Mittwoch, 20. März 2013

150 II Eine Käferlarve berichtet



Als Tonke seinen Blick anhob, saß im Sessel gegenüber eine Person - ein Mann wohl, wenn auch nicht ganz eindeutig. Die Person hatte etwas Weiches, Weibliches an sich. Aber für eine Frau waren ihre Gesichtskonturen zu deutlich gezogen und Größe und Breite des Oberkörpers ließen auch eher auf ein männliches Wesen schließen. Die hellbraunen Haare waren wellig und reichten bis zur Schulter. Trotzdem entschied Tonke, dass er einen Mann vor sich hatte.
Der feminine Mann ließ seinen Blick auf ihm ruhen. Er schien neugierige Blicke gewohnt zu sein. Seine Augen verrieten, dass auch er Interesse an ihm hatte.
Mit zur Verwirrung trug die Kleidung des Besuchers bei. Zum einen die Form – eine weitgeschnittene Hose, die Tonke im ersten Moment für einen Rock gehalten hatte und eine pludrige Bluse. Zum andern die Farbe der Kleidung, welche exakt der Farbe des Holzes entsprach, über das Tonke auf seinem Rundgang gestolpert war. Das Abricot-Orange der Kleider erinnerte ihn überhaupt erst wieder an sein Erlebnis in der Werkstatt.
Während er gebannt auf die Tüte gestarrt hatte, musste der Mann mit dem schönen welligen Haar und der rockartigen Hose leise eingetreten sein und musste ihm gegenüber Platz genommen haben. Was bin ich doch für ein Narr, warf sich Tonke vor, beschäftige mich mit Holz und sogar mit den Viechern in diesem und verschließe meine Augen vor den anderen Gästen des Hauses.
Der Mann mit den schönen, weichen Zügen ließ seine Augen die ganze Zeit auf Tonke ruhen. Er hatte bemerkt, dass er ihn überrascht hatte. Wenn er auch gewiss nicht all die Gedanken erraten konnte, die Tonke aufgrund seines Erlebnisses im Basement durch den Kopf gingen. Der Besucher im Sessel nutzte diesen Moment der Verblüffung, um den Mann auf dem Bett genau zu studieren. Ob Tonke ein Kandidat sei, fragte er sich oder ob er in seiner herkömmlichen Neigung abgeschottet war? Er kam zu dem Schluss, dass Tonke dazwischen stand, dass er noch nicht wirklich wach war für die neue Neigung, im Grunde der alten Ausrichtung aber schon entwachsen war. Das legte schon Tonkes Anwesenheit in diesem Haus am Hang nahe. Wer ganz im konventionellen Umfeld sich bewegte und in der Anziehung des andern Geschlechts gefangen blieb, würde nicht so leicht hierher finden.
Auch Tonke vergegenwärtigte sich, wo er war. In diesen Häusern in der Höhe erfuhr er so gut wie jedesmal eine Überraschung. Dass jemand sein Zimmer betrat und ihm gegenüber Platz nahm, war da noch verhältnismäßig normal. Zwar würde ein solcher Zwischenfall in einem Hotel mit Zimmerschlüsseln nicht vorkommen – da überraschte höchstens die Putzkraft den Gast, wenn er den Raum nicht rechtzeitig verließ – aber in einer Herberge wie dieser war es nicht ungewöhnlich, wenn jemand unerwartet eintrat. Was ihn mehr irritierte, war die seltsame Koinzidenz der Farbe des Holzes mit den Kleidern seines Besuchers.
Er erinnerte sich wieder, dass er ja über die Grenze geschritten war. Seither hatte er nur Ungewöhnliches erlebt, am Ausgefallensten wohl die Pi-Menschen. Was war da schon eine kleine Übereinstimmung in einer Farbe, die für ihn neu war. Seine Mentorin würde ihn auslachen, wenn er ihr berichtete, wie sehr er sich von dem Gast in den aprikosenfarbenen Stoffen hatte überraschen lassen.
Dieser Besucher schien auch ein Besonderer zu sein. Es haftete ihm etwas Durchscheinendes, Ätherisches an. Fast als sei er nur ein Geschöpf der Fantasie.
Warum stellte er sich nicht vor, wenn er hier eindrang? Ein paar erklärende Worte wären schon angebracht, fand Tonke. Zum Beispiel, er suche eine Mitfahrgelegenheit. Oder, er lebe in diesem Haus und lerne gerne Gäste kennen, irgendein Vorwand zur Rechtfertigung. Der schöne Mann saß aber bloß da, als sei er nicht aus eigenem Antrieb gekommen, als habe vielmehr ein unergründlicher Zufall ihn an diese Stelle platziert. Wie ein Insekt, dachte Tonke, das aus der Verpuppung erwacht und sich in einer neuen, unbekannten Welt erst orientieren muss.
Er kniff seine Augen zusammen und überlegte, wie er den Besucher ansprechen könnte. Da kam ihm die Stimme seines Magens zu Hilfe – ein laut vernehmliches Knurren wurde laut. Wie spät mochte es sein? Er hob den Arm und schaute auf die Uhr, halb zehn. Für ihn, der gewohnheitsmäßig zwischen acht und neun frühstückte, war es nicht erstaunlich, wenn sein Magen sich um diese Zeit meldete. Daraus formten sich wie von selbst die ersten Worte.
„Haben Sie schon gefrühstückt?“, fragte er und wunderte sich, wie heiter seine Stimme klang.
Sein Gegenüber schien nicht überrascht, aber irgendwie unentschieden.
„Ich bin heute Morgen etwas früher aufgewacht“, sagte Tonke unbekümmert. „Da ich noch zu früh dran war, bin ich durchs Haus geschlendert und habe mich ablenken lassen.“
Der Gast nickte verständnisvoll, sagte aber noch immer nichts.
In diesem Haus wurde das Frühstücksbuffet um zehn abgeräumt. Wer danach kam, ging für den Morgen leer aus. Tonke spürte, dass er initiativ werden musste, wenn er nicht hungrig bleiben wollte. Deshalb sagte er zu seinem Gast. Er freue sich über seinen Besuch. Ob es ihm etwas ausmache, ihn in den Essensraum zu begleiten.
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern stand auf. Der Gast erhob sich ebenfalls, was Tonke als Zustimmung auffasste. Schnell ergriff er die Tüte und stellte sie in eine Ecke. Es war nur noch Papier, das spürte er. Trotzdem warf er einen prüfenden Blick hinein. Da war natürlich nichts zu sehen – wie auch.
Er näherte sich nun dem Besucher, der größer war, als er erwartete hatte und stellte sich vor.
„Mein Name ist Tonke. Darf ich fragen wie Sie heißen?“
„Vasil“, kam als erstes Wort dem weiblich wirkenden Mann über die Lippen. Er hatte eine helle Stimme – ungewöhnlich für einen so hochgewachsenen Mann. Noch ungewöhnlicher aber erschien Tonke der Name, der nicht zu den hellbraunen Haaren passen wollte.
Sein Zimmer befand sich im ersten Stock, der Essensraum im Erdgeschoss, nahe dem Eingang. Schwerelos ging der Besucher an seiner Seite die Stufen hinab. Auf dem Weg nach unten kam Tonke der Gedanke, sie könnten doch in die tiefer liegende Stadt gehen. Dort galt die Beschränkung mit zehn Uhr nicht. Da fand man immer eine Cafeteria, in der man auch später frühstücken konnte, zumindest bis zur Mittagszeit. Mit diesem hübschen Mann durch die Stadt zu promenieren, stellte er sich verlockend vor.
„Was halten Sie von einem Abstecher in die Stadt?“, fragte er und fügte hinzu. „Eigentlich bin ich zu hungrig, um noch weit zu gehen. Aber wenn ich mir vorstelle, in der Fußgängerzone zu bummeln und mich in ein reizvolles Café zu setzen. Dafür würde ich meinem Magen noch eine halbe Stunde Schweigen gebieten. Was halten sie davon, Vasil?“
Tonke sah über sich ein ängstliches Gesicht. Klarer hätte auch ein Nein sprechen können. Diese Reaktion verstärkte seinen Eindruck, dass er es mit einem Menschen dieser höher gelegenen Zone zu tun hatte. Der noch nicht den Schritt nach unten gewagt hatte und deshalb in seiner Art etwas Unbedarftes, Ungefestigtes hatte.
„Mir ist es egal“, lenkte er ein, „ich esse gerne hier. „Also lassen Sie uns hingehen, solange das Buffet noch gedeckt ist.“
Vasil stellte sich mit an der Theke an. Das war Tonke sehr recht, denn er hätte sich geniert alleine zu essen. Sein Besucher schien ja nicht sehr mitteilsam zu sein.
Während Tonke den Kaffee einlaufen ließ, schaute er auf die Uhr. Elf vor zehn, so spät schon. Das führte ihn dazu etwas mehr auf sein Tablett zu laden, als er es sonst getan hätte. Mehrere Schnitten Brot, zwei gekochte Eier, Käsescheiben, Marmelade und noch eine Schale Müsli, über das er reichlich frische Milch goss.
Am Platz warf er einen Blick auf das Tablett von Vasil. Dieses war im Vergleich zu seinem nur mit einem Häufchen bedeckt. Ein Hörnchen, ein Brot, eine Portion Butter und Marmelade – Aprikose. Tonke schaute auf die pludrige Bluse und verglich die Farben. Sie stimmten überein. Ob das ein weiterer Zufall war?
Mit großem Genuss begann er zu essen. Er war froh über die Gesellschaft. Vor allem, dass er von seinem Spleen mit den Käferlarven abgelenkt worden war und jetzt doch noch zu einem üppigen Frühstück kam. Nachdem er die erste Tasse Kaffee geleert hatte, holte er sich schnell noch eine zweite.
Zwischendurch warf Tonke immer wieder einen Blick auf Vasil, der sich sein Brot in winzige Häppchen geteilt und sie sich einzeln in den Mund steckte. Dazu trank er seinen Tee in kleinen Schlücken. Seine anmutige Art gefiel ihm. Er wünschte sich näheren Kontakt zu diesem femininen Menschen. Doch wusste er noch nicht, was ihre gemeinsamen Themen sein könnten.
„Es schmeckt gut hier, nicht wahr“, brachte er hervor, bemüht darum, den Austausch nicht ganz zum Erliegen kommen zu lassen. „Aber ein Bummel durch die Stadt, sich in eine Cafeteria setzen, das wäre doch auch reizvoll. Sie frühstücken nicht gerne in der Stadt?“
Das sei nicht prinzipiell der Fall, erwiderte der Besucher, mit einer für seine Körpergröße erstaunlich hohen Stimme. Doch beim letzten Mal habe er schlechte Erfahrungen gemacht. Seither habe er sich noch nicht wieder überwinden können, nach unten zu gehen.
„Schlechte Erfahrungen beim Frühstück?“, fragte Tonke verwundert. „War der Kaffee – entschuldigen Sie – der Tee kalt? Oder waren die Eier verdorben? Was hat Ihnen nicht behagt?“
Vasil schob mit der rechten Hand die hellbraunen Strähnen aus der Stirn. „Nein, da sind ein paar andere Sachen schief gelaufen“, sagte er den Kopf graziös bewegend. „Wenn es - dich interessiert, kann ich gerne davon berichten, aber es ist eine längere Geschichte.“
Der Besucher hatte vor der Anrede kurz gezögert und ihn dann geduzt. Tonke verstand das als Einladung zu einem vertraulicheren Ton und freute sich.
Sicher, bekräftigte er, das interessiere ihn sehr.
Vasil bestrich die zweite Hälfte seines Brotes mit Butter und Aprikosen-Marmelade. Er kaute genüsslich bis er fertig war. Dann rieb er sich mit der Serviette sorgfältig den Mund ab und begann mit seinem Bericht. … MLF



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