Wie Tonke an einem besonderen Stück Holz Käferlarven entdeckte
und ihm ein femininer Mann von seinem verpatzten Frühstück in der Stadt
berichtete.
In einem weitläufigen Gebäude am Hang über der Stadt war er zu
Gast.
Am letzten Morgen machte er, weil er etwas zu früh aufgestanden
war, einen Rundgang durchs Gebäude. Dabei geriet er im Basement in eine
Holzwerkstatt. Ein rundes Stück Stammholz stach ihm ins Auge. Sein Querschnitt
war von einer ungewohnt rötlichen Farbe. Ob es tatsächlich ein Stück
Kiefernholz war, wie er spontan annahm? Er hob das runde Stück hoch und drehte
es vor sich in den Lichtstrahlen, die durch die hohen Fenster des Basement-Raumes
drangen. Die Schnittfläche aprikosenfarben, die Rinde silbern glänzend, ihre
Vertiefungen bläulich schimmernd. Eine dickes Stammstück einer Eibe womöglich,
rätselte er. Nein, dafür war die Rinde zu rau.
Vielleicht ein Abschnitt eines Aprikosenbaums oder eines
Orangenbaums. Er hatte gelesen, dass der berühmte Redner Roms einen Tisch aus
Zitronenholz besessen habe. Wenn Zitronenbäume so dicke Stämme bildeten, dass
man von diesen einen Tisch zimmern konnte, warum sollte dann nicht auch der
Stamm eines Aprikosenbaumes einen stattlichen Durchmesser annehmen? Allerdings
war er skeptisch, was solche Überlieferungen anbetraf. Vieles von den Schriften
der Alten war übertragen gemeint. Sie liebten es in Bildern zu sprechen. Wenn
Cicero gesagt hatte, dass sein Tisch aus Zitronenholz bestünde, konnte er damit
etwas ganz anderes gemeint haben. Tonke fiel ein Lieblingsspruch moderner
Kabarettisten ein.
If live gives you lemons, make lemon juice
Das war gewiss nicht eine Aufforderung den Beruf zu wechseln,
sondern ein Anstoß, den kabarettistischen Sprüchen die entsprechende Würze zu geben.
Auf Ciceros Tisch übertragen, würde das bedeuten, dass sein Werk auf Grundlage
bitterer, beziehungsweise saurer Erfahrungen entstanden war.
Tonke aber hatte ein wirkliches Stück Holz vor sich, jedenfalls
sah es so aus.
Um die Holzart bestimmen zu können, klemmte er den einen halben
Meter langen und im Durchmesser etwa eine Spanne dicken Holzzylinder in die
Hobelbank ein. Er musste die Zange weit aufdrehen, um ihn fassen zu können. Unten
war eine Verdickung dran, die von abgeschnittenen Ästen herrührte. Es handelte
sich also genau genommen um einen Teil der Krone des Baumes.
Er legte seinen Rucksack ab, öffnete den Werkzeugschrank an der
Wand und entnahm diesem eine Feinsäge, ein breites Metallblatt mit Sägezähnen
und einem Griff daran. Um ein kurzes Stück runter zu schneiden, würde dieses
einfache Werkzeug wohl ausreichen. Er brauchte ja nur eine kleine Fläche
freilegen, dann würde er die Holztextur zu Gesicht bekommen. Die Säge war gut
scharf. Er kam schnell voran. Etwas allerdings befremdete ihn. Mit jedem
Schnitt hörte er einen krabbelnden Laut, der sich deutlich vom Sägegeräusch
unterschied. Ihm war, als steckten irgendwelche Viecher unter der Borke und
würden aus dem Holz geschüttelt oder geweckt. Da er begierig war, die Textur zu
sehen, achtete er nicht weiter darauf. Mit der Säge einige Zentimeter tiefer
gedrungen war, zog er diese heraus und schnitt von vorne vorsichtig durch die
Borke, bis er das Rindenstück entfernen konnte und ein Stück Längsholz zu
Gesicht bekam.
Die Maserung war schillernd, die Farbe apricot oder orange, genau
konnte er es nicht sagen. Dieses Holz war ihm unbekannt, das musste er sich
eingestehen.
Ihm gefiel dieses Holz so gut, dass er sich daran machte, ein
Stück davon abzuschneiden. Erst befreite er ein längeres Stück von der Borke,
indem er den Probeschnitt fortsetzte.
Als er mit der Säge nahe an den eingespannten Bereich kam, hörte
er wieder das Rascheln. Er sah jetzt auch, wie etwas aus dem Rundholz nach
unten fiel. Er bückte sich, fand aber kein Insekt am Boden. Es handelte sich
gewiss um Larven, die unter der Borke ihre Flugzeit erwartet hatten. Er kniete
sich sogar auf den Boden, konnte aber keinerlei Insekt entdecken. Es war als
lösten sich die dunklen, fallenden Larven bei Berührung des Bodens in Luft auf.
Mehr als das Holz interessieren ihn nun plötzlich diese Insekten.
Das hatte er noch nie gehört, dass ausschlüpfende Insekten nicht sichtbar sein
sollten. Es war wie ein Traum, eben noch ganz deutlich, löste er sich einfach
in nichts auf. Die schwarzen Schatten waren etwa einen halben Meter weit
sichtbar. In der Nähe des Bodens aber verschwanden sie auf unerklärliche Weise.
Vielleicht würde er, wenn er die Insekten abfangen konnte, ihre Gestalt
erkennen.
Tonke ging zu seinem Rucksack und entnahm diesem eine weiße Tüte
aus Papier. Diese hielt er unter die Stelle, wo er die meisten Schatten hatte
ausfliegen sehen. Dann setzte er die Säge an und bewegte sie kurz. Sofort fing
das Rascheln an. Er spürte eine Bewegung. Die Tüte veränderte sich. Er hob sie
hoch und blickte hinein. Da war was, aber er konnte nichts sehen. Keinen Flügel,
keine Fühler, keine Beine, erst recht keinen Käfer, aber die Tüte fühlte sich
anders an. Er hätte schwören mögen, dass da etwas drin war. Er verschloss die
Tüte, indem er sie oben zusammenpresste und das Papier vorsichtig umfaltete.
Das Interesse an dem besonderen Holz hatte er plötzlich verloren.
Er war nur noch erpicht zu erfahren, was in der Tüte drin stecken könnte. Das
Licht in der Werkstatt konnte täuschen. Deshalb verließ er den Raum im Basement
und ging mit der Tüte nach oben.
Für die Zeit seines Aufenthalts wohnte Tonke in einem Zimmer mit
zwei raumhohen Fenstern, durch die viel Licht eindrang. Ein Sessel und eine
Matratze auf einem niedrigen Rost waren die bestimmenden Möbel. Außer dem Bett
und dem Sessel war da noch eine niedrige Kommode, die man am Boden sitzend auch
als Pult verwenden konnte. Der Raum war von einer geradezu japanischen Schlichtheit
und strahlte Ruhe und Strenge aus. Diese Nüchternheit gefiel Tonke. Er fand sie
für sein Experiment genau richtig. Wenn das Insekt ausschlüpfte, würde es sich
nicht verstecken können.
Er bedeckte das Bett mit der Tagesdecke, stieß die herumliegenden
Kleider mit dem Fuß an die Wand und positionierte die Papiertüte in der Mitte
des Raumes, zwischen Bett und Sessel. Er richtete den Falz des Papiers wieder
hoch und strich ihn glatt. So würde sich die Tüte von selbst langsam öffnen. Er
stelzte rückwärts und setzte sich, ohne den Blick von der Papiertüte zu lassen,
im Schneidersitz aufs Bett. Etwas würde er nun zu Gesicht bekommen. Welcher Art
es war, wusste er nicht. Ob es ein schöner Schmetterling sein würde, mit
zarten, durchsichtigen Flügeln oder ein schillernder Käfer, der langsam seine
harten Deckflügel ausbreitete, blieb noch offen. Das Fenster würde er erst
öffnen, wenn er das Insekt eine Weile lang beobachtet hatte. Die Tüte ging
weiter auf, blieb aber halb offen stehen. Das geschah durch die Dehnung des
Papiers, das nicht mehr durch den Falz gehalten war. Noch konnte er nichts
Auffälliges entdecken. Womöglich musste er sich eine Weile gedulden. Aber er
vertraute darauf, wenn er nur lange genug wartete, würde sich das Geheimnis
enthüllen. Schade, dass er noch nicht gefrühstückt hatte.
Tonke war, weil er noch nicht hungrig gewesen war, durch das
Gebäude geschlendert und hatte zwei Stockwerke tiefer die Werkstatt entdeckt.
Da war ihm das besondere Holzstück aufgefallen. Alles Weitere hatte sich wie
durch ein sonderbares Geschick ergeben. Das Interesse am aprikosenfarbenen Holz
hatte zur Entdeckung der Larven geführt, die er nur als Schatten hatte
wahrnehmen können. Dass er auf dieses Holz gestoßen war, konnte kein Zufall
sein. Jemand musste es mit Absicht dort hingestellt haben – gut sichtbar. Davon
war er überzeugt.
Er konzentrierte sich wieder auf die Tüte. Sie stand noch am
selben Ort, unverändert. Und doch, sie war nicht mehr gleich. Er spürte, dass
sie ihre besondere Dichte verloren hatte. Da war kein Inhalt mehr drin.
Ich habe sie wohl mit den Augen betrachtet, aber in Gedanken
losgelassen, gestand er mit Bedauern. Jetzt war es eben doch passiert. Was er
hatte sehen wollen, war ihm entschlüpft. Enttäuscht löste er den Blick von der
Tüte und hob ihn an. Da erschrak er. … MLF
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