Mittwoch, 27. Februar 2013

148 Ein Bienenkorb als Schnittstelle



Wie Tonke versuchte, den Nachfolgern seine Schnittstelle zu empfehlen und dabei den Klabautermann entdeckte.



Er kehrte in den separaten Schulraum zurück, in welchem er damals eine Laubhütte mit Leiter errichtet und über eine spezielle Leitung eine Verbindung mit der anderen Seite geschaffen hatte. Den Raum erreichte er leichter als erwartet. Auf unerklärliche Weise war die Astoria-Schule in den Garten des Heimhauses integriert. Home wurde immer mehr zu einer Zauberschachtel, in der weitere Schachteln steckten. Der Horst im Raum drin, der wie eine Baumhütte unter die Decke gebaut war, stand noch da. Obwohl äußerst provisorisch aufgestellt, war sie unversehrt geblieben. In eben diesem Schulraum hatten sich an einem langen Tisch der Fensterfront entlang junge Tüftler eingerichtet und gingen ihrerseits wichtigen Entdeckungen nach. Das sind wohl meine Nachfolger, sagte sich Tonke.

Schon als er den Raum betrat, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass irgendetwas mit seiner Einrichtung nicht stimmte. Er kletterte die wackeligen Sprossen zum Horst hoch, setzte sich auf die Jägerbank und hielt sich das Ende der Leitung ans Ohr. Tatsächlich, die Verbindung war unterbrochen. Etwas war faul, aber was? Er öffnete den Verschluss des Kabelendes, etwa ein Dutzend feine Drähte fielen ihm entgegen. Sie befanden sich in tadellosem Zustand. Daran konnte es also nicht liegen. Er bündelte die Drahtenden und schraubte den sensiblen Deckel wieder drauf. Was konnte sonst die Ursache sein? Es musste an der Leitung liegen. Irgendwo musste sie unterbrochen sein. Er stieg die Sprossen hinab.

Von unten verfolgte er das Kabel. Es lief an der Decke entlang und verließ das Gebäude über dem Schrank an der Südwand. Auf der ganzen Länge war nichts Störendes zu erkennen. Also ging er nach draußen.

Statt den Ausgang durch die Südwand und den Verlauf durch den Garten zu prüfen, zog es ihn direkt zur jenseitigen Wiese. Diese lag, dem Heimhaus und der Schule gegenüber, auf der anderen Seite der Straße. Schon auf halbem Weg sah er, dass die Leitung sich in der Wiese wand. Das hatte es früher nicht gegeben. Tonke begab sich in die Wiese und suchte nach dem passenden Ende der Leitung. Jemand musste sie dahin geschleppt haben. Womöglich war dies sogar unbeabsichtigt geschehen. Der Betreffende konnte mit dem Fuß daran hängen geblieben sein und sie mit sich gezogen haben. Tonke fand das Ende, ergriff es und lief damit zurück. Er zog das Kabel durch den Garten bis zur Wand des Schulraumes und steckte es in die Öffnung. Damit setzte er die Verbindung zwischen der jenseitigen Wiese und dem Schulraum wieder in Stand.



Da er gerade die Leitung in Ordnung brachte, wünschte er, die jungen Forscher, die im gleichen Raum arbeiteten, würden seine Einrichtung kennen lernen. Letztlich wollte er ihnen anbieten, diese auch zu nutzen.

Mit einem gewissen Wohlwollen ließen sie sich von ihrer eigenen, natürlich viel wichtigeren Arbeit ablenken. Genau betrachtet, war er für sie ein alter Kauz. Aber sie zeigten doch Respekt vor ihm. Er galt noch immer als Pionier.

Was er ihnen zeigen wollte, war die Schnittstelle an der Südwand über dem Schrank. Ein großer, schlaksiger Kerl, mit kurzen, widerspenstigen Haaren, stellte sich als Hardy vor. Er nahm sich die Zeit und kam näher. Er und Tonke stiegen auf eine Leiter zur linken Seite des Schrankes hoch. Direkt vor der Wand lief das dicke, weiße Kabel in einen weißen, gewölbten Kegel.

„Meine gebündelten Drähte laufen hier rein“, erklärte Tonke. „Ich nenne es den Bienenkorb. Hier drin treffen sich die beiden Leitungen – ohne dass sich die Drähte berühren.“

Der trichterförmige ‚Korb‘ war durchlöchert wie ein grobporiges Sieb. Von der Konsistenz her erinnerte er an die weißen, knochigen Fundstücke an den Küsten, von denen es heißt, dass sie von Seesternen stammen.



Er bemerkte, wie Hardy nach rechts starrte. Auf der anderen Seite duckte sich, zwischen Schrank und Decke, ein finsteres Wesen. Es war halb verdeckt von allerlei Materialien, die es als Nest um sich angehäuft hatte. Tonke hätte es gar nicht beachtet, wenn nicht der junge Hardy angewidert darauf gewiesen hätte und in verächtlichem Ton gezerft hätte.

Dieses Alte hier, das wollen wir aber weghaben.“

Er sprach gar nicht von dem Wesen als Einzelnem, sondern zeigte auf dieses mitsamt dem Zeug, in das es sich eingenistet hatte.

Tonke sah die Figur genauer an. Für ihn war es ein normaler Zwerg, nur kleiner und dicker, mit dichtem schwarzen Haar und diesem typischen Ausdruck der Zurückhaltung einerseits und dem Stolz andererseits. Auch wenn ich nicht bin wie ihr, so habe ich doch eine Lebensberechtigung, drückte seine Miene aus. Zwischen Schrank und Decke blieb nur wenig Platz, entsprechend war der Zwerg zwei, höchstens drei Spannen hoch, dafür aber mindestens doppelt so breit. Eben ganz an die Umgebung angepasst. Tonke fühlte sich für einen Moment in das sonderbare Hotel aus dem Film ‚Das Schweigen‘ eines Schweden versetzt. Dem Jungen im Film folgend war er von den zwergenhaften Figuren befremdet gewesen, die unverständliche Laute von sich gaben. Für einen Augenblick überkam ihn die gleiche beklemmende Stimmung. Diese hielt aber nur kurz an. Er hatte sich daran gewöhnt, dass er vieles nicht verstehen konnte, was sich ihm zeigte.

Um aber vor den jungen, coolen Tüftlern nicht durchzufallen, griff er das nächst fassbare Werkzeug, das ihm in die Hand kam, ein Pfannenschaber mit metallener Fläche. Diesen ließ er dem Zwergenwesen auf die nackte Haut klatschen. Gleichzeitig bot er Hardy an.

„Wenn einer von euch in meiner Abwesenheit in die Baumhütte einziehen und die Leitung ausprobieren will, dann darf er das gerne tun.“ Begleitend dazu schlug er weiter auf den Zwerg ein. „Ich möchte sogar ausdrücklich dazu einladen, dass man sie nutzt.“ Doch mit jedem Schlag, den er dem Zwerg zufügte, verstimmte sich seine Sprache stärker. Schließlich konnte er sich kaum noch verständlich ausdrücken. Er musste schweigen, damit er vor den Jungen nicht als Stammler durchfiel.



Nachträglich fragte sich Tonke doch, was das wohl für eine Gestalt sei, die ihm da störend dazwischen gekommen war. Hardy hatte wirklich Interesse an seiner Leitung gezeigt und hätte sich wohl auf die ungewöhnliche Schnittstelle, den Bienenkorb, eingelassen, hätte nicht der Zwerg ihn in Rage gebracht. Tonke brauchte nicht lange zu forschen. Es war klar, es konnte sich nur um einen Klabautermann handeln. – Ja, was war ein Klabautermann überhaupt? – Er musste das Lexikon bemühen.

‚Der Klabautermann ist ein Kobold, der dem Schiff den Untergang anzeigt‘.

Als er das las, musste er sich erst mal setzen. Zwar ahnte er, dass seine Stunde näher rückte. Aber dass sie nun bald bevorstand, überraschte ihn doch. Daher auch die zunehmende Verwandlung des Home. Bald würde das Haus wie ein großes Schiff versinken und ihn als Passagier mit in die Tiefe ziehen.

Angesichts einer solchen Veränderung wollte er es doch noch mal wagen, mit den jungen Forschern ins Gespräch zu kommen. Er musste ein letztes Mal versuchen, ihnen seine Leitung nahe zu legen.

„Eine Bienenkorb-Schnittstelle kann man wissenschaftlich nicht fassen“, sagte er eindringlich. „Deshalb rate ich euch, gebt Acht auf meine Leitung. Sorgt dafür, dass sie intakt bleibt. Die beiden Kabel müssen im Bienenkorb zusammenlaufen. Das von hier drin und das von der jenseitigen Wiese.“

Weder schlugen sie ihm die Bitte ab, noch schienen sie seine Worte besonders wichtig zu nehmen. Er spürte, wie sie ungeduldig wurden und es sie zu ihrer Arbeit zurückzog. Als er den Raum verließ, waren die jungen Tüftler wieder ganz in ihre eigene Arbeit an der Fensterfront vertieft. Tief unglücklich ging er davon, weil es ihm nicht gelungen war, die jungen Leute für seine Leitung zu begeistern. MLF

Montag, 18. Februar 2013

146 VW-Bus als Gussteil


Als Tonke endlich eine eigene Wohnung hat, überrumpelt ihn die Mentorin mit einer Präsentation der sozialen Partei.

Kaum war das Geld auf seinem Konto bei der Kreissparkasse eingetroffen, da begab sich Tonke auf Wohnungssuche. Endlich würde er seine eigenen Räume haben. Über Jahre hatte er bei seiner Schwester und bei Freunden gelebt. Jetzt konnte er es kaum noch erwarten, sich in den eigenen vier Wänden einzurichten.
Nachdem er schon einige Apartments angeschaut hatte, die ihm entweder zu klein, zu teuer oder zu schattig erschienen waren, stand er nun in einer Wohnung im zweiten Obergeschoss, die ihm auf Anhieb gefiel. Sie war großzügig, hell und vom Preis her moderat. Eine Glaswand mit Tür zum Balkon begrenzte den Wohnraum nach Westen hin. Die Südseite hatte zwei und die Nordseite ein Fenster. Der Boden bestand aus einem Parkett von robusten Eichenstäbchen und die Küche war in den Wohnraum integriert. Tonke stand vor der Küchenzeile und fing an zu überlegen, wie er auf dem Brett darüber das Geschirr anordnen würde. Dabei sah er schon die Stapel von eierschalenfarbenen IKEA-Tassen darauf.
Er stellte sich in die Mitte des großen Wohnraums und rief laut. „Das ist meine Wohnung, die nehme ich!“
Da fiel ihm die Mentorin ein. Sie hatte irgendwie abwehrend reagiert, als er ihr von seiner Wohnungssuche berichtet hatte. Sie weiß wohl nicht, wie das ist, wenn man jahrelang irgendwo unterkommen muss und über längere Zeit bei anderen haust. Wenn sie das schon erfahren hätte, dann würde sie mich bestimmt verstehen, sagte er sich.
Nun, da er sich entschieden hatte, verspürte er aber doch das Bedürfnis, ihr die Wohnung zu zeigen. Wenn sie das Appartement sah und den Preis erführe, würde sie ihm bestimmt dazu gratulieren. Er wählte ihre Nummer.
„Hallo Lula. Ich bin’s“, meldete er sich
„Wo steckst du?“, fragte sie, wie ihm schien mit einer gewissen Ungeduld.
„Ich habe eine tolle Wohnung gefunden.“
… - Keine Antwort von ihr.
„Willst du sie nicht anschauen?“
„Doch, wo liegt sie?“, fragte sie knapp.
„In der …“
„Gut, ich komme vorbei“, sagte sie und legte auf.
Tonke ging noch ins Schlafzimmer. Es war breit genug für ein Doppelbett und daneben war noch Platz für einen Schrank. Den müsste er allerdings erst anschaffen. Er stellte sich einen schönen, modernen vor mit Ausziehschubladen für die Wäsche. Zurück im Wohnzimmer musterte er die Wände. Mit den vielen Fenstern war es nicht leicht, genug Regalfläche aufzustellen für all die Bücher, die er da und dort angesammelt hatte und die er endlich vereinigen wollte. Das lange Regal, das er in einem Lagerraum abgestellt hatte, würde er wohl aufteilen müssen. Als Nächstes betrachtete er die neue Stube auf die Möbel hin. Alles würde er nicht neu kaufen können. Das eine oder andere konnte er bestimmt aus Altbeständen seiner Freunde bekommen. Aber ein moderner, bequemer Lehnstuhl musste her. Er sah sich schon in einem schicken Designerstuhl halb sitzend, halb liegend und fühlte sich endlich zu Hause.

Eine Viertelstunde bloß war vergangen, da kam Lula durch die offene Tür vom Flur her. Es war ihm, als hätte sie zuhause auf seinen Anruf gewartet. Wie sonst konnte sie so schnell bei ihm sein.
„Und, wie gefällt sie dir?“, fragte Tonke voller Stolz und drehte sich, die Arme ausgebreitet, langsam um sich selbst.
Lula hatte ein Laptop dabei. Statt nach der Wohnung zu schauen, stellte sie den portablen Computer in die Mitte der Stube auf den Boden und klappte ihn auf. Sie drückte auf den Knopf, das System fuhr hoch. Sie setzte sich selber in zwei Meter Abstand von dem Gerät hin und lud Tonke ein, daneben Platz zu nehmen.
Hat sie vielleicht auch eine Wohnung gefunden?, fragte er sich und setzte sich zögernd auf den harten Boden. Als er saß, zog die Mentorin aus ihrer weiten Jacke eine kleine Fernsteuerung und startete damit eine Präsentation.
Das erste Bild zeigte groß: 
Nanu, was soll das hier?, dachte Tonke, eine Werbung der sozialen Partei? Als nächstes Bild wurde das Immobilien-Logo der Kreissparkasse gezeigt. Ein Modellhaus aus vielen Bestandteilen in Form eines magischen Drehwürfels.   
In der nächsten Einstellung erwies sich der magische Würfel als Gussform. Das Haus lag in der Mitte aufgebrochen da. In der rechten Hälfte der Negativ-Form steckte ein großes Auto, ein VW-Bus. Dann wurde dieser VW-Bus einzeln gezeigt. Jetzt erst wurde Tonke die Dimension der Gussform und ihres Inhalts bewusst. Es handelte sich um einen Wagen in voller Größe. Ein top-neues Fahrzeug, tailliert, mit dunkler Färbung in Blau und Braun. Wie frisch aus dem Ei gepellt stand der Wagen da, wenn auch noch unfertig. In der Fortsetzung wurden die verschiedenen Schritte der Vervollständigung des Fahrzeuges gezeigt. Die Oberfläche erhielt ihren Schliff. Dann wurden die beiden noch dumpfen Farben mit einem Metallic-Lack überzogen. Er sah immer nur das Ergebnis. Als nächstes wurden die Scheiben eingesetzt und dann die Schlösser und die Griffe. Die Räder folgten, mit Reifen von Continental und glänzenden Reifendeckeln. Nun kamen die Lichter dran, erst vorne, dann am Heck. Es folgten weitere Abdeckungen und Blenden. Bei den Bildern danach konnte er außen keine Veränderung mehr sehen. Anscheinend wurde die Innenausstattung vervollständigt. Vage konnte er durch die Scheiben erkennen, dass im hinteren Bereich eine Campingausrüstung mit allem Schnickschnack eingesetzt wurde. Ohne Zweifel wurde der VW-Bus zu einem Wohnbus ausgebaut. Da, plötzlich dämmerte ihm, was der Grund zu dieser Vorführung war. Er sah zu Lula hinüber. Sie drückte auf den Pause-Knopf, drehte sich zu ihm und hielt seinem Blick stand.
„Meinst du? Findest du?“, stammelte er, die richtigen Worte nicht findend.
„Ja, doch“, sagte sie nur.
„Unterwegs sein? Keine feste Wohnung?“, brach es aus ihm heraus. Er drehte sich um und schaute in die Wohnung. Er sah die weiten Räume, die vielen Fenster, den verschwenderischen Platz. Würde er auf all das verzichten müssen? Eine starke Wehmut überkam ihn. Aber es regte sich in ihm auch ein Drang, unterwegs sein, unabhängig werden, viele Kontakte knüpfen.
Sie wartete, bis er in Gedanken zurück war. Dann drückte sie auf ‚weiter‘. Noch zwei oder drei Bilder folgten. Am Schluss stand der VW-Bus glänzend da, fix und fertig. Das Einzige, was Tonke nicht gefiel, waren die Farben. Das Blau und das Braun passten nicht recht zusammen. Und außerdem fand er den Wagen zu dunkel. Aber ansonsten war das gewiss ein Top-Fahrzeug. Fast so etwas wie Abenteuerlust überkam ihn. Am Schluss folgte nochmal bildschirmfüllend:

Montag, 11. Februar 2013

145 Brennstäbe in der Schlucht



Wie Tonke in einem Geländeeinschnitt auf ein nukleares Werk stieß und darin die Schlucht von Tsivo erkannte.



In einem Viertel am Hang über Gerlingen stießen er und sein Freund Affentaler auf eine Straßensperre. Komisch, dachte Tonke, ich fahre diese Straße doch recht oft, aber ich habe hier noch nie eine Sperre erlebt. Er sah auch keinen Grund, warum man die Straße nicht fahren sollte. Außer dass die Anwohner da und dort Messer und kleine Schaufeln in den weichen Asphalt gesteckt hatten, sprach nichts gegen die Weiterfahrt. Er gab seinem Freund ein Zeichen, dass er zufahren solle. Da traten die Anwohner zurück und ließen sie ohne weiteren Einwand passieren. Wie sie aus dem Ort herauskamen, schien ihm doch, dass die Wegführung eine andere sei. Der Weg führte gradlinig den Hang hoch und war frisch geschottert, also noch nicht asphaltiert. Da Affentaler vorausfuhr, folgte er ihm. Sie hatten gerade die Kuppe überschritten und fuhren auf den großen Wald zu, der sich zwischen Leonberg und Vaihingen erschreckt, als sich ein jäher Einschnitt in der Landschaft zeigte. Dieses tiefe Loch mochte natürlichen Ursprungs sein, konnte aber auch von einer Erzgrube herstammen. Das Gelände war eingezäunt. Besuchern jedoch war der Zutritt erlaubt. Auf der Tafel über dem Eingangsgebäude stand zu lesen.



Nukleares Werk

Besichtigung von .. bis ..



Dieser Taleinschnitt wurde also von Physikern genutzt. Ein nukleares Werk, das zugänglich war. Das schien großes Interesse zu erregen. Auf dem Abhang wimmelte es von Menschen. Sein Freund war bereits ausgestiegen und winkte ihm zu. Es war klar, dass Affentaler als Physiklehrer, sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen ließ.

Tonke blieb im Auto sitzen. Er hatte keine Lust, sich in diesen Rummel zu stürzen. Aber dann überkam ihm das seltsame Gefühl, dass er diese Schlucht und die plane Fläche dort unten schon mal gesehen habe. Er wusste nicht wann, aber ein vages Gefühl von Bekanntheit war nicht wegzuweisen. Das gab ihm den Anstoß, sich aufzuraffen. Affentaler stand schon unten in einer Gruppe, die von einer Führerin in hellgrünem Overall geleitet wurde. Tonke sah, wie sie einen der  Glasschränke öffnete und dazu gestikulierte. Anscheinend war das der Kern dieses Werks.

Wenn ich schon hier bin, dann kann ich doch einen Blick drauf werfen, sagte er sich und stieg nun doch aus. Der Himmel war bedeckt. Ein gleichmäßiges, quecksilbriges Grau überzog die Landschaft. Und es war ziemlich schwül.



Im Eingangsbereich mussten die Schule abgelegt werden. Es lag noch genau ein Paar Socken da. Dunkelgraue Wollsocken waren es und das bei dieser Schwüle. Aber sie passten ihm wie angegossen. Wie viel Publikum so ein Werk anzog, das fand er schon erstaunlich. Im Grunde musste man es ja für problematisch halten, wenn nicht gar für gefährlich. Da sich die Besucher auf den Wegen drängten, nahm Tonke eine Abkürzung und kletterte die gesinterten Terrassen des Abhangs hinunter. Anscheinend handelte es sich doch um einen natürlichen Einschnitt, denn die hell- bis graubraunen Kalkpolster waren bestimmt Jahrmillionen alt. Am Fuß des Hangs landete Tonke auf der Umfassung von langen, rechteckigen Wasserbecken, die die eine Seite der Grasfläche begrenzten. Gegenüber standen die Glasschränke, die die Führerin den Besuchern gezeigt hatte. Im Wasser schwammen kleine schwarze Schildkröten. Die eine oder andere von ihnen schaffte es aus dem Becken heraus nach unten in die Fläche.

Als Tonke unten ankam, war die Grasfläche leer. Die Führung, an der Rolf teilgenommen hatte, war vorbei. Die restlichen Besucher hielten sich alle am Hang auf. Niemand außer ihm war da und zwei kleinen Schildkröten, die im Gras verschwanden. Er ging hinüber zu den großen Schränken, die die Essenz des für das Publikum zugänglichen Teils der Schlucht auszumachen schienen. Die Kästen standen auf einem Podest von gleicher Höhe wie drüben die Wasserbecken und die Glastüren waren mit Jalousien abgedeckt. Ohne Zögern machte Tonke in seinen grauen Socken einen großen Schritt auf das Podest und schob eine der Türen auf. Vor ihm lehnten ein paar Aluminium-Leitern gegen etwas, das dahinter stand. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er in einem großen Kübel etwa ein Dutzend Stäbe, gegen die Wand gelehnt, an die drei Meter hoch. Das graue Hüllmaterial und die aufwändigen Endkappen legten die Vermutung nahe, dass es sich um Brennstäbe eines Kernreaktors handelte. Ihm wurde unheimlich zu Mute. Gleichzeitig wollte er aber noch etwas näher heran, um zu sehen, ob es sich bei den Brennelementen, um die eines Siedewasser- oder Druckreaktors handelte. Doch dabei geriet eine der Leitern ins Rutschen. Was bist du doch für ein Schussel, schimpfte er mit sich selber. Es gelang ihm die Leiter zu stabilisieren. Schuldbewusst sprang er nach unten und zog die Türe zu. Zu seiner Entlastung sagte er sich, was ist meine Schusseligkeit im Vergleich zu diesen Technikern, die diese hochgefährlichen Stäbe in einem offenen Schrank zur Schau zu stellen. Als er sich entfernen wollte, kam eine dralle, aber hübsche Physikerin in lindgrüner Werkskleidung auf ihn zu und zischte ihn an.

„Was ist das für eine Art sich hier aufzuführen! Können Sie nicht lesen?“

Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf jeder Tür ein Verbotsschild draufstand. Anscheinend hatte sie ihn von gegenüber beobachtet und hatte mitgekriegt, was ihm zugestoßen war.

„Ich bin zufällig hier vorbeigefahren“, versuchte er sich rauszureden. „Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie hier Brennstäbe aufbewahren.“

„Ah so und dass das ein nukleares Werk ist, haben Sie auch nicht gewusst?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Das Schild über dem Eingang haben sie wohl auch nicht gelesen?“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Tonke, „ich war mir der Gefahr nicht bewusst.“

Die Technikerin öffnete die Tür, stieg hoch und schaute nach den Stäben. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Da machte sich Tonke davon. Er verzichtete auf eine weitere Erkundung des Werks und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Als er zu den Wasserbecken kam, und in das kühle Nass blickte, wurde ihm nun klar, wozu dieses diente. Das waren die Abklingbecken, in denen die Stäbe gelegen hatten, solange die Nachzerfallswärme angehalten hatte. Die kleinen, schwarzen Schildkörten erschienen ihm wie Wächter über diesen wichtigen Prozess. Vom Becken aus kletterte er über die Kalkterrassen nach oben.



Zum Rand des Einschnitts zurückgekehrt, warf er nochmal einen Blick in die Schlucht hinab und auf den grünen Grund. Da wurde in ihm die Erinnerung wach. Die Schlucht von Tsivo [108] fiel ihm ein, auf die er damals mit seinem unglücklichen Mitbewohner gestoßen war. Ein Junge hatte sie begleitet. Die Schlucht war leer gewesen. Er hatte darin den schauerlichen Nachhall der Geschütze des letzten Krieges gehört. Überraschend war, dass jetzt Physiker darin wirkten. Ihre Arbeit beschwor neue Gefahren herauf. Aber durch das Abklingen der Brennstäbe schien ihm doch, dass sich eine Mäßigung in dieser Schlucht vollzogen hatte. MLF

Montag, 4. Februar 2013

144 Verkehrsmuseum – Gespann mit Segeln


Auf der Suche nach seinem Auto traf Tonke beim Verkehrsmuseum auf einen Mann, der im Auftrag des Vaters erforschte, was seine Kinder machen.

Tonke hatte sich vorgenommen, die beiden Parteien, mit denen er in seinem Wohnviertel befreundet war, ein Künstlerpaar, Mann und Frau und einen jungen, homben Mann mit nach Home zu nehmen. Er hatte seit langem versprochen, ihnen zu zeigen, wo er herstammte. Erst nach und nach war ihm die Bedeutung von Home als dem Ursprung seines Koordinatensystems bewusst geworden. All sein Handeln stand im Bezug darauf. Deshalb wollte er sie dorthin fahren. Aber die Suche seines Autos führte ihn auf eine unerwartete Odyssee.
Tonke befand sich am Bahnhof in der Reußstadt. Er war einige Zeit verreist gewesen. Auf dem Heimweg hatte er sich entschlossen, seinen Vorsatz, dem Paar und dem jungen Mann Home zu zeigen, jetzt in die Tat umzusetzen. Er hatte sie angerufen und ihnen gesagt.
„Ich muss nur ans Auto kommen, dann hol ich euch ab.“ Das hatte er versprochen.
Wie er jetzt am Bahnhof stand, an der Stelle, wo der See in die Reuß mündete, vermutete er, dass sich sein Auto beim Schwanenplatz befand. Er überquerte die Brücke, kam zum besagten Platz und überlegte: Wo könnte ich es abgestellt haben. Er suchte sein Auto immer so, dass er an einen Ort ging, den er sich gemerkt hatte und kurze Zeit drauf stand er bei seinem Wagen. Aber dieses Mal stellte sich keine Erinnerung ein. Das verunsicherte ihn so sehr, dass er ganz außer sich geriet. Als er eine Bekannte traf, klagte er ihr sein Missgeschick.
„Ich finde mein Auto nicht. Ich weiß nicht, wo ich es abgestellt habe.“
Sie beruhigte ihn. „Das ist doch nicht so schlimm, lass uns Kaffee trinken und plaudern, dann wird dir schon wieder einfallen, wo dein Auto steht.“
Tonke war aber zu unruhig, um sich auf dieses Angebot einzulassen. Jahrelang hatte er sich von Frauen ablenken lassen, solange bis er Gewissheit erlangt hatte, dass eine hombe Beziehung für ihn das Richtige war. Diesen Fehler wollte er nicht wiederholen. Also entschuldigte er sich und ging weiter.
Ein zweites Mal und noch ein drittes Mal traf er auf eine Frau, die eine blond, die andere brünett und jede hätte gerne mit ihm Kaffee getrunken und geplaudert. Er erklärte aber, dass er seinen Wagen suche und ließ sie enttäuscht zurück.
Er lief einfach weiter, irgendwann musste er ja auf sein Auto stoßen. Stadtauswärts ging er durch die Halde dem See entlang. Dort am Boule-Platz traf er auf seinen Kumpel, Andrin. Auch der hatte Programm für ihn. Die Clique lud Tonke zum Mitspielen ein. Anschließend sollte er mit ihnen in die Gaststätte in der Grabenstraße gehen. Er schaute eine Weile zu, dann entschuldigte er sich. „Tut mir leid, ich muss weiter. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo mein Wagen steckt.“
Ungern ließen sie ihn ziehen.

Er vermutete, dass er seinen Wagen beim Verkehrsmuseum abgestellt hatte.
Als er dort ankam, sah er, dass das Verkehrsmuseum im Umbau begriffen war. Das Gelände war offen zugänglich, aber es herrschte eine große Unordnung. Quadersteine und liegende Säulen lagen zerstreut wie in einem Ruinenfeld. Ein Mann saß auf einem der Brocken. Ihn wollte er nach seinem Wagen fragen. Der war aber vornübergebeugt so ins Grübeln vertieft, dass er von Tonke keine Notiz nahm. Der desolate Zustand des Museums schien ihn in einen lähmenden Trübsinn gestürzt zu haben. Eine schmale Pergola überspannte einen Teil des Geländes. Da der Boden von Gegenständen überstellt war, nutzte Tonke die Leitersprossen der Pergola und überquerte ihn, indem er sich von Sprosse zu Sprosse hangelte. Aber an einer Stelle war die Pergola unterbrochen. Noch hängend sah er sich um.
Da entdeckte er, dass an das Gelände ein langgestreckter Tunnelraum anschloss, der durch ein Gitter versperrt war. Dahinter waren Autos geparkt. Da vermutete er, dass er seinen Wagen dort drüben finden würde. Er schaute nochmal auf den lang gespannten Tunnel, der Form nach der Unterseite einer Brücke gleichend und sah, dass der Durchgang komplett mit Gittern verriegelt war. Er verinnerlichte sich dieses Bild und sprang hinunter.
Tonke überquerte auf einem gewundenen Weg den untertunnelten Hügel und näherte sich nun dem Platz dahinter. Ihm fiel sofort auf, dass sich hier eine bestimmte Art von Menschen aufhielt. An ihren besonderen Frisuren und Kleidern waren sie als Hombe zu erkennen. Manche stachen besonders heraus. Er vermutete, dass es sich um Transvestiten handelte. Tonke hatte einen Aktionstag getroffen, an dem man mit Kundgebungen und Vorführungen die Forderung unterstrich, dass Hombe in den gesellschaftlichen Kanon aufgenommen wurden. Laut und fröhlich ging es zu, wenn auch nicht so ausgefallen wie bei einem Christopher Street Day oder auf einer Love Parade.
Unter den geparkten Wagen fand Tonke sein Auto. Das stimmte ihn glücklich und er wollte auch etwas zu dieser Veranstaltung beitragen. Er öffnete den Kofferraum und holte die Geschenke hervor, die er für besondere Momente dabei hatte. Das eine waren Handschmeichler aus dunklem Holz. Sie hatten in der Mitte ein ‚Auge‘, eine Vertiefung, in die er etwas Karamell oder Schokopudding gestrichen hatte. Das Interesse hielt sich in Grenzen. Das mochte auch daran liegen, dass er sie nicht sorgfältig genug geschliffen hatte. Wodurch sie für Handschmeichler zu rau waren. Da ging er nochmal zum Auto und holte aus einer Schachtel schön verzierte Stockbetten, von der Größe von Puppenbetten. Die fanden im Gegensatz zu den Handschmeichlern großen Anklang. Im Nu war das Dutzend, das er dabei hatte, verteilt.
Eine Performance wurde angekündigt, mit der ein Künstler für die Aufnahme der Homben in den Kanon der Gesellschaft warb. Die Aktion fand am Ufer zwischen Verkehrsmuseum und dem Lido statt. Er führte ein Gespann von dreiecksförmigen Schlitten oder Wagen. Über jeden von ihnen war oben ein sichelmondförmiges Segel gewölbt.[1] Mit Schnüren lenkte er sie. Wer ihn fragte, was diese Aktion bedeute, erhielt zur Antwort.
„Ich bin der Mystiker des Vaters. Er erkundet, was die Kinder machen“. MLF


[1] Es sind darin die Möndchen des Hippokrates zu erkennen. Geschichte 132B vom 24.12.12