Samstag, 27. April 2013

154 I Angeblich die Bergwacht



Wie Tonke beim Blättern eines Kalenders sich unversehens in eine öde Gebirgswelt versetzt sah und dort mit einem Freund in Streit geriet.

Als Tonke nach einer struben Nacht um zehn Uhr erwachte, lag ein Pappumschlag auf seiner Decke. Wo kommt denn der jetzt her?, fragte er sich verwundert. Brix wird ihn bei der Tür aufgelesen und ihn mir hingelegt haben, bevor er zur Arbeit ging. Das war seine Erklärung.
Tonke ging zur Toilette und verschaffte seiner drückenden Blase Erleichterung. Danach öffnete er den großen, geheimnisvollen Umschlag. Was mochte bloß darin stecken?
Ein Kalender der Bergwacht. Jedenfalls stand da ‚Bergwacht‘ drauf. Er überflog die ersten Bilder und wunderte sich. Die waren ganz anders als die großartigen Bilder, wie er sie von den früheren Kalendern des Bergwacht-Vereins gewohnt war. Statt strahlenden Gipfeln, rauschenden Wasserfällen und lieblichen Tälern sah er abgelegene, raue Täler, bedrohliche Überhänge und verlassene Dörfer, „Chräche“, wie die Alpenländer die unwirtlichen Täler nennen. Er fand diese Bilder ganz und gar untypisch für Kalendermotive. Da beschlich ihn der Verdacht, dass ihm da jemand etwas unterjubeln wollte.
Er nahm nochmal den Umschlag in die Hand. Die Adresse war von Hand geschrieben. Das war doch die Handschrift seines Freundes, Alex, eines jungen Hauptstädters, mit dem er sich neulich gestritten hatte. Wegen was denn? Es wollte ihm nicht einfallen.
War das die Antwort des Freundes? Alex wusste, dass er, Tonke, die Berge liebte. Ja dass schon der Unterschied zwischen Oben und Unten für ihn große Bedeutung hatte. Wollte er ihm mit diesen düsteren Bildern einen Denkzettel verpassen? Tonke suchte im Umschlag nach einem Begleitbrief, fand aber keinen.
Er saß in seiner Boxer-Shorts auf dem Bettrand, legte den Kalender zur Seite und trank aus der Flasche das restliche Wasser, das von der Nacht noch übrig geblieben war. Tonke stand auf. Zeit fürs Frühstück.
Doch der Kalender ließ ihm keine Ruhe. Er nahm ihn nochmal in die Hand, schlug ein weiteres Blatt über die Oberkante mit der Ringbindung nach hinten und betrachtete das nächste Großbild. Er hatte ein besonders düsteres Foto vor sich. Von oben sah er in ein Tal hinab, in dem es kaum Grün gab. Er gewahrte nur Felsen und Geröll in grauen und braunen Schattierungen. Über einen Hang hinab sah Tonke in eine Welt, in der Leben kaum vorstellbar war. Und doch erspähte er unten Dächer und die Konturen einiger Häuser, die ein verwittertes Bergdorf bildeten. Was für ein erbärmliches Leben mochten die Bewohner dieser Häuser in ihrer kargen Welt wohl führen? Überrascht war Tonke von drei großen Gebäuden, oben am Hang, gegenüber. Die Gebäude machten einen herrschaftlichen Eindruck. Es musste eine Beziehung geben zwischen dem ärmlichen Ort unten und dem stattlichen Herrensitz oben. Trotz dieser schönen Häuser schauderte ihn bei der Vorstellung, in diesem Tal wohnen zu müssen.
Von seinem Augpunkt aus führte ein gepflasterter Weg abwärts. Dieser war beidseitig von Steinmäuerchen eingefasst. Tonke bemerkte, dass sich, mit dem Blick der Straße folgend, sein Augpunkt veränderte. Sein Sichtfeld erweiterte sich, er gewahrte weiter vorgehend neue Dinge. Mit jeder Bewegung sah er mehr. Ohne Zweifel handelte es sich um ein holographisches Bild. Unversehens steckte er ganz in dieser Gebirgswelt drin.
Er ging abwärts über die großen, flachen Steine des Weges. Auch wenn an Vegetation nicht viel zu bewundern war, so atmete er doch die befreiende Luft der Höhe. Ein sachter Wind strich ihm durch die Haare. Aber der Schauer blieb.
Gegenüber, ziemlich auf der gleichen Höhe, sah er die drei stattlichen Bauten jetzt in Real. Für diese abgelegene Gegend wirkten sie ungewöhnlich großzügig. Besonders überraschten ihn die runden Formen, die sowohl die Dächer, als auch die Außenmauern bestimmten. Er musste an das Haus der Pi-Menschen denken, bei denen er im Ort am Meer Unterkunft gefunden hatte. Das war zwar nur ein kleines Haus gewesen, aber die runden Formen waren bestimmend gewesen. Über den Fenstern waren die Balken gewölbt gewesen und sogar das Bett, in dem er geschlafen hatte, war von einem ovalen Brett umspielt gewesen. Sein Blick hing unverwandt an den drei Bauten, während er mit nackten Füßen abwärts über die Steinplatten ging.
Da fiel ihm ein Streitgespräch mit Alex ein. Gerade neulich hatten sie sich gezankt. Tonke hatte ihm berichtet, dass etwas, das er in der Höhe erlebt hatte, sich unten fortgesetzt hatte. Oben hatte sich angekündigt, was ihm dann unten widerfuhr.
Alex hatte dagegen heftig protestiert. Als wollte ihm Tonke einen Bären aufbinden. Oder als würde diese Aussage ihn zu etwas zwingen, das ihm von Grund auf zuwider lief. Genau genommen hatte Tonke schon oftmals diese Beobachtung widergegeben und jedesmal hatte Alex mit heftigen Worten gekontert.
Tonke hatte es erwähnt, weil er es überraschend fand, dass er in einem Gebäude in der Höhe etwas voraussah, das ihm dann tagsüber unten in entsprechender Form zustieß.
„Das ist vielleicht bei euch Dörflern so, aber gewiss nicht bei uns in der Stadt“, hatte der Kontrahent bissig bemerkt. Alex wohnte in der Nesenbachstadt und führte dort ein kultiviertes Leben, mit viel Abwechslung, vielerlei Engagement und einem weitläufigen Freundeskreis. Gemessen an ihm kam sich Tonke tatsächlich wie ein Asket und Einsiedler vor. Obwohl er ja auch in einer Stadt wohnte, wenn auch in einer deutlich kleineren. Und mit Brix zusammen lebend war er auch nicht allein.
Jetzt aber schritt er mit bloßen Füßen dieses öde Gebirgstal hinab, wie er düsterer noch keines gesehen hatte. Tonke hätte auf die Provokation schweigen sollen  Aber im Eifer hatte er nicht an sich gehalten. Während er weiter abwärts ging, wurde der Streit wieder lebendig.  
„Dann kennst du die Degerhöhe nicht“, hatte Tonke herausfordernd gesagt. „Übernachte mal auf der Degerhöhe und gehe dann runter in die Stadt. Du wirst dich wundern, was sich da für Zusammenhänge auftun.“
Da war Alex richtig sauer geworden und hatte ihn einen Spintisierer und Verrückten geschimpft. Die Degerhöhe sei ein ganz gewöhnliches Wohngebiet, das nur zufällig etwas höher liege als das Zentrum.
Tonke war sehr ernüchtert gewesen, weil er einmal mehr erfuhr, dass es ihm nicht möglich war, seine besonderen Erlebnisse jemandem mitzuteilen.
Der Anblick der drei herrschaftlichen Bauten am Hang gegenüber stimmte ihn misstrauisch. Ihre Größe und Stattlichkeit wollte gar nicht zu dieser kargen, düsteren Welt passen. In Tonke reifte zunehmend die Überzeugung, dass sein Freund diese öde Gebirgswelt kreiert habe, um Tonkes Auffassung von den Bergen in Frage zu stellen. Die drei Bauten waren ihrer Erscheinung nach in die Nähe von Zwingburgen gerückt, die eine Talschaft knechteten. Wenn dem so war, hatte Alex ihn tüchtig missverstanden. Es ging nicht um eine Regentschaft, um einen Zwang, der von oben nach unten ausgeübt wurde, sondern um den Augpunkt, der Blick von oben, der einem eine Art prototypische Schau gab, von dem was einem im Alltag erwartete.
Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass sein Kontrahent diese Landschaft geschaffen hatte, um seine Sicht des Zusammenspiels von Oben und Unten zu diskreditieren. Diese verzerrte Sicht bereitete Tonke großen Kummer.
Er war einige hundert Meter hinab gegangen, als ihn seine nackten Füße und seine unzureichende Kleidung innehalten ließen. Vielleicht sollte ich doch erst frühstücken und mich passend anziehen, bevor ich weiter diese düstere Gebirgswelt erforsche, sagte er sich und hielt an. Zwischen den Steinen wuchsen kräftige, widerstandsfähige Pflanzen und blühten auch. Wenn auch nicht so üppig wie die Tulpen und Magnolien in den städtischen Gärten. Er lehnte sich an einen Stein und entfernte die spitzen Krallen einer Distel aus seiner linken Fußsohle. Während er sich ausruhte, hörte er ein Motorengeräusch von einem Auto. Er schaute sich um, sah aber keinen Wagen.
Als er bergan zurückging, hört er den Wagen von neuem. Aber wieder sah er kein Auto. Es musste in der Nähe eine andere Straße geben, die für ihn nicht zu sehen war. Dem gleichmäßigen Geräusch des Wagens nach, war es eine Straße mit geringer Steigung. Ein Motor, der eine steile und überdies grob gepflasterte Straße bewältigen musste, wie die, auf der Tonke ging, würde sich ganz anders anhören. Anscheinend führte eine glatte Straße von der Stadt in dieses düstere Tal. Sie mochten in einer Parkbucht halten, ihren Campingtisch in die angrenzende Wiese stellen und die mitgebrachten Toastbrote verzehren. Möglicherweise würden sie die Schuhe ausziehen und die Füße in das Wasser eines plätschernden Gebirgsbaches halten, um sie, die Kälte des Wassers gewahr werdend, erschrocken zurückzuziehen.
Das Geräusch des Wagens erklang nicht wieder. Vielleicht hatte der Wagen wirklich gehalten oder er war in einem Tunnel verschwunden.
Oben, bei dem Loch angekommen, durch das er in die Landschaft geschlüpft war, hörte er Stimmen von unten.

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