von allerlei Gerüchten, widerstand aber der Versuchung, Mutmaßungen anzustellen. Ich habe keine Ahnung, sagte er am Steuer vor sich hin. Brauche ich auch nicht. Wichtiger ist, dass meine nächste Ernte etwas reicher ausfällt.

Er näherte sich dem Wald und nahm dabei Abschied von diesem sonderbaren Gefilde. Er wollte wiederkommen. Das nächste Mal hoffentlich schwerer beladen.



Auf den Parkplatz der Firma Haag einlenkend schaute sich Wendy nach Olafs Wagen um. Zwei Runden drehte er auf dem weitläufigen Parkplatz. Da waren viele Autos geparkt, auch große, aber keines glich dem Sechziger-Jahre-Schlitten von Olaf. Er hatte geglaubt sich verspätet zu haben, deshalb war er überrascht, dass Astrid noch nicht zurück war. Er parkte den kleinen Wagen und lehnte sich zurück. Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein? Für jemanden, der die Schnellstraßen nicht gewohnt war, bargen sie so manche Tücken. Aber er kannte Astrid als eine taffe, wendige Person. Er glaubte nicht, dass sie einen Fehler begang. Unruhig klopfte er auf das sichelförmige Lenkrad. Manchmal konnten einem andere in einen Schlamassel hineinziehen, ohne dass man etwas dagegen tun konnte, überlegte er unruhig. Wendy stieg aus und lehnte sich gegen den kleinen runden Wagen. Es kam ihm vor, als sei er vor drei Tagen von hier losgefahren, nicht erst vor drei Stunden. Das lag wohl daran, dass sich im Herrlisberger Gefilde die Uhr anders drehte. Er war für kurze Zeit in den Strom einer anderen Zeit eingetaucht und hatte prompt das Gefühl für die hiesige verloren. Ihm kam in den Sinn, was der Verwalter, der Leonhard Schmid so ähnlich sah, zu ihm gesagt hatte. ‘Der Max-Re-Turm stellt ein Problem dar‘. Was er wohl mit dem ‚Max-Re-Turm‘ gemeint hatte? Und was für Probleme dieser barg? Vielleicht wusste Astrid etwas davon. Sie kam ja viel herum. – Aber wo war sie nur? Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz.

Wendy schloss schnell den Wagen ab und hastete los. Auf der Straße lief er vom Ort weg in Richtung der Ausfahrt. Als er die Höhe der Ausfahrt erreichte, sah er Olafs Wagen unten, nur wenig höher als die Schnellstraße. Mit seiner Vermutung hatte er richtig gelegen. Astrid hatte nicht vermocht den schweren Wagen zu schieben. Wie auch, wenn er, der deutlich größer und kräftiger war, es kaum geschafft hatte. Er winkte ihr und sie winkte zurück. Unten angekommen, bat er sie, sich ans Steuer zu setzen und den Wagen zu starten. Er schob von hinten. Mit zwei Händen war das deutlich leichter als mit einer. Trotzdem war er wieder nass vor Anstrengung, als sie auf der oberen Straße ankamen.

„Und, wie war die Runde auf der Schnellstraße?“, fragte er Astrid, als sie auf dem Parkplatz standen.

„Nun, jetzt hab ich’s mal wieder gesehen. Diese Welt der Schnellstraßen, der Drive-In Gaststätten und Motels ist nicht mein Ding. Das reicht jetzt wieder für eine Weile.“

„Und du, deine Ernte abgeliefert?“

Wendy nickte zaghaft. Die Erinnerung des nicht vollständig bedeckten Bodens, wurde in ihm wach. Er nickte bedrückt. Da fiel ihm der Spruch des Verwalters ein.

Ob sie wisse, was ein Max-Re-Turm sei?, fragte er.

Astrid dachte nach. Da lange keine Antwort kam, vervollständigte er den Satz. ‘Der Max-Re-Turm stellt ein Problem dar‘, habe er genau gesagt.

Okay, ja, das stimme mit ihrer Vermutung überein, antwortete sie. Wenn die Leute die Gefilde des Herrn etwas näher sähen, würden sie diese wohl häufiger aufsuchen. Aber da sie sich unter dem Herrn gern den höchsten aller Herren vorstellten, am liebsten den Schöpfer aller Dinge, suchten sie gar nicht erst den Kontakt zu ihm.

Er werde darüber nachdenken, sagte Wendy und bedankte sich für ihre Hilfe. „Ohne dich, hätte ich jetzt wahrscheinlich noch nicht mal den Wald oben erreicht“, fügte er hinzu.

„Keine Ursache“, sagte sie und stieg in ihren kleinen Wagen.

Als Wendy über die Schnellstraße durchs Moor zurückglitt, war er nicht mehr so berauscht wie auf der Hinfahrt. Dass seine Ernte so verschwindend klein ausgefallen war, gärte in ihm. Aber insgesamt fühlte er sich mit der Fahrt nach Herrlisberg doch zufrieden. MLF

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