…
Hinten an der Wand, auf der anderen Seite des Raumes, sah Tonke
zwei schöne Puppen. Die eine war rot, die andere blau. Sie waren gut zwei
Spannen hoch. Er ging näher auf sie zu. Sie standen in einem Nest aus Holzwolle.
Der Kern der Puppen schien aus Stroh zu sein. Obwohl die Köpfe gegen die Wand
gelehnt waren, schienen sie lebendig zu sein. Es ging etwas Magisches von ihnen
aus.
Der Astorianer schien sich über sein Interesse zu freuen und
folgte ihm.
Tonke drehte sich ihm zu. „Es ist erstaunlich, wie lebendig sie
wirkten“, äußerte er.
Sie entsprächen den polaren Gemütskräften, erklärte der
Astorianer und bot ihm ein Couple davon an. „Sie können gern ein Paar davon
haben. Voraussetzung ist, dass Sie ihnen ein Nest schaffen. Sie kommen dann von
selber zu Ihnen.“
„Von selber?“, fragte Tonke verdutzt.
Ja, aber es bedürfe der stetigen Aufmerksamkeit und eines
unbeugsamen Willens, erklärte der Astorianer mit hellwachem Ausdruck. Um diesen
zu trainieren, müsse man ein halbes Jahr lang täglich einen Euro überweisen,
sagte er.
„Warum nicht auf ein Mal?“, entfuhr dem ahnungslosen Tonke.
Der Mann mit der ernsten Stirn erklärte, es sei wichtig, dass von
ihm jeden Tag etwas zu den Puppen flösse. Dann würden die Puppen zu ihm kommen.
Da die Zahlung jeden Tag und immer zur gleichen Zeit zu erfolgen
hatte, auch samstags und sonntags, kam nur ein Konto bei einer Astoria-Bank in
Frage. Weil nur diese eine solche Zahlungsweise unterstützten. Tonke glaubte, es
handle sich um eine Verkaufsmasche und war verstimmt. Da ihn aber die Puppen
fesselten, unterzeichnete er notgedrungen den Vertrag.
Der Astorianer stellte ihm in Aussicht, dass die Puppen schon vor
Ablauf der Frist sich ab und zu bei ihm zeigen würden.
Als sich die Puppen nach bald einem halben Jahr noch immer nicht
zeigten, wurde Tonke misstrauisch. Er wollte sich beschweren und hatte schon
das Telefon in der Hand. Da fiel ihm das Nest ein. Er hatte den Nestbau
vergessen.
Ein Nest zu bauen, in dem Zimmer, in dem er die Nacht verbrachte,
stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht hätte. Es wurde ihm mal
wieder bewusst, in welch beengten Verhältnissen er schlief. Er teilte das
Schlafzimmer mit einer Familie. Die Eltern, drei Kinder und auf einem Feldbett
er selber. Es blieb gar kein Platz für das doch ansehnliche Nest. Einzig an der
Fußseite des jüngsten Kindes war eine Stelle frei.
Tonke hatte sich etwas grüne Wolle für den Boden des Nestes und
Holzwolle für die Nestbegrenzung besorgt.
Er wartete bis die anderen schliefen und begann dann, im
Lichtschein seiner Taschenlampe, zu Füßen des Kleinkindes das Nest auszulegen.
Die anderen erwachten nach und nach. Erst die beiden
halbwüchsigen Kinder, dann die Eltern. Sie waren sofort neugierig, auf das, was
er da anlegte.
Als er ihnen von den beiden Puppen berichtete, einer roten und
einer blauen, waren sie alle begeistert und überschütteten ihn mit guten
Ratschlägen.
„Mach es doch noch etwas
größer.“ „Der Rand ist nicht gleichmäßig.“ „Hier ist zu wenig.“ etc. Die vielen
Bemerkungen erschwerten seine Arbeit. Von wegen husch, husch mal ein Nest
formen. Das Kleinkind wachte auch auf und fing an zu schreien. Jetzt wurde an
der Stelle des Nestes auch noch die Wand weggeschoben, die sich als Schiebetüre
herausstellte.
Aber durch die Öffnung sah Tonke nicht in ein anderes Zimmer,
sondern in die klaffende Leere eines Luftraums. Erst jetzt wurde er gewahr, dass
sie sich nachts durch einen Luftraum bewegten und sich folglich in einem
Flugkörper befanden. Damit erklärte sich auch die Enge im Schlafzimmer.
Die beiden Halbwüchsigen näherten sich der offenen Tür. Plötzlich
warfen sie sich grölend in den Luftraum hinaus. Tonke, der ihnen nachschaute,
passte einen Moment nicht auf und rutschte dabei unfreiwillig nach draußen. Er kriegte
das Gestänge von etwas wie einem Sonnensegel zu fassen und hielt sich
krampfhaft daran fest. Zwar spürte er, dass er auch fliegen konnte, aber was
war, wenn es ihn vom Flugkörper wegtrieb. Wie sollte er je zu diesem
zurückfinden? Er hangelte sich an dem Gestänge entlang in den Raum zurück.
Die Jugendlichen hatten es gar nicht eilig zurückzukehren. Erst
als die Eltern drohten, die Tür zu schließen, kamen sie murrend zurück.
Aufgrund dieses Vorfalls erschien es Tonke wie eine Spielerei,
diesen Puppen aus Stroh so viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dadurch verlor das
Nest seine Bedeutung, noch bevor es ganz fertig gestellt worden war.
An einem der folgenden Morgen berichtete Tonke seiner Mentorin, im
Besprechungszimmer neben der Pforte, was er in jener Nacht und ein halbes Jahr
davor erlebt hatte. Er fing an mit der großen Ausgrabungsstätte und dem vielen
Gold, das zum Mangel an gewöhnlichen Pflastersteinen geführt habe. Dann
beschrieb er die Puppen, wie er in seinem engen Schlafzimmer ein Nest für diese
hatte anlegen wollen. Dann sei die Tür aufgegangen. Erst da habe er bemerkt,
dass sie durch den Raum flogen.
Die Mentorin zog eine Schnute wie eine Gans. In garstigem Ton
forderte sie, er solle das rapportieren und umgehend zwanzig Kopien an das
Astoria-Zentrum in der Hauptstadt senden. MLF
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