Mittwoch, 17. April 2013

151 I „Im Schiffsbau keine Wurzel“



Wie Tonke in Schwierigkeiten geriet, weil er etwas, das allen Technikern als glasklar erschien, noch immer nicht begreifen konnte.

Er war im Untergeschoss beschäftigt, als oben über der Treppe die Tür aufging und Brix mit schriller Stimme rief:
„Telefon – Telefon für dich, ein Professor der Fachhochschule ist dran.“ Sein Freund klang aufgeregt.
Tonke rieb sich die Hände an einem Tuch ab und stieg schnell die Stufen hoch. Ihm schwante, womit dieser Anruf zu tun haben könnte. Seit längerem stand eine Beschwerde gegen ihn an. Weil er – wie es hieß – eine Wurzel in der Berechnung mit drin habe.
„Ja, Tonke am Apparat – ah, Sie sind’s, Herr Professor.“
Die Stimme des Fachhochschullehrers klang hart. Tonke hörte von Eltern, für die er damals die Pläne gezeichnet habe. Aber er verstand nur die Hälfte. Weil gleichzeitig, Brix, sein quirliger Freund auf ihn einredete: „Ein Prozess wird dir angedroht!“
Tonke versuchte mit einer Handbewegung Brix zum Schweigen zu bringen. Aber der redete immer weiter. So konnte er den Worten des Fachhochschullehrers nur bruchstückhaft folgen. Aber so viel wurde ihm klar, wenn er die Haftung nicht übernehme, würden sie vor Gericht gehen.
Endlich gab Brix nach, ging zur Tür und verließ das Haus.
Der Professor ließ keinen Zweifel darüber, zu welcher Seite er sich schlagen werde. Eine Wurzel in der Schiffsplanung zu verwenden sei ein zu großer Fehler. Wem ein solches Missgeschick unterlaufe, könne sich eigentlich gar nicht Ingenieur nennen, sagte er sinngemäß.
Was soll denn an einer Wurzel so schlimm sein?, fragte sich Tonke. Aber er sprach die Frage nicht laut aus. Er würde damit nur das cholerische Temperament des Professors noch mehr anfachen. Schon aus seinem Schweigen schien der Lehrer auf Uneinsichtigkeit zu schließen. „Mensch, Tonke“, rief er in den Hörer, „dass man  im Schiffsbau keine Wurzel verwendet, das müsste doch klar sein. Also stehn Sie für diese Sache gerade und achten Sie darauf, dass Ihnen ein solches Missgeschick nicht wieder unterläuft.“
Tonke sagte es zu, obwohl er seinen Fehler noch nicht ganz einsah. Er musste dem Druck wohl nachgeben. Er hatte keine Wahl. Deshalb stammelte er. „Natürlich, Sie haben Recht. Ich werde mich baldmöglichst darum kümmern.“
„Lieber heute als morgen“, schob der Professor als echter Lehrmeister hinterher.
Tonke legte ernüchtert auf.
Er lehnte sich zurück. Da fiel ihm auf, dass Brix nicht da war. Er hatte ihn doch nicht beleidigt mit seiner wegweisenden Geste? Wo mochte sein Freund sein? Tonke schaute auf die Uhr, halb zwei. Dann war Brix wohl zur Arbeit gegangen.
Tonke ging in die Küche, holte ein Glas aus dem Schrank und füllte Wasser ein.
Die Worte des Professors steckten in seinem Kopf drin, wie klebrige, stachelige Früchte eines Strauches. Wenn das Fernhalten von Wurzeln aus den Plänen so wichtig war, warum gab es dann kein Programm, das die technischen Unterlagen auf das Vorkommen von Wurzeln hin abklapperte? Es leuchtete ihm einfach nicht ein.
Er trank das halbe Glas auf einen Zug.
Der Professor tat so, als sei der Satz ‚im Schiffsbau keine Wurzel verwenden‘  
ein zentraler Merksatz in der Ingenieursausbildung gewesen. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, diesen bemerkt zu haben. Wenn dies ein Satz war, wie die Beziehung der Seiten im rechtwinkligen Dreieck oder die Reduktion der Multiplikation auf die Addition durch die Logarithmen, dann müsste er diesen Satz ja ständig gehört haben.
Aber da blieb eine gewisse Unsicherheit. Ihm hatte als Student die praktische Erfahrung gefehlt. Zudem hatten Wurzeln auf ihn schon immer eine starke Faszination ausgeübt. Vielleicht könnte es doch sein, dass ihm von der einen Seite her die Sensibilität für das Problem gefehlt hatte und von der anderen Seite die Liebhaberei die Ohren für die Ratschläge der Professoren verschlossen hatte.
Tonke trank aus, stellte das Glas ins Spülbecken und kehrte die Stufen hinab ins Untergeschoss zurück.
Aber der Konflikt ließ ihn nicht los. Er spürte ihn wie einen Stachel im Fuß. Anscheinend hatte er etwas Wichtiges versäumt. Wenn die erst vor Gericht gingen – egal wie die Verhandlungen ausgingen – würde er es fortan als Planer schwer haben. Man würde vorsichtig sein und es sich zweimal überlegen, bevor man einen neuen Entwurf von ihm annahm. Er musste handeln.
Davor hätte er aber gerne mit jemandem gesprochen. Mit Brix konnte er darüber nicht reden. Ja, reden schon, aber er würde ihm nicht helfen können. Im Grunde kannte er nur eine Person, die für ein solches Gespräch die Richtige war, Sienta. Sie war Wissenschaftlerin und zugleich eine enge Vertraute von ihm. Ihr Fach war zwar nicht dasselbe wie seines, aber sie war Wissenschaftlerin durch und durch. Sie arbeitete am Plankenhorn-Institut als Verfahrenstechnikerin. In ihrer Nähe fühlte er sich selber mehr als Wissenschaftler, wurde sachlicher, zielstrebiger und in der Planung verlässlicher. Das hatte er deutlich gespürt, als er eine Zeit lang mit ihr liiert war.
Tonke stieg die Treppe wieder hoch und nahm das Telefon ein zweites Mal in die Hand.

Sienta verhielt sich erst abweisend. „Ah, da hört man mal wieder von dir, Tonke, frotzelte sie. „Wahrscheinlich hast du irgendein rechnerisches Problem, sonst würdest du dich ja nicht melden.“ Aber sie hielt dieses Spiel nicht lange aufrecht.
Tonke hütete sich, gleich von der Auseinandersetzung zu sprechen. Probleme gebe es immer, sagte er ganz allgemein. Er sei gerade am Kochen, ob sie nicht Lust habe mit ihm zu essen, schob er vor.
Letztes Mal habe sie diesen Brix am Apparat gehabt. Was der eigentlich bei ihm zu suchen habe, fragte sie mit Missbilligung in der Stimme. „Mir scheint der ist homb“, stellte sie unvermittelt fest und fragte skeptisch. „Du bist doch nicht etwa auch von dieser Art?“
„Ist das jetzt ein Verhör?“, fragte Tonke in gespielt beleidigtem Ton. „Heißt das, dass du keine Lust mehr hast, mich zu sehen?“
Nein, das habe sie nicht gesagt, lenkte sie ein. Sie möchte nur wissen, woran sie sei.
„Ich werde dir alles erklären“, versprach er. „Aber nicht am Telefon.“
Sie willigte ein vorbei zu kommen und legte auf.



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