Wie Tonke in Schwierigkeiten geriet, weil er etwas, das allen
Technikern als glasklar erschien, noch immer nicht begreifen konnte.
Er war im Untergeschoss beschäftigt, als oben über der Treppe die
Tür aufging und Brix mit schriller Stimme rief:
„Telefon – Telefon für dich, ein Professor der Fachhochschule ist
dran.“ Sein Freund klang aufgeregt.
Tonke rieb sich die Hände an einem Tuch ab und stieg schnell die
Stufen hoch. Ihm schwante, womit dieser Anruf zu tun haben könnte. Seit
längerem stand eine Beschwerde gegen ihn an. Weil er – wie es hieß – eine Wurzel in der Berechnung mit drin habe.
„Ja, Tonke am Apparat – ah, Sie sind’s, Herr Professor.“
Die Stimme des Fachhochschullehrers klang hart. Tonke hörte von Eltern,
für die er damals die Pläne gezeichnet habe. Aber er verstand nur die Hälfte. Weil
gleichzeitig, Brix, sein quirliger Freund auf ihn einredete: „Ein Prozess wird
dir angedroht!“
Tonke versuchte mit einer Handbewegung Brix zum Schweigen zu
bringen. Aber der redete immer weiter. So konnte er den Worten des Fachhochschullehrers
nur bruchstückhaft folgen. Aber so viel wurde ihm klar, wenn er die Haftung
nicht übernehme, würden sie vor Gericht gehen.
Endlich gab Brix nach, ging zur Tür und verließ das Haus.
Der Professor ließ keinen Zweifel darüber, zu welcher Seite er
sich schlagen werde. Eine Wurzel in der
Schiffsplanung zu verwenden sei ein zu großer Fehler. Wem ein solches
Missgeschick unterlaufe, könne sich eigentlich gar nicht Ingenieur nennen,
sagte er sinngemäß.
Was soll denn an einer Wurzel so schlimm sein?, fragte sich
Tonke. Aber er sprach die Frage nicht laut aus. Er würde damit nur das cholerische
Temperament des Professors noch mehr anfachen. Schon aus seinem Schweigen
schien der Lehrer auf Uneinsichtigkeit zu schließen. „Mensch, Tonke“, rief er
in den Hörer, „dass man im Schiffsbau keine Wurzel verwendet,
das müsste doch klar sein. Also stehn Sie für diese Sache gerade und achten Sie
darauf, dass Ihnen ein solches Missgeschick nicht wieder unterläuft.“
Tonke sagte es zu, obwohl er seinen Fehler noch nicht ganz
einsah. Er musste dem Druck wohl nachgeben. Er hatte keine Wahl. Deshalb
stammelte er. „Natürlich, Sie haben Recht. Ich werde mich baldmöglichst darum
kümmern.“
„Lieber heute als morgen“, schob der Professor als echter
Lehrmeister hinterher.
Tonke legte ernüchtert auf.
Er lehnte sich zurück. Da fiel ihm auf, dass Brix nicht da war.
Er hatte ihn doch nicht beleidigt mit seiner wegweisenden Geste? Wo mochte sein
Freund sein? Tonke schaute auf die Uhr, halb zwei. Dann war Brix wohl zur
Arbeit gegangen.
Tonke ging in die Küche, holte ein Glas aus dem Schrank und
füllte Wasser ein.
Die Worte des Professors steckten in seinem Kopf drin, wie klebrige,
stachelige Früchte eines Strauches. Wenn das Fernhalten von Wurzeln aus den
Plänen so wichtig war, warum gab es dann kein Programm, das die technischen Unterlagen
auf das Vorkommen von Wurzeln hin abklapperte? Es leuchtete ihm einfach nicht
ein.
Er trank das halbe Glas auf einen Zug.
Der Professor tat so, als sei der Satz ‚im Schiffsbau keine Wurzel verwenden‘
ein zentraler Merksatz in der Ingenieursausbildung gewesen. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, diesen bemerkt zu haben. Wenn dies ein Satz war, wie die Beziehung der Seiten im rechtwinkligen Dreieck oder die Reduktion der Multiplikation auf die Addition durch die Logarithmen, dann müsste er diesen Satz ja ständig gehört haben.
ein zentraler Merksatz in der Ingenieursausbildung gewesen. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, diesen bemerkt zu haben. Wenn dies ein Satz war, wie die Beziehung der Seiten im rechtwinkligen Dreieck oder die Reduktion der Multiplikation auf die Addition durch die Logarithmen, dann müsste er diesen Satz ja ständig gehört haben.
Aber da blieb eine gewisse Unsicherheit. Ihm hatte als Student
die praktische Erfahrung gefehlt. Zudem hatten Wurzeln auf ihn schon immer eine
starke Faszination ausgeübt. Vielleicht könnte es doch sein, dass ihm von der
einen Seite her die Sensibilität für das Problem gefehlt hatte und von der
anderen Seite die Liebhaberei die Ohren für die Ratschläge der Professoren
verschlossen hatte.
Tonke trank aus, stellte das Glas ins Spülbecken und kehrte die
Stufen hinab ins Untergeschoss zurück.
Aber der Konflikt ließ ihn nicht los. Er spürte ihn wie einen
Stachel im Fuß. Anscheinend hatte er etwas Wichtiges versäumt. Wenn die erst
vor Gericht gingen – egal wie die Verhandlungen ausgingen – würde er es fortan
als Planer schwer haben. Man würde vorsichtig sein und es sich zweimal
überlegen, bevor man einen neuen Entwurf von ihm annahm. Er musste handeln.
Davor hätte er aber gerne mit jemandem gesprochen. Mit Brix
konnte er darüber nicht reden. Ja, reden schon, aber er würde ihm nicht helfen
können. Im Grunde kannte er nur eine Person, die für ein solches Gespräch die
Richtige war, Sienta. Sie war Wissenschaftlerin und zugleich eine enge
Vertraute von ihm. Ihr Fach war zwar nicht dasselbe wie seines, aber sie war Wissenschaftlerin
durch und durch. Sie arbeitete am Plankenhorn-Institut als
Verfahrenstechnikerin. In ihrer Nähe fühlte er sich selber mehr als
Wissenschaftler, wurde sachlicher, zielstrebiger und in der Planung
verlässlicher. Das hatte er deutlich gespürt, als er eine Zeit lang mit ihr
liiert war.
Tonke stieg die Treppe wieder hoch und nahm das Telefon ein
zweites Mal in die Hand.
Sienta verhielt sich erst abweisend. „Ah, da hört man mal wieder
von dir, Tonke, frotzelte sie. „Wahrscheinlich hast du irgendein rechnerisches Problem,
sonst würdest du dich ja nicht melden.“ Aber sie hielt dieses Spiel nicht lange
aufrecht.
Tonke hütete sich, gleich von der Auseinandersetzung zu sprechen.
Probleme gebe es immer, sagte er ganz allgemein. Er sei gerade am Kochen, ob
sie nicht Lust habe mit ihm zu essen, schob er vor.
Letztes Mal habe sie diesen
Brix am Apparat gehabt. Was der eigentlich bei ihm zu suchen habe, fragte
sie mit Missbilligung in der Stimme. „Mir scheint der ist homb“, stellte sie
unvermittelt fest und fragte skeptisch. „Du bist doch nicht etwa auch von
dieser Art?“
„Ist das jetzt ein Verhör?“, fragte Tonke in gespielt beleidigtem
Ton. „Heißt das, dass du keine Lust mehr hast, mich zu sehen?“
Nein, das habe sie nicht gesagt, lenkte sie ein. Sie möchte nur
wissen, woran sie sei.
„Ich werde dir alles erklären“, versprach er. „Aber nicht am
Telefon.“
Sie willigte ein vorbei zu kommen und legte auf.
…
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