Wie einst ein biblisches Paar in die Stadt seiner Väter zog, um
sich der Zählung zu stellen, so begab sich Wendy zum Home, um von dort aus
seine Ernte nach Herrlisberg zu tragen. Home, das freistehende Elternhaus,
gehörte zum ländlichen Heimen und war umfriedet von den Höfen mehrerer Clans
von Viehhaltern. Sie hießen mit Nachnamen alle Fleischer, grenzten sich aber
stark voneinander ab. Die Viehrasse, die sie hielten, war eine ungewöhnliche
Rasse. Man sagte, dass sie aus Indien stamme. Diese Rinder hatten ein
hellbraunes, wolliges Fell, das völlig zerzaust war. Scheinbar willkürlich
hingen über dem Fell dichte Knäuel von Wolle, bei den einen am Hals, bei den
anderen am Rücken, bei wieder anderen am Hinterteil oder an den Beinen. Das verlieh
den ansonsten schon unproportionierten Tieren nicht gerade ein ästhetisches
Äußeres. Aber darauf kam es ja nicht an. Bei Kühen war wichtig, dass sie viel
Milch gaben. Das taten sie bestimmt, sonst hätten sie sie ja nicht gehalten.
Da Wendy zwischen den Viehhaltern aufgewachsen war, fühlte er
sich eng mit ihnen verbunden. Deshalb startete er seine Fahrt nach Herrlisberg
vom Molkereiplatz aus, auf dem sie sich jeden Morgen und Abend bei der Milchabgabe
trafen.
Der Wagen, den er sich für diese Fahrt ausgeliehen hatte, stammte
aber nicht von ihnen, sondern von Olaf, einem hochbegabten Wissenschaftler und
Physiker, den er an der höheren Schule kennen gelernt hatte. Olaf lieh ihm ein
ausgezeichnetes Fahrzeug, seinen stattlichen Ami-Schlitten aus den Fünfzigern,
mehr ein Schiff als ein Automobil. Auf dem Molkerei-Platz hatte sich Alt und
Jung versammelt und bestaunte seinen tollen Wagen. Sein gleichaltriger Freund
unter den Viehaltern kam mit einer Trage, einem Korb für den Rücken, wie ihn
die Winzer bei der Ernte nutzen. Er öffnete den Kofferraum und steckte den Korb
hinein. Anscheinend hatte man früher diese Trage benutzt, wenn man zum
Herrlisberg aufbrach. Was soll ich damit? fragte sich Wendy. Aber aus
Höflichkeit protestierte er nicht. Beim Abschied winkten alle. Manche sahen ihm
neidvoll nach. Sie wären gerne mitgefahren, aber sie hatten keine Zeit.
Dadurch, dass die Vertreiber der Milch ihre Verdienste immer weiter
schmälerten, wurde ihre Arbeit ja nicht weniger.
Was für ein Fahren, in diesem gut gefederten, leicht schwingenden
Automobil. Es war mehr ein Schweben, als ein hartes Fahren. Auf der
Schnellstraße durch das große Moor von Heimen zum Schulort kurbelte Wendy die
Scheibe nach unten und ließ den Wind in die Haare pusten. In Gedanken glitt er
in seine Schulzeit zurück, in der er auf einer fortführenden Schule all die
wichtigen Sparten kennen gelernt hatte, die die Grundlage der modernen
Zivilisation ausmachten. Mathematik, Biologie, Physik und Chemie, sie hatten das
Leben von Grund auf verändert. Allen voran die clevere Physik mit ihrem tatkräftigen
Gatten Technik, den man nicht genug loben konnte. Erst recht, wenn man in einem
so prächtigen Automobil, wie dem seinen, dahin flitzte. Solche Gedanken gingen Wendy
durch den Kopf, während er in rauschender Fahrt durch die Moorebene glitt und
auch, dass niemandem mehr zuzumuten wäre, eine Strecke, wie die von Heimen zum
Schulort, im Schneckengang eines Fußgängers zurückzulegen. Kaum von Home
losgefahren nahte er sich schon der Abzweigung vor dem Schulort.
Als es die Ausfahrt von der planen Schnellstraße auf die alte
Straße hoch ging, rollte das Automobil plötzlich nicht mehr so glatt. Olafs
Wagen fing an zu stocken und blieb schließlich sogar stehen. Da zeigte sich ein
Nachteil dieses großspurigen Gefährts. Der Motor war nicht für Steigungen
ausgelegt. Wendy musste aussteigen und nachhelfen. Mit der Linken presste er
gegen den Türrahmen, mit der Rechten hielt er das Steuer. So schob er den
schweren Wagen mit ziemlichem Kraftaufwand zur alten Straße hoch. Während er geradeaus
weiter fuhr, fragte er sich besorgt, wie er mit diesem Glanzprodukt von Physiks
Gatten den steilen Weg zum Herrlisberg hoch schaffen sollte. Die Ernüchterung
war groß, aber es blieb ihm keine andere Wahl, er musste den schwerfälligen
Wagen auf den Parkplatz der Firma Haag, die ihren Sitz am Ortseingang hatte,
abstellen. Welch eine Ironie des Schicksals. In dieser modernen Zeit hatte er
den Weg zu den Gefilden des Herrn wie vormals ein reumütiger Pilger auf
Schusters Rappen zu gehen. Da war er plötzlich froh, dass ihm sein Freund, der
Viehalter, einen Tragekorb für den Extrakt seiner Arbeit mitgegeben hatte. Er
holte den Tragekorb heraus, steckte seine Ernte hinein und schickte sich an,
den weiteren Weg zu Fuß zu gehen.
Im Laufe seines früheren Umherziehens hatte Wendy viele
Freundschaften geschlossen. Nach den Viehaltern und nach Olaf dem
Wissenschaftler, war er noch vielen andern Personen begegnet. Jede von ihnen
gehörte zu einem anderen Aspekt des vielgestaltigen Lebens. Vielleicht die
ungewöhnlichste Person von allen war Astrid gewesen, eine kesse Frau, von der er
gar nicht wusste, wo sie zu Hause war. Manchmal dachte er, dass sie von einem
anderen Stern stamme. Sie galt ihm aber als einer der patentesten und
wendigsten Freunde. Durch einen wunderlichen Zufall traf er ausgerechnet diese
Person in dem vertrackten Moment.
Wendy war gerade mit den Armen unter die Ledergurten seiner Trage
geschlüpft, als ihn jemand ansprach.
„Ach, ist Erntezeit?“, wurde er gefragt.
Die verschmitzte Stimme kam ihm bekannt vor. Für einen Moment
glaubte er nicht richtig zu sehen und rieb sich mit der rechten Hand erst das
eine, dann das andere Auge. Vor ihm stand seine Freundin, die er lange nicht
getroffen hatte.
Astrid sah ihn an mit seinem roten Kopf und den verschwitzten
Kleidern und wusste sofort Bescheid. Wendy überlegte, wo er beginnen sollte.
Aber dann brach es aus ihm heraus.
„Den Weg die Ziegensteige hoch werde ich wohl zu Fuß machen
müssen.“ Er wies mit der Hand abfällig auf Olafs großen Wagen und sagte. „An
die Strecken abseits ihrer Schnellstraßen haben diese Tüftler und Verwandler
unseres Lebens wohl nicht gedacht. Ich bin kaum die Ausfahrt hochgekommen, wie
sollte ich da mit einem solchen Fahrzeug die Ziegensteige schaffen.“
„So, geht’s nach Herrlisberg?“, fragte sie und reichte ihm umsichtig
ein Taschentuch.
Er wischte sich den Schweiß von Gesicht und Hals.
„Fahrten außerhalb halten die auch nicht für wünschenswert“, bemerkte
sie mit skeptischem Ausdruck. „Die wollen dich ja auf ihren Bahnen halten, in
ihrer Welt.“
„Da magst du Recht haben. So deutlich ist mir das bisher nur
nicht bewusst geworden.“
„Der Weg nach Herrlisberg hat schon manche dazu geführt, das
Leben unter einem andern Blickwinkel zu betrachten“, sagte sie mit ernster
Miene.
Wendy wunderte sich, dass sie sein Ziel erraten hatte.
Astrid mochte nicht, wenn einer ihrer Freund in der Patsche
steckte und nicht herausfand. Deshalb beschloss sie Wendy etwas unter die Arme
zu greifen.
„Hör mir zu“, sagte sie. „Wie wär’s mit einem Tausch? Du fährst
für zwei, drei Stunden mit meinem kleinen Wagen und ich drehe mal eine Runde in
deinem tollen Schlitten?“
Ob sie auch mit dem Auto da sei, fragte Wendy verwundert. Er
denke sie fliege nur.
Aber nein, natürlich habe sie einen Wagen, entgegnete sie. Dieser
habe nur leider die technische Prüfung für die Schnellstraße nicht bestanden,
aber auf den alten Straßen könne man sich damit sehr wohl bewegen.
Sie führte Wendy zu einem Auto, an dem alles rund schien. Er
hätte gar nicht gedacht, dass an einem Wagen so viel rund sein konnte.
„Was ist das für eine Marke?“, fragte er verwundert.
„Das ist die Marke Pi“, gab sie zur Antwort.
„Nie gehört“, brummte Wendy, „die scheinen Rundungen zu lieben.“
Astrid streckte ihm lachend die offene Hand mit dem Schlüssel
entgegen und nahm seinen in Empfang.
So kam es, dass Wendy den Weg nach Herrlisberg doch fahren
konnte.
Die wirklich sehr steile Ziegensteige hoch, nach Herrlisberg,
bereitete dem kleinen runden Wagen überhaupt keine Probleme. Von der Form her,
war er entfernt dem Ka-Modell verwandt. In der Leistung übertraf er diesen aber
bei weitem. Der Bergrücken über der Ziegensteige war von einem dichten Wald
bedeckt. Als Wendy diesen durchquerte, bemerkte er nicht, dass dies kein
gewöhnlicher Wald sein konnte. Erst als er sich dahinter plötzlich in einer
ganz anders anmutenden Welt befand, wurde ihm dies bewusst. MLF
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