Donnerstag, 18. April 2013

151 II „Im Schiffsbau keine Wurzel“


Eine Stunde später hörte er draußen den tiefen Ton eines Zwölf-Zylinder-Fahrzeugs. Als Technik-Freak fuhr Sienta einen entsprechenden Wagen.
Mit Bubischnitt und vollen roten Wangen kam sie schnellen Schritts auf das Haus zu. Sie wirkte noch immer wie die Draufgängerin, die er als Studentin kennen gelernt hatte. Erst auf den zweiten Blick kamen Spuren zum Vorschein, die die konzentrierte Arbeit hinterlassen hatten. Am auffälligsten die grauen Strähnen und die Kerben seitlich der Mundwinkel.
Tonke hatte inzwischen gekocht. Sienta schätzte, wenn er etwas zum Essen auftischte. Als allein stehende Wissenschaftlerin lebte sie noch immer wie eine Studentin. Sie bereitete sich manchmal tagelang kein warmes Gericht.
Nachdem er geschöpft und sie eine Weile still gegessen hatten, schnitt Tonke nun doch sein Thema an.
„Mir scheint, ich habe Mist gebaut. Aber so richtig seh ich es nicht ein“, gestand er und schaute prüfend auf Sientas Reaktion.
„Wo? Wie?“, fragte sie überrascht.
„Du weißt doch, dass ich die Planung eines großen Schiffes übernommen habe. Jetzt kommt’s wahrscheinlich zu einem Rechtsstreit.“
„Was, bei dieser Großplanung?“, sagte sie erschrocken. „Das könnte heikel werden. Was werfen sie dir denn vor?“
„Ich hätte Wurzeln in den Planungsunterlagen drin.“
Wurzeln im Schiffsbau, kam prompt von ihr. Das sei allerdings problematisch. Da wünsche sie ihm mal, dass es glimpflich ablaufe.
Tonke erschrak. Sie arbeitete in einem anderen Fach und sagte das so klar.
Er wollte die Sache nicht forcieren, sie lieber später wieder aufnehmen. Wenn sie Zeit hatte. Er fürchtete, dass sie gleich wieder wegmusste. Aber als er ihr einen Kaffee anbot und sie einen Blick zum Sofa rüber warf, war er beruhigt.
Er trug die vollen Tassen zum Couchtisch und lud sie ein den bequemeren Platz einzunehmen.
Obwohl sie inzwischen bloß Freunde waren – während dem Studium waren sie eine Zeit lang ein Paar gewesen – war der Rahmen doch ein intimer und er fürchtete, Brix könnte sie überraschen, wenn sie, in tiefe Gespräche verstrickt, die Köpfe zusammensteckten. Deshalb ging er unauffällig zur Tür und drehte den Schlüssel um. So würde sein Freund klingeln müssen, falls er früher zurückkehrte.
Sienta schien, was mitmenschliche Beziehungen anging, ziemlich ausgehungert. Sie klagte, dass ihre Kollegen so wenig über persönliche Dinge sprachen.
Aber der Anteil der Frauen sei doch recht hoch in ihrem Institut, wandte Tonke ein.
Die seien noch schlimmer als die Männer, behauptete sie. Letzte Woche sei sie mit einem Elektrotechniker ausgegangen, berichtete sie. „Denkst du, dem wäre etwas anderes eingefallen, als über Schaltkreise zu sprechen.“ Dabei verzog sie das Gesicht. Sie sah Tonke mit hochgezogenen Brauen an und fragte unvermittelt.
„Hast du was mit diesem Typ oder nicht?“
Tonke wand sich. Auf eine direkte Frage solle man eine direkte Antwort geben, heiße es. Aber nicht jeder verstehe, eine solche Antwort. Sie müsste Erfahrungen mit Frauen haben, um das zu verstehen.
„Ich, mit Frauen, wie kommst du da drauf?“, reagierte sie heftig.
Er sage das ja nur, weil sie von ihren Dates mit Männern meist Enttäuschendes berichte, wand er sich raus.
Jetzt schien ihm die Zeit reif, mit seiner Frage nochmal zu kommen. Er lehnte sich zurück und sprach möglichst beiläufig. Als sei ihm die Sache zufällig in den Sinn gekommen.
„Warum nur sind Wurzeln im Schiffsbau so verpönt?“, stieß er hervor.
„Aber was bist du nur für ein Ingenieur?“, reagierte sie und schaute ihn verwundert an. „Guck dir doch so einen Schiffskörper an. Was unterscheidet ihn von anderen Fahrzeugen, einem Zug, einem Auto oder insbesondere von einem Fahrrad?“
Tonke dachte nach. Er stellte sich einen Schiffsrumpf vor, wie er im Wasser lag. „Er ist mehrheitlich rund.“
„Nicht nur mehrheitlich. Er ist ganz und gar gewölbt. An was liegt das wohl?“
„Na, am Wasser, es fordert die Stromlinienform.“
„Du weißt es ja“, sagte sie und lachte. „Ist doch natürlich, ob kleines Boot oder riesiger Tanker, sie dürfen dem Wasser keine Angriffsstelle bieten.“
Tonke dachte laut. „Und das ist nicht der Fall, wenn ich Wurzeln verwende?“
„Aber natürlich nicht“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Wurzeln, das sagt ja schon das Wort, sind Vertiefungen, Wirbel nach innen, Spiralformen. Sie bilden das Konkave, sie führen ins Dunkel, sie sind grüblerisch. Das ist beim Schwimmen tabu. Hier braucht es die konvexe Form, die Wölbung. Fertige Formen, unhinterfragt. Nur so kriegst du einen schwimmtüchtigen Körper hin.“
Ob sie noch einen Kaffee trinke, fragte er.
Statt zu antworten, stand sie auf. Sie bedankte sich für das Essen und die Geselligkeit.
Tonke begleitete sie zur Tür. Bevor er die Tür aufzog, drehte er unauffällig den Schlüssel. Er verabschiedete sie mit einem Kuss.
Als draußen der Motor ansprang, glaubte er das Schiffshorn eines großen Ozeandampfers zu hören. MLF

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen