Freitag, 8. März 2013

149 I Herrlisberg - Das Gesicht eines Granatapfels



Wie Wendy – lange nichts gehört von ihm – die Gefilde des Herrn in Herrlisberg aufsuchte.



Wieder ging ein Arbeitstag zur Ende. Es handelte sich um eine große Einrichtung, in der er tätig war. Auf der Rückseite des weitläufigen Gebäudes hatte sich einiges an Restholz angesammelt, vorwiegend Plattenstreifen unterschiedlichen Formats. Wendy hatte sich vorgenommen, dieses noch aufzuräumen, bevor er seinen Arbeitstag beschloss. Er stand draußen, als Elisabeth vom Flur her in den Raum mit der Außentür trat.

„Bist du noch immer nicht fertig“, rief sie. Für seine Gründlichkeit schien sie kein Verständnis zu haben. Der Ton erinnerte ihn an ihre Hochzeit mit Beat. Ein Frösteln lief ihm über den Rücken. Dort hatte sie ihm, Wendy, vor der versammelten Gästeschar bitterste Vorwürfe gemacht (85Vorwürfe bei der Hochzeit). Hätte er ihr gar nicht zugetraut, ihr, die aufgrund ihres vielsagenden Namens als eine Verehrerin des Herrn galt. Selbst als Wendy sie später bei ihrem Sohn besucht hatte, war er gescholten worden (86Elisabeths Sohn).

„Ich bin am Aufräumen“, rief Wendy und trat von draußen ins Türlicht, „so lange wirst du doch warten können.“

Nein, länger könne sie nicht warten, rief sie. Dem Ton ihrer Stimme war die Enttäuschung deutlich anzuhören.

„Mein Gott, ein paar Hölzer kleinzuschneiden, wird doch noch drin sein. Ich hab’s ja gleich“, rief ihr Wendy hinterher.

Elisabeth hatte ihn nicht mehr gehört. Sie war davor schon losgegangen.

Wenn er etwas hasste, dann war es, eine Arbeit unaufgeräumt zu hinterlassen. Aber nach ihrem Auftritt sagte er sich, dass er die Abfälle eigentlich auch später aufschneiden könnte. Er fürchtete, dass sie ernst machte und mit ihrer Truppe ohne ihn wegging. Also platzierte er die Holzstücke auf der Bank an der Hauswand, oben gegen die Mauer gelehnt. Auch wenn er sich bemühte, sie ordentlich auszurichten, ergab das kein sehr schönes Bild. Aber man muss auch mal etwas ungerade sein lassen können, sagte er halblaut zu sich. Es wird sich schon niemand beschweren.

Wendy ging eilig zur Garderobe, zog sich um und eilte an der Vorderseite durch den großen Hof zum Tor. Mit etwas Glück würde er Elisabeths Gruppe noch einholen.

Sie standen tatsächlich noch außerhalb des Tors. Doch nach ihm drehte sich niemand um. Selbst als er grüßte, „hallo, hier bin ich“, nahm man kaum Notiz von ihm. Sie hatten anscheinend nicht mehr mit ihm gerechnet. Elisabeth mied geflissentlich Wendys Blick. An ihrer Seite stand ein anderer. Der Mann an ihrer Seite bot einen seltsamen Anblick. Er war groß, sehr groß sogar, aber was für ein Gesicht. Wendy glaubte, er blicke auf eine Frucht mit vielen Wölbungen und einer Vertiefung, die die Blume der Frucht enthielt. An einen Granatapfel dachte er. Augen, Nase und Mund, wenn es sowas überhaupt gab, lagen in dieser Einbuchtung. Sie sahen den verdorrten Blättchen einer früheren Blüte ähnlicher, als den Sinnesorganen des Menschen. Um die Höflichkeit zu wahren und um sich gegenüber Elisabeth jovial zu verhalten, begrüßte er den großen Konkurrenten doch. Er tat dies mit einem förmlichen Kuss auf eine der vielen Ausbuchtungen dieses sonderbaren Gesichtes. Wendy geriet diese Geste etwas steif, wie man die Soutane eines Priesters küssen mochte. Oh, Elisabeth, auf wen hast du dich da eingelassen, dachte er dabei. Sobald die Begrüßung vollzogen war, setzte sich die Gruppe in Bewegung.

Von der Einrichtung gelangten sie auf eine städtische Straße, die auf einen Punkt im noch ziemlich weit entfernten Stadtkern zulief. Es war nicht Elisabeth, sondern Eike, die in der Gruppe den Ton angab.

„Seht ihr dort hinten die Querstraße?“, fragte sie. „Jenseits, links, das große Gebäude, das ist die Gaststätte ‚Sonne‘, dort wollen wir einkehren.“

 „Aber es ist doch gar nicht sicher, ob sie offen hat“, wandte Judy, die Zweiflerin, ein und verlangsamte den Schritt. „Was ist, wenn der Wirt überhaupt den Betrieb eingestellt hat?“

„Dann müssen wir eben sehen“, entgegnete Eike knapp. Sie breitete die Arme aus, als wolle sie alle umfangen und ging eine Spur schneller.

Judy gab sich noch nicht geschlagen. „Warum nicht in einer der hiesigen Gaststätten einkehren?“, schlug sie vor und wies auf einen soliden Riegelbau, der an ein Jägerhaus erinnerte. „Diese Gaststätte dort ist bekannt für eine gute Küche.“

Das von Judy empfohlene Gasthaus lag noch außerhalb der geschlossenen Häuserzeilen am Rand der Siedlung. Hinter dem Gebäude erhoben sich höhe Bäume, Weiden oder Pappeln. Sie ließen auf stehendes Wasser schließen, einen Teich oder einen kleinen See. Wendy gefiel die Vorstellung eines Gasthauses am Teich. Er fand auch, dass eine diesseitige Gaststätte ausreichen würde. Warum immer auf die andere Seite gehen. Man wurde doch auch in den diesseitigen Gaststätten satt. Eike war da entschieden anderer Meinung. Sie sandte Judy einen strafenden Blick und bewegte ihre ausgebreiteten Arme wedelnd, die Gruppe wie eine Horde Gänse vor sich hertreibend. Elisabeth und ihr Freund schienen die Auseinandersetzung hinter ihnen gar nicht mitzukriegen. Granatapfel war übrigens nicht ein neuer Freund von ihr, sondern derjenige, dem sie immer dann anhing, wenn andere Kandidaten wie Beat oder Wendy, sie mal wieder enttäuscht hatten. Wendy hatte ihn nicht gleich erkannt, weil sich sein Gesicht noch etwas weiter von dem eines gewöhnlichen Menschen entfernt hatte. Wie Elisabeth sich ihm doch immer wieder zuwenden konnte, wunderte ihn schon sehr. Fiel denn sein absonderliches Äußeres gar nicht ins Gewicht für sie?

Etwas anderes lenkte ihn ab und beschäftigte ihn fortan stärker. Nämlich die Reaktion der Passanten auf die Gruppe. Die Menschen schauten entweder schnell weg oder sie hielten den Blick schräg auf Elisabeths Truppe gerichtet. Es war nicht schwer dieses Verhalten zu deuten. Sie schienen, so wie sie, von Granatapfel überragt, daherkamen, geradezu der Inbegriff dessen zu sein, was man meidet. Das betraf vor allem die jungen Menschen. Von denen mittleren Alters kam ab und zu eine neutrale Reaktion. Nur von den alten Leuten sah er gelegentlich jemanden anhalten, um ihnen bewundernd nachzuschauen. Dabei war ihr Innehalten meistens mit einer unwillkürlichen Bewegung verbunden, einem leichten Vornüberbeugen. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass es Granatapfel war, der die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Passanten schienen sie, Elisabeth, Eike, Judy, Wendy und die anderen nur als ein Anhängsel von ihm zu betrachten. Wendy fragte sich, ob die jungen Menschen sie auch so abschätzig behandelten, wenn Granatapfel nicht dabei wäre und er an Elisabeths Seite ginge? Er war sich nicht sicher, vielleicht nicht, vielleicht doch. Die Reaktionen von Umstehenden auf andere Menschen sind meist instinktiv. Vielleicht war es ein euphorisches Glimmen in den Augen der Gruppenmitglieder, das die Abwehr der jungen Leute, die ja vor allem cool sein wollen, hervorrief. Ihm war es egal, wie die Menschen reagierten. Jedenfalls glaubte er das, bis unter den Passanten ein Bekannter erschien.

Sie waren nicht mehr weit von der Querstraße entfernt, da stand im schattiger werdenden Licht des Vorabends ein früherer Kollege, mit dem er eine Weile im selben Dienstverhältnis gestanden hatte. Der ehemalige Mitarbeiter schaute auf sie und kniff die Augen zu. Er war geblendet, weil das Licht hinter ihnen stand. Trotzdem drehte er den Kopf langsam, im Gleichmaß mit ihrem Vorbeigehen. Wendy sah ihn an, grüßte aber nicht, sondern hielt nur seinem Blick stand. Diese Szene hatte etwas Hypnotisches. Es war, als wollten zwei Personen miteinander Kontakt halten, während die Erdplatten, auf denen sie standen, auseinanderbrachen. Als sie vorbei waren, juckte es Wendy auf der Stirn. Als er hinfasste, spürte er einen Tropfen Schweiß. Anscheinend waren ihm die Reaktionen der Mitmenschen doch nicht egal.



Die ‚Sonne‘ war doch geöffnet. Am Tisch sitzend wurde im Gespräch gesagt, dass jeder, was er erntet, zum Herrn tragen müsse.

„Wie?“, fragte Wendy verdutzt, „aber ich habe doch gar nichts geerntet.“

„Niemand hat nichts zu ernten. Jeder hat dem Herrn etwas zu bringen“, sagte Eike in ihrer sturen, belehrenden Art und machte ihn damit verstummen.

Aber dann fragte er doch. „Wo soll ich meine Ernte hintragen? Wenn ich denn was habe.“

Wo er herstamme, wurde er gefragt und alle sahen ihn neugierig an.

War denn wirklich niemand dabei, der wusste, wo er aufgewachsen war. Noch gereizt durch Eikes vorlaute Art antwortete er flapsig:

„Von Home natürlich. Was für eine dumme Frage.“

Wo sein Home liege.

Es gehöre zu Heimen.

Wo Heimen angesiedelt sei.

Es liege auf dem Land und sei ein Nachbarort des Schulorts, gab er zur Antwort, zu Füßen des Lindenbergs.

Ah beim Lindenberg. Über dem Lindenberg liege Herrlisberg. Dort müsse er hin.

So wurde Wendy überredet, seine Ernte nach Herrlisberg zu tragen. MLF

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