Montag, 22. April 2013

141 I Rote und blaue Stoffpuppe



Wie es auf einer Ausgrabungsstätte vor lauter Gold zum Mangel an Pflastersteinen kam.

Wie Tonke für zwei Puppen ein Nest baute und dabei entdeckte, dass sie nachts durch den Luftraum flogen.



An der Größe gemessen war die Ausgrabungsstätte durchaus mit der Akropolis zu vergleichen. Aber das Gelände war nicht so steil wie der Tempelberg Athens. Es handelte sich um eine der weniger bekannten, antiken Tempelstätten. Die Grabungsarbeiten standen unter dem Patronat der Astoria-Bewegung. Diese Gemeinschaft fand großes Interesse an den vergessenen Zentren. Sie nannten diese Tempel Mysterienstätten, aufgrund des geheimen Wissens, das dort gehütet worden war.
Das Gelände war übersät mit Mauerresten und Säulenstumpen. Manche Tempelgebäude waren rekonstruiert worden. Einige Plätze und Wege sollten noch gepflastert werden. Dabei tat sich ein unerwarteter Engpass auf. Gewisse Teile gab es im Überfluss, andere dagegen, die dringend benötigt wurden, fehlten. So gab es einen großen Haufen mit goldenen Pflastersteinen. Aber es waren kaum noch granitene da. Die meisten der reichen Sponsoren hatten zur Auflage gemacht, dass ihr Geld ausschließlich in Goldgegenstände investiert würde. Als Bewunderer, der in den Tempelschulen gelehrten Weisheit und Hellsichtigkeit, hielten sie nur dieses kostbarste aller Edelmetalle für angemessen. Dabei hatten sie ihre Geldbörsen nicht geschont.
Auf der Ausgrabungsstätte fehlten aber die granitenen Pflastersteine. Man konnte vielleicht den Boden eines Tempelraumes mit Gold pflastern oder da und dort zum Schmuck einen goldenen Stein einsetzen. Aber unmöglich konnte man einen öffentlichen Platz mit goldenen Pflastersteinen auslegen. Niemand würde eine solche Rekonstruktion noch ernst nehmen.
Auch die arabischen Händler, die auf der Baustelle sich aufhielten, klagten über den Mangel an Granitsteinen. Tonke nahm die Arbeit auf sich, den ganzen Haufen durchzusehen. In mühsamer Arbeit setzte er den ganzen Berg von Pflastersteinen um. Er fand gerade noch zwei Stücke aus Granit darunter. Davon war das eine gebrochen. Also waren es genau genommen nur anderthalb. Damit lohnte es sich wohl kaum an die Arbeit zu gehen. Er ging deshalb zu den Verantwortlichen.
Bei der Grabungsstätte handelte es sich – wie gesagt - um ein Projekt der Astorianer. Wie die Wissenschaftler, so hielten auch die Mitglieder dieser Bewegung die Gedankenkraft des Menschen für dessen vorrangigste Begabung. Sie glaubten aber, dass der Verstand durch verborgenes Wissen, wie es in den antiken Einweihungsstätten gelehrt worden war, bereichert werden müsse. Sie setzten sich deshalb mehr als die öffentlichen Institute für die Rekonstruktion besonderer Tempel ein, die sie Mysterienstätten nannten.

Er fand sich in einem einfachen, kühlen Raum mit altertümlichen Möbeln. Der leitende Astorianer war ein freundlicher, älterer Mann mit einer ernsten Stirn und dichten, noch immer mehrheitlich dunklen Haaren. Sein Gesicht wirkte ungewöhnlich wach, fast transparent. Ein Ausdruck, der Tonke an Astorianern schon oft bemerkt hatte. Vielleicht ist ein solches Gesicht gemeint, wenn man von einem durchgeistigten Menschen spricht, sagte er sich.
 Tonke nahm auf einem der sonderbar geformten Stühle Platz und begann nach ein paar Worten über die drückende Hitze draußen sein Problem zu schildern. „Es gilt jetzt die Plätze und die Wege zu pflastern, auf denen die Menschen damals gegangen sind. Unsere Spender haben uns reichlich mit Pflastersteinen versorgt, aber sie sind alle aus Gold. Wir können doch nicht einen Weg, über den früher die Ochsenkarren gerollt sind, mit Gold auslegen.“ Er hielt kurz inne, um seine Mitteilung wirken zu lassen. Dann schlug er vor, man möge einen Teil des Goldes dazu verwenden, um ausreichend granitene Pflastersteine zu kaufen.
Auf diesen letzten Satz reagierte der Astorianer bestürzt. „Oh, nein, bitte nicht“, bat er fast flehentlich. „Wenn das die Spender erfahren.“ Er versprach dafür zu sorgen, dass sie schon am folgenden Tag einen Lastwagen voll gewöhnlicher Pflastersteine kriegen würden. Die goldenen Steine solle Tonke aufheben. Es gebe ja noch viele weitere Mysterienstätten zu entdecken, bei denen das Gold dann gewiss Verwendung fände.
Tonke war beruhigt. Er stand auf und wollte sich gerade verabschieden, da wurde er auf etwas aufmerksam.

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