Dienstag, 19. März 2013

150 I - Eine Käferlarve berichtet

Wie Tonke an einem besonderen Stück Holz Käferlarven entdeckte und ihm ein femininer Mann von seinem verpatzten Frühstück in der Stadt berichtete.

In einem weitläufigen Gebäude am Hang über der Stadt war er zu Gast.
Am letzten Morgen machte er, weil er etwas zu früh aufgestanden war, einen Rundgang durchs Gebäude. Dabei geriet er im Basement in eine Holzwerkstatt. Ein rundes Stück Stammholz stach ihm ins Auge. Sein Querschnitt war von einer ungewohnt rötlichen Farbe. Ob es tatsächlich ein Stück Kiefernholz war, wie er spontan annahm? Er hob das runde Stück hoch und drehte es vor sich in den Lichtstrahlen, die durch die hohen Fenster des Basement-Raumes drangen. Die Schnittfläche aprikosenfarben, die Rinde silbern glänzend, ihre Vertiefungen bläulich schimmernd. Eine dickes Stammstück einer Eibe womöglich, rätselte er. Nein, dafür war die Rinde zu rau.
Vielleicht ein Abschnitt eines Aprikosenbaums oder eines Orangenbaums. Er hatte gelesen, dass der berühmte Redner Roms einen Tisch aus Zitronenholz besessen habe. Wenn Zitronenbäume so dicke Stämme bildeten, dass man von diesen einen Tisch zimmern konnte, warum sollte dann nicht auch der Stamm eines Aprikosenbaumes einen stattlichen Durchmesser annehmen? Allerdings war er skeptisch, was solche Überlieferungen anbetraf. Vieles von den Schriften der Alten war übertragen gemeint. Sie liebten es in Bildern zu sprechen. Wenn Cicero gesagt hatte, dass sein Tisch aus Zitronenholz bestünde, konnte er damit etwas ganz anderes gemeint haben. Tonke fiel ein Lieblingsspruch moderner Kabarettisten ein.
If live gives you lemons, make lemon juice
Das war gewiss nicht eine Aufforderung den Beruf zu wechseln, sondern ein Anstoß, den kabarettistischen Sprüchen die entsprechende Würze zu geben. Auf Ciceros Tisch übertragen, würde das bedeuten, dass sein Werk auf Grundlage bitterer, beziehungsweise saurer Erfahrungen entstanden war.
Tonke aber hatte ein wirkliches Stück Holz vor sich, jedenfalls sah es so aus.
Um die Holzart bestimmen zu können, klemmte er den einen halben Meter langen und im Durchmesser etwa eine Spanne dicken Holzzylinder in die Hobelbank ein. Er musste die Zange weit aufdrehen, um ihn fassen zu können. Unten war eine Verdickung dran, die von abgeschnittenen Ästen herrührte. Es handelte sich also genau genommen um einen Teil der Krone des Baumes.
Er legte seinen Rucksack ab, öffnete den Werkzeugschrank an der Wand und entnahm diesem eine Feinsäge, ein breites Metallblatt mit Sägezähnen und einem Griff daran. Um ein kurzes Stück runter zu schneiden, würde dieses einfache Werkzeug wohl ausreichen. Er brauchte ja nur eine kleine Fläche freilegen, dann würde er die Holztextur zu Gesicht bekommen. Die Säge war gut scharf. Er kam schnell voran. Etwas allerdings befremdete ihn. Mit jedem Schnitt hörte er einen krabbelnden Laut, der sich deutlich vom Sägegeräusch unterschied. Ihm war, als steckten irgendwelche Viecher unter der Borke und würden aus dem Holz geschüttelt oder geweckt. Da er begierig war, die Textur zu sehen, achtete er nicht weiter darauf. Mit der Säge einige Zentimeter tiefer gedrungen war, zog er diese heraus und schnitt von vorne vorsichtig durch die Borke, bis er das Rindenstück entfernen konnte und ein Stück Längsholz zu Gesicht bekam.
Die Maserung war schillernd, die Farbe apricot oder orange, genau konnte er es nicht sagen. Dieses Holz war ihm unbekannt, das musste er sich eingestehen.
Ihm gefiel dieses Holz so gut, dass er sich daran machte, ein Stück davon abzuschneiden. Erst befreite er ein längeres Stück von der Borke, indem er den Probeschnitt fortsetzte.
Als er mit der Säge nahe an den eingespannten Bereich kam, hörte er wieder das Rascheln. Er sah jetzt auch, wie etwas aus dem Rundholz nach unten fiel. Er bückte sich, fand aber kein Insekt am Boden. Es handelte sich gewiss um Larven, die unter der Borke ihre Flugzeit erwartet hatten. Er kniete sich sogar auf den Boden, konnte aber keinerlei Insekt entdecken. Es war als lösten sich die dunklen, fallenden Larven bei Berührung des Bodens in Luft auf.
Mehr als das Holz interessieren ihn nun plötzlich diese Insekten. Das hatte er noch nie gehört, dass ausschlüpfende Insekten nicht sichtbar sein sollten. Es war wie ein Traum, eben noch ganz deutlich, löste er sich einfach in nichts auf. Die schwarzen Schatten waren etwa einen halben Meter weit sichtbar. In der Nähe des Bodens aber verschwanden sie auf unerklärliche Weise. Vielleicht würde er, wenn er die Insekten abfangen konnte, ihre Gestalt erkennen.
Tonke ging zu seinem Rucksack und entnahm diesem eine weiße Tüte aus Papier. Diese hielt er unter die Stelle, wo er die meisten Schatten hatte ausfliegen sehen. Dann setzte er die Säge an und bewegte sie kurz. Sofort fing das Rascheln an. Er spürte eine Bewegung. Die Tüte veränderte sich. Er hob sie hoch und blickte hinein. Da war was, aber er konnte nichts sehen. Keinen Flügel, keine Fühler, keine Beine, erst recht keinen Käfer, aber die Tüte fühlte sich anders an. Er hätte schwören mögen, dass da etwas drin war. Er verschloss die Tüte, indem er sie oben zusammenpresste und das Papier vorsichtig umfaltete.
Das Interesse an dem besonderen Holz hatte er plötzlich verloren. Er war nur noch erpicht zu erfahren, was in der Tüte drin stecken könnte. Das Licht in der Werkstatt konnte täuschen. Deshalb verließ er den Raum im Basement und ging mit der Tüte nach oben.
Für die Zeit seines Aufenthalts wohnte Tonke in einem Zimmer mit zwei raumhohen Fenstern, durch die viel Licht eindrang. Ein Sessel und eine Matratze auf einem niedrigen Rost waren die bestimmenden Möbel. Außer dem Bett und dem Sessel war da noch eine niedrige Kommode, die man am Boden sitzend auch als Pult verwenden konnte. Der Raum war von einer geradezu japanischen Schlichtheit und strahlte Ruhe und Strenge aus. Diese Nüchternheit gefiel Tonke. Er fand sie für sein Experiment genau richtig. Wenn das Insekt ausschlüpfte, würde es sich nicht verstecken können.
Er bedeckte das Bett mit der Tagesdecke, stieß die herumliegenden Kleider mit dem Fuß an die Wand und positionierte die Papiertüte in der Mitte des Raumes, zwischen Bett und Sessel. Er richtete den Falz des Papiers wieder hoch und strich ihn glatt. So würde sich die Tüte von selbst langsam öffnen. Er stelzte rückwärts und setzte sich, ohne den Blick von der Papiertüte zu lassen, im Schneidersitz aufs Bett. Etwas würde er nun zu Gesicht bekommen. Welcher Art es war, wusste er nicht. Ob es ein schöner Schmetterling sein würde, mit zarten, durchsichtigen Flügeln oder ein schillernder Käfer, der langsam seine harten Deckflügel ausbreitete, blieb noch offen. Das Fenster würde er erst öffnen, wenn er das Insekt eine Weile lang beobachtet hatte. Die Tüte ging weiter auf, blieb aber halb offen stehen. Das geschah durch die Dehnung des Papiers, das nicht mehr durch den Falz gehalten war. Noch konnte er nichts Auffälliges entdecken. Womöglich musste er sich eine Weile gedulden. Aber er vertraute darauf, wenn er nur lange genug wartete, würde sich das Geheimnis enthüllen. Schade, dass er noch nicht gefrühstückt hatte.
Tonke war, weil er noch nicht hungrig gewesen war, durch das Gebäude geschlendert und hatte zwei Stockwerke tiefer die Werkstatt entdeckt. Da war ihm das besondere Holzstück aufgefallen. Alles Weitere hatte sich wie durch ein sonderbares Geschick ergeben. Das Interesse am aprikosenfarbenen Holz hatte zur Entdeckung der Larven geführt, die er nur als Schatten hatte wahrnehmen können. Dass er auf dieses Holz gestoßen war, konnte kein Zufall sein. Jemand musste es mit Absicht dort hingestellt haben – gut sichtbar. Davon war er überzeugt.
Er konzentrierte sich wieder auf die Tüte. Sie stand noch am selben Ort, unverändert. Und doch, sie war nicht mehr gleich. Er spürte, dass sie ihre besondere Dichte verloren hatte. Da war kein Inhalt mehr drin.
Ich habe sie wohl mit den Augen betrachtet, aber in Gedanken losgelassen, gestand er mit Bedauern. Jetzt war es eben doch passiert. Was er hatte sehen wollen, war ihm entschlüpft. Enttäuscht löste er den Blick von der Tüte und hob ihn an. Da erschrak er. … MLF

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