Als er vom Wald in die Herrlisberger Hochfläche hinausfuhr, hatte
Wendy das sonderbare Gespür, dass er sich in einer anderen Welt befinde. Ihm
war als sei er in einen Brunnen gesprungen und als würden plötzlich die Äpfel
und die Brote zu ihm sprechen. Er hätte nicht genau sagen können, woran es lag,
aber er war sich sicher, dass dies kein bloßes Feld war, sondern ein Gefilde. Weiter
fahrend kam er schließlich zu einem großen Gebäude, das an einer schönen,
ebenen Stelle der Hochfläche stand. Wie ein Herrenhaus sah der Bau nicht aus,
eher wie ein stattlicher Zweckbau, einer Zehntscheuer ähnlich. Wendy hielt vor
dem Holzbau und stieg aus dem Wagen. Da trat ein großer, wohlgebildeter Mann
vor das Tor hinaus. Der dunkel Gekleidete glich treffend Leonhard Schmid, einem
soliden und kompetenten Freund von ihm. Wendy war daran, ihn mit Vornamen zu
begrüßen. Der große Mann blieb jedoch zurückhaltend. Er sah Wendy freundlich
an, schien ihn aber nicht persönlich zu kennen. Wendy holte seine Trage vom
Hintersitz des kleinen Wagens. Er schlüpfte in die Gurten und folgte dem Mann,
von dem er vermutete, dass er der Verwalter war. Dieser öffnete die hölzerne
Tür im großen Tor und ging ihm voran. Das Gebäude hatte keine Fenster, aber es
drang genügend Licht durch die Ritzen zwischen den Brettern, so dass es im
Innern hell war. Sie wandten sich nach rechts, wo auf einem Podest ein großer
Behälter stand. Der Verwalter wies darauf. Wendy stieg die Stufen hoch. Als er
vor dem Behälter stand, bückte er sich und leerte die Bütte seitlich an der
Schulter vorbei in die große, runde Öffnung. Leider stand er etwas zu nah, so
dass ein Teil des Inhalts über den Rand hinausschoss. Es war nicht viel, aber
der Verlust ärgerte ihn. Hätte er die Trage vorsichtig an den vorderen Rand
angesetzt, wäre nichts daneben gegangen. Aber etwas anderes beunruhigte ihn
viel stärker. Das Ergebnis seiner Ernte erschien in diesem Behälter ein Nichts
zu sein. Die dunkle Flüssigkeit bedeckte kaum den Boden. Zwischen dem dunklen
Saft war sogar noch eine Stelle des leicht gewölbten Bodens trocken geblieben. Der
Verwalter war zu ihm hochgestiegen und schaute in den Behälter. Erschrocken
drehte sich Wendy ihm zu. Er erwartete Spott, wenn nicht sogar Schelte. Aber
der große, ruhige Mann blieb stumm und veränderte auch nicht seine Mimik. Es
schien nicht seine Aufgabe zu sein, die Ernte zu bewerten. Sein Job war wohl
bloß, sie entgegen zu nehmen. Was sollte er auch sagen. Das Ergebnis war auch
so deutlich genug.
Man schien ja in diesem Gefilde nicht viele Worte zu machen. Aber
draußen vor der Tür konnte sich Wendy doch nicht verkneifen, die Frage, die ihn
drängte, zu stellen.
„Man hat mir gesagt, hier sei das Gefilde des Herrn. Können Sie
das bestätigen?“, fragte er in möglichst sachlichem Ton.
Der Verwalter bequemte sich jetzt doch zu einer Antwort. Nur, so
richtig verstand Wendy seine Worte nicht.
„Das mit dem Max-Re-Turm
stellt ein Problem dar.“ Das war die Erwiderung, die Wendy erhielt.
Er schaute den Verwalter verdutzt an. Was ist ein Max-Re-Turm?, lag ihm auf der Zunge zu
fragen. Aber er fürchtete, die Reaktion darauf könnte noch kryptischer
ausfallen als die vorherige. Also nickte er bloß etwas zerstreut. Dann
verstaute er die leere Bütte auf dem Rücksitz, grüßte und setzte sich in Astrids
rundes Auto, startete den Motor und fuhr davon.
Er war noch nicht weit gelangt, als er mitten auf der Straße eine
Person sah, die, wie sich bald herausstellte, einen Druckschlauch in Position
brachte. Erst glaubte er, die Person sei im Begriff, die Straße zu überqueren,
aber dem war nicht so. Als er näher kam, sah er eine fesche, junge Frau dort
stehen. Sie hielt ein leichtes Rohrgestell, in dem ein Druckschlauch, wie ihn
die Bauern zum Jauchen der Felder benutzen, steckte. Aber statt die Felder zu
düngen, schoss jetzt der Strahl genau in die Richtung von der Wendy herkam. Ein
beißender Gestank ging diesem voraus. Nach wenigen Metern würde ihn die braune
Brühe treffen. Ist das die Quittung auf meine klägliche Ernte, fragte er sich
entsetzt. Schnell riss er das Steuer nach rechts und fuhr parallel zur Straße
durch die Wiese. Sie hielt den Strahl weiter auf die Straße gerichtet und ließ
ihn passieren. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Geschichte eines
Florentiners, der nach dem freudigen Besuch bei einer schönen Dirne in der
Jauchegrube gelandet war. Da er nicht zahlen konnte, war ihm statt der
vermeintlichen Außentür, ein Verschlag zur Grube geöffnet worden. Besonders
nachdenklich stimmte Wendy, dass die am Schlauch stehende junge Frau die
hübscheste Bäuerin war, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Um ein Haar wäre
er von ihr mit Dung begossen worden. Erleichtert, dass er es geschafft hatte,
unbesudelt vorbei zu kommen, lenkte er wieder auf die Straße zurück.
Im Weiterfahren, sah er linkerhand Kühe weiden. Es waren schöne
Tiere, einfarbige, sowohl als gefleckte, mit glänzendem Fell, ganz im Gegensatz
zu den Kühen der Fleischers. Zwischen ihnen stand aufrecht eine Hirtin. Er sah
sie von hinten. Sie trug eine hellgraue Kapuzen-Jacke, mit einem – für eine
Kuhhirtin - erstaunlich kurzen Rock darunter. Ob sie wohl auch so schön war wie
ihre Schwester oder Mitarbeiterin am Druckschlauch? Ihre Beine waren nicht
gerade grazil, aber keinesfalls dick, sondern durchaus attraktiv. Als sie sich
umdrehte, erschrak er. Er glaubte die gleiche Bäuerin nochmal vor sich zu
haben. Ihr Gesicht war diesmal mürrisch und der Blick so bohrend, dass er
diesem nicht standhalten konnte. Sie musste die Zwillingsschwester der Frau am
Druckschlauch sein, so sehr glichen sie sich. Beim Wegsehen fiel ihm noch auf,
was für eine stattliche Oberweite sie hatte. Dass ihr dieser Hütejob nicht
gefiel, war unverkennbar. Aber das ist doch nicht meine Schuld, dass sie hier
auf dem Feld stehen muss, rechtfertigte er sich. Oder etwa doch? Hatte für sie vielleicht
die Aussicht bestanden, vom Hüten der Rinder wegzukommen, wenn eine große Ernte
angekommen wäre?
Seine Aufmerksamkeit wurde bald von etwas anderem abgelenkt.
Unweit der Hirtin hielten zwei Bullen ihre Hörner ineinander verkeilt,
prächtige, dunkelbraun glänzende Viecher. Sie kämpften gegeneinander, bewegten
sich aber kaum. Die Spannung übertrug sich durch die Luft bis auf ihn. Schon
die bloße Masse ihrer Leiber mutete erschreckend an. Der junge Stier rechts war
anscheinend der Angreifer. Er war nur halb so lang wie der ältere Bulle, der
die Vorherrschaft zu verteidigen schien. Dieser erweckte den Eindruck, als sei
er unbesiegbar, so lang war er und so schwer. Der junge Stier wirkte aber dynamischer.
Wendy sah, wie er kurz zurücksetzte und dann mit voller Wucht wieder den Kopf
des Verteidigers rammte. Der Knall drang bis zum Wald hoch, von dort hallte das
Echo zurück. Was das wohl zu bedeuten hatte, wenn in diesem Gefilde ein junger
Stier mit einem alten die Kräfte maß? Noch schien ja keine Veränderung bevorzustehen.
Aber der Große würde älter werden und irgendwann würde er dem Ansturm des
Jungen nicht mehr standhalten können. In absehbarer Zeit stand also bei dieser
Herde eine Ablösung bevor. Ob diese woanders einen Wandel mit sich bringen würde?
Wendy konnte nur Mutmaßungen anstellen. Mit den möglichen Wechselwirkungen der
Gefilde des Herrn zu andern Welten kannte er sich nicht aus. Er wusste von
allerlei Gerüchten, widerstand aber der Versuchung, Mutmaßungen anzustellen.
Ich habe keine Ahnung, sagte er am Steuer vor sich hin. Brauche ich auch nicht.
Wichtiger ist, dass meine nächste Ernte etwas reicher ausfällt.
Er näherte sich dem Wald und nahm dabei Abschied von diesem
sonderbaren Gefilde. Er wollte wiederkommen. Das nächste Mal hoffentlich schwerer
beladen.
Auf den Parkplatz der Firma Haag einlenkend schaute sich Wendy
nach Olafs Wagen um. Zwei Runden drehte er auf dem weitläufigen Parkplatz. Da waren
viele Autos geparkt, auch große, aber keines glich dem
Sechziger-Jahre-Schlitten von Olaf. Er hatte geglaubt sich verspätet zu haben,
deshalb war er überrascht, dass Astrid noch nicht zurück war. Er parkte den
kleinen Wagen und lehnte sich zurück. Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein?
Für jemanden, der die Schnellstraßen nicht gewohnt war, bargen sie so manche
Tücken. Aber er kannte Astrid als eine taffe, wendige Person. Er glaubte nicht,
dass sie einen Fehler begang. Unruhig klopfte er auf das sichelförmige Lenkrad.
Manchmal konnten einem andere in einen Schlamassel hineinziehen, ohne dass man
etwas dagegen tun konnte, überlegte er unruhig. Wendy stieg aus und lehnte sich
gegen den kleinen runden Wagen. Es kam ihm vor, als sei er vor drei Tagen von
hier losgefahren, nicht erst vor drei Stunden. Das lag wohl daran, dass sich im
Herrlisberger Gefilde die Uhr anders drehte. Er war für kurze Zeit in den Strom
einer anderen Zeit eingetaucht und hatte prompt das Gefühl für die hiesige
verloren. Ihm kam in den Sinn, was der Verwalter, der Leonhard Schmid so
ähnlich sah, zu ihm gesagt hatte. ‘Der
Max-Re-Turm stellt ein Problem dar‘. Was er wohl mit dem ‚Max-Re-Turm‘ gemeint hatte? Und was für
Probleme dieser barg? Vielleicht wusste Astrid etwas davon. Sie kam ja viel
herum. – Aber wo war sie nur? Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz.
Wendy schloss schnell den Wagen ab und hastete los. Auf der
Straße lief er vom Ort weg in Richtung der Ausfahrt. Als er die Höhe der
Ausfahrt erreichte, sah er Olafs Wagen unten, nur wenig höher als die
Schnellstraße. Mit seiner Vermutung hatte er richtig gelegen. Astrid hatte
nicht vermocht den schweren Wagen zu schieben. Wie auch, wenn er, der deutlich
größer und kräftiger war, es kaum geschafft hatte. Er winkte ihr und sie winkte
zurück. Unten angekommen, bat er sie, sich ans Steuer zu setzen und den Wagen
zu starten. Er schob von hinten. Mit zwei Händen war das deutlich leichter als
mit einer. Trotzdem war er wieder nass vor Anstrengung, als sie auf der oberen
Straße ankamen.
„Und, wie war die Runde auf der Schnellstraße?“, fragte er
Astrid, als sie auf dem Parkplatz standen.
„Nun, jetzt hab ich’s mal wieder gesehen. Diese Welt der
Schnellstraßen, der Drive-In Gaststätten und Motels ist nicht mein Ding. Das
reicht jetzt wieder für eine Weile.“
„Und du, deine Ernte abgeliefert?“
Wendy nickte zaghaft. Die Erinnerung des nicht vollständig
bedeckten Bodens, wurde in ihm wach. Er nickte bedrückt. Da fiel ihm der Spruch
des Verwalters ein.
Ob sie wisse, was ein Max-Re-Turm
sei?, fragte er.
Astrid dachte nach. Da lange keine Antwort kam, vervollständigte
er den Satz. ‘Der Max-Re-Turm stellt ein
Problem dar‘, habe er genau gesagt.
Okay, ja, das stimme mit ihrer Vermutung überein, antwortete sie.
Wenn die Leute die Gefilde des Herrn etwas näher sähen, würden sie diese wohl
häufiger aufsuchen. Aber da sie sich unter dem Herrn gern den höchsten aller
Herren vorstellten, am liebsten den Schöpfer aller Dinge, suchten sie gar nicht
erst den Kontakt zu ihm.
Er werde darüber nachdenken, sagte Wendy und bedankte sich für
ihre Hilfe. „Ohne dich, hätte ich jetzt wahrscheinlich noch nicht mal den Wald
oben erreicht“, fügte er hinzu.
„Keine Ursache“, sagte sie und stieg in ihren kleinen Wagen.
Als Wendy über die Schnellstraße durchs Moor zurückglitt, war er
nicht mehr so berauscht wie auf der Hinfahrt. Dass seine Ernte so verschwindend
klein ausgefallen war, gärte in ihm. Aber insgesamt fühlte er sich mit der
Fahrt nach Herrlisberg doch zufrieden. MLF
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen