Samstag, 9. März 2013

149 II Herrlisberg - Start mit Ami-Schlitten



Wie einst ein biblisches Paar in die Stadt seiner Väter zog, um sich der Zählung zu stellen, so begab sich Wendy zum Home, um von dort aus seine Ernte nach Herrlisberg zu tragen. Home, das freistehende Elternhaus, gehörte zum ländlichen Heimen und war umfriedet von den Höfen mehrerer Clans von Viehhaltern. Sie hießen mit Nachnamen alle Fleischer, grenzten sich aber stark voneinander ab. Die Viehrasse, die sie hielten, war eine ungewöhnliche Rasse. Man sagte, dass sie aus Indien stamme. Diese Rinder hatten ein hellbraunes, wolliges Fell, das völlig zerzaust war. Scheinbar willkürlich hingen über dem Fell dichte Knäuel von Wolle, bei den einen am Hals, bei den anderen am Rücken, bei wieder anderen am Hinterteil oder an den Beinen. Das verlieh den ansonsten schon unproportionierten Tieren nicht gerade ein ästhetisches Äußeres. Aber darauf kam es ja nicht an. Bei Kühen war wichtig, dass sie viel Milch gaben. Das taten sie bestimmt, sonst hätten sie sie ja nicht gehalten.
Da Wendy zwischen den Viehhaltern aufgewachsen war, fühlte er sich eng mit ihnen verbunden. Deshalb startete er seine Fahrt nach Herrlisberg vom Molkereiplatz aus, auf dem sie sich jeden Morgen und Abend bei der Milchabgabe trafen.
Der Wagen, den er sich für diese Fahrt ausgeliehen hatte, stammte aber nicht von ihnen, sondern von Olaf, einem hochbegabten Wissenschaftler und Physiker, den er an der höheren Schule kennen gelernt hatte. Olaf lieh ihm ein ausgezeichnetes Fahrzeug, seinen stattlichen Ami-Schlitten aus den Fünfzigern, mehr ein Schiff als ein Automobil. Auf dem Molkerei-Platz hatte sich Alt und Jung versammelt und bestaunte seinen tollen Wagen. Sein gleichaltriger Freund unter den Viehaltern kam mit einer Trage, einem Korb für den Rücken, wie ihn die Winzer bei der Ernte nutzen. Er öffnete den Kofferraum und steckte den Korb hinein. Anscheinend hatte man früher diese Trage benutzt, wenn man zum Herrlisberg aufbrach. Was soll ich damit? fragte sich Wendy. Aber aus Höflichkeit protestierte er nicht. Beim Abschied winkten alle. Manche sahen ihm neidvoll nach. Sie wären gerne mitgefahren, aber sie hatten keine Zeit. Dadurch, dass die Vertreiber der Milch ihre Verdienste immer weiter schmälerten, wurde ihre Arbeit ja nicht weniger.
Was für ein Fahren, in diesem gut gefederten, leicht schwingenden Automobil. Es war mehr ein Schweben, als ein hartes Fahren. Auf der Schnellstraße durch das große Moor von Heimen zum Schulort kurbelte Wendy die Scheibe nach unten und ließ den Wind in die Haare pusten. In Gedanken glitt er in seine Schulzeit zurück, in der er auf einer fortführenden Schule all die wichtigen Sparten kennen gelernt hatte, die die Grundlage der modernen Zivilisation ausmachten. Mathematik, Biologie, Physik und Chemie, sie hatten das Leben von Grund auf verändert. Allen voran die clevere Physik mit ihrem tatkräftigen Gatten Technik, den man nicht genug loben konnte. Erst recht, wenn man in einem so prächtigen Automobil, wie dem seinen, dahin flitzte. Solche Gedanken gingen Wendy durch den Kopf, während er in rauschender Fahrt durch die Moorebene glitt und auch, dass niemandem mehr zuzumuten wäre, eine Strecke, wie die von Heimen zum Schulort, im Schneckengang eines Fußgängers zurückzulegen. Kaum von Home losgefahren nahte er sich schon der Abzweigung vor dem Schulort.
Als es die Ausfahrt von der planen Schnellstraße auf die alte Straße hoch ging, rollte das Automobil plötzlich nicht mehr so glatt. Olafs Wagen fing an zu stocken und blieb schließlich sogar stehen. Da zeigte sich ein Nachteil dieses großspurigen Gefährts. Der Motor war nicht für Steigungen ausgelegt. Wendy musste aussteigen und nachhelfen. Mit der Linken presste er gegen den Türrahmen, mit der Rechten hielt er das Steuer. So schob er den schweren Wagen mit ziemlichem Kraftaufwand zur alten Straße hoch. Während er geradeaus weiter fuhr, fragte er sich besorgt, wie er mit diesem Glanzprodukt von Physiks Gatten den steilen Weg zum Herrlisberg hoch schaffen sollte. Die Ernüchterung war groß, aber es blieb ihm keine andere Wahl, er musste den schwerfälligen Wagen auf den Parkplatz der Firma Haag, die ihren Sitz am Ortseingang hatte, abstellen. Welch eine Ironie des Schicksals. In dieser modernen Zeit hatte er den Weg zu den Gefilden des Herrn wie vormals ein reumütiger Pilger auf Schusters Rappen zu gehen. Da war er plötzlich froh, dass ihm sein Freund, der Viehalter, einen Tragekorb für den Extrakt seiner Arbeit mitgegeben hatte. Er holte den Tragekorb heraus, steckte seine Ernte hinein und schickte sich an, den weiteren Weg zu Fuß zu gehen.

Im Laufe seines früheren Umherziehens hatte Wendy viele Freundschaften geschlossen. Nach den Viehaltern und nach Olaf dem Wissenschaftler, war er noch vielen andern Personen begegnet. Jede von ihnen gehörte zu einem anderen Aspekt des vielgestaltigen Lebens. Vielleicht die ungewöhnlichste Person von allen war Astrid gewesen, eine kesse Frau, von der er gar nicht wusste, wo sie zu Hause war. Manchmal dachte er, dass sie von einem anderen Stern stamme. Sie galt ihm aber als einer der patentesten und wendigsten Freunde. Durch einen wunderlichen Zufall traf er ausgerechnet diese Person in dem vertrackten Moment.
Wendy war gerade mit den Armen unter die Ledergurten seiner Trage geschlüpft, als ihn jemand ansprach.
„Ach, ist Erntezeit?“, wurde er gefragt.
Die verschmitzte Stimme kam ihm bekannt vor. Für einen Moment glaubte er nicht richtig zu sehen und rieb sich mit der rechten Hand erst das eine, dann das andere Auge. Vor ihm stand seine Freundin, die er lange nicht getroffen hatte.
Astrid sah ihn an mit seinem roten Kopf und den verschwitzten Kleidern und wusste sofort Bescheid. Wendy überlegte, wo er beginnen sollte. Aber dann brach es aus ihm heraus.
„Den Weg die Ziegensteige hoch werde ich wohl zu Fuß machen müssen.“ Er wies mit der Hand abfällig auf Olafs großen Wagen und sagte. „An die Strecken abseits ihrer Schnellstraßen haben diese Tüftler und Verwandler unseres Lebens wohl nicht gedacht. Ich bin kaum die Ausfahrt hochgekommen, wie sollte ich da mit einem solchen Fahrzeug die Ziegensteige schaffen.“
„So, geht’s nach Herrlisberg?“, fragte sie und reichte ihm umsichtig ein Taschentuch.
Er wischte sich den Schweiß von Gesicht und Hals.
„Fahrten außerhalb halten die auch nicht für wünschenswert“, bemerkte sie mit skeptischem Ausdruck. „Die wollen dich ja auf ihren Bahnen halten, in ihrer Welt.“
„Da magst du Recht haben. So deutlich ist mir das bisher nur nicht bewusst geworden.“
„Der Weg nach Herrlisberg hat schon manche dazu geführt, das Leben unter einem andern Blickwinkel zu betrachten“, sagte sie mit ernster Miene.
Wendy wunderte sich, dass sie sein Ziel erraten hatte.
Astrid mochte nicht, wenn einer ihrer Freund in der Patsche steckte und nicht herausfand. Deshalb beschloss sie Wendy etwas unter die Arme zu greifen.
„Hör mir zu“, sagte sie. „Wie wär’s mit einem Tausch? Du fährst für zwei, drei Stunden mit meinem kleinen Wagen und ich drehe mal eine Runde in deinem tollen Schlitten?“
Ob sie auch mit dem Auto da sei, fragte Wendy verwundert. Er denke sie fliege nur.
Aber nein, natürlich habe sie einen Wagen, entgegnete sie. Dieser habe nur leider die technische Prüfung für die Schnellstraße nicht bestanden, aber auf den alten Straßen könne man sich damit sehr wohl bewegen.
Sie führte Wendy zu einem Auto, an dem alles rund schien. Er hätte gar nicht gedacht, dass an einem Wagen so viel rund sein konnte.
„Was ist das für eine Marke?“, fragte er verwundert.
„Das ist die Marke Pi“, gab sie zur Antwort.
„Nie gehört“, brummte Wendy, „die scheinen Rundungen zu lieben.“
Astrid streckte ihm lachend die offene Hand mit dem Schlüssel entgegen und nahm seinen in Empfang.
So kam es, dass Wendy den Weg nach Herrlisberg doch fahren konnte.
Die wirklich sehr steile Ziegensteige hoch, nach Herrlisberg, bereitete dem kleinen runden Wagen überhaupt keine Probleme. Von der Form her, war er entfernt dem Ka-Modell verwandt. In der Leistung übertraf er diesen aber bei weitem. Der Bergrücken über der Ziegensteige war von einem dichten Wald bedeckt. Als Wendy diesen durchquerte, bemerkte er nicht, dass dies kein gewöhnlicher Wald sein konnte. Erst als er sich dahinter plötzlich in einer ganz anders anmutenden Welt befand, wurde ihm dies bewusst. MLF

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