Montag, 11. Februar 2013

145 Brennstäbe in der Schlucht



Wie Tonke in einem Geländeeinschnitt auf ein nukleares Werk stieß und darin die Schlucht von Tsivo erkannte.



In einem Viertel am Hang über Gerlingen stießen er und sein Freund Affentaler auf eine Straßensperre. Komisch, dachte Tonke, ich fahre diese Straße doch recht oft, aber ich habe hier noch nie eine Sperre erlebt. Er sah auch keinen Grund, warum man die Straße nicht fahren sollte. Außer dass die Anwohner da und dort Messer und kleine Schaufeln in den weichen Asphalt gesteckt hatten, sprach nichts gegen die Weiterfahrt. Er gab seinem Freund ein Zeichen, dass er zufahren solle. Da traten die Anwohner zurück und ließen sie ohne weiteren Einwand passieren. Wie sie aus dem Ort herauskamen, schien ihm doch, dass die Wegführung eine andere sei. Der Weg führte gradlinig den Hang hoch und war frisch geschottert, also noch nicht asphaltiert. Da Affentaler vorausfuhr, folgte er ihm. Sie hatten gerade die Kuppe überschritten und fuhren auf den großen Wald zu, der sich zwischen Leonberg und Vaihingen erschreckt, als sich ein jäher Einschnitt in der Landschaft zeigte. Dieses tiefe Loch mochte natürlichen Ursprungs sein, konnte aber auch von einer Erzgrube herstammen. Das Gelände war eingezäunt. Besuchern jedoch war der Zutritt erlaubt. Auf der Tafel über dem Eingangsgebäude stand zu lesen.



Nukleares Werk

Besichtigung von .. bis ..



Dieser Taleinschnitt wurde also von Physikern genutzt. Ein nukleares Werk, das zugänglich war. Das schien großes Interesse zu erregen. Auf dem Abhang wimmelte es von Menschen. Sein Freund war bereits ausgestiegen und winkte ihm zu. Es war klar, dass Affentaler als Physiklehrer, sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen ließ.

Tonke blieb im Auto sitzen. Er hatte keine Lust, sich in diesen Rummel zu stürzen. Aber dann überkam ihm das seltsame Gefühl, dass er diese Schlucht und die plane Fläche dort unten schon mal gesehen habe. Er wusste nicht wann, aber ein vages Gefühl von Bekanntheit war nicht wegzuweisen. Das gab ihm den Anstoß, sich aufzuraffen. Affentaler stand schon unten in einer Gruppe, die von einer Führerin in hellgrünem Overall geleitet wurde. Tonke sah, wie sie einen der  Glasschränke öffnete und dazu gestikulierte. Anscheinend war das der Kern dieses Werks.

Wenn ich schon hier bin, dann kann ich doch einen Blick drauf werfen, sagte er sich und stieg nun doch aus. Der Himmel war bedeckt. Ein gleichmäßiges, quecksilbriges Grau überzog die Landschaft. Und es war ziemlich schwül.



Im Eingangsbereich mussten die Schule abgelegt werden. Es lag noch genau ein Paar Socken da. Dunkelgraue Wollsocken waren es und das bei dieser Schwüle. Aber sie passten ihm wie angegossen. Wie viel Publikum so ein Werk anzog, das fand er schon erstaunlich. Im Grunde musste man es ja für problematisch halten, wenn nicht gar für gefährlich. Da sich die Besucher auf den Wegen drängten, nahm Tonke eine Abkürzung und kletterte die gesinterten Terrassen des Abhangs hinunter. Anscheinend handelte es sich doch um einen natürlichen Einschnitt, denn die hell- bis graubraunen Kalkpolster waren bestimmt Jahrmillionen alt. Am Fuß des Hangs landete Tonke auf der Umfassung von langen, rechteckigen Wasserbecken, die die eine Seite der Grasfläche begrenzten. Gegenüber standen die Glasschränke, die die Führerin den Besuchern gezeigt hatte. Im Wasser schwammen kleine schwarze Schildkröten. Die eine oder andere von ihnen schaffte es aus dem Becken heraus nach unten in die Fläche.

Als Tonke unten ankam, war die Grasfläche leer. Die Führung, an der Rolf teilgenommen hatte, war vorbei. Die restlichen Besucher hielten sich alle am Hang auf. Niemand außer ihm war da und zwei kleinen Schildkröten, die im Gras verschwanden. Er ging hinüber zu den großen Schränken, die die Essenz des für das Publikum zugänglichen Teils der Schlucht auszumachen schienen. Die Kästen standen auf einem Podest von gleicher Höhe wie drüben die Wasserbecken und die Glastüren waren mit Jalousien abgedeckt. Ohne Zögern machte Tonke in seinen grauen Socken einen großen Schritt auf das Podest und schob eine der Türen auf. Vor ihm lehnten ein paar Aluminium-Leitern gegen etwas, das dahinter stand. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er in einem großen Kübel etwa ein Dutzend Stäbe, gegen die Wand gelehnt, an die drei Meter hoch. Das graue Hüllmaterial und die aufwändigen Endkappen legten die Vermutung nahe, dass es sich um Brennstäbe eines Kernreaktors handelte. Ihm wurde unheimlich zu Mute. Gleichzeitig wollte er aber noch etwas näher heran, um zu sehen, ob es sich bei den Brennelementen, um die eines Siedewasser- oder Druckreaktors handelte. Doch dabei geriet eine der Leitern ins Rutschen. Was bist du doch für ein Schussel, schimpfte er mit sich selber. Es gelang ihm die Leiter zu stabilisieren. Schuldbewusst sprang er nach unten und zog die Türe zu. Zu seiner Entlastung sagte er sich, was ist meine Schusseligkeit im Vergleich zu diesen Technikern, die diese hochgefährlichen Stäbe in einem offenen Schrank zur Schau zu stellen. Als er sich entfernen wollte, kam eine dralle, aber hübsche Physikerin in lindgrüner Werkskleidung auf ihn zu und zischte ihn an.

„Was ist das für eine Art sich hier aufzuführen! Können Sie nicht lesen?“

Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf jeder Tür ein Verbotsschild draufstand. Anscheinend hatte sie ihn von gegenüber beobachtet und hatte mitgekriegt, was ihm zugestoßen war.

„Ich bin zufällig hier vorbeigefahren“, versuchte er sich rauszureden. „Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie hier Brennstäbe aufbewahren.“

„Ah so und dass das ein nukleares Werk ist, haben Sie auch nicht gewusst?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Das Schild über dem Eingang haben sie wohl auch nicht gelesen?“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Tonke, „ich war mir der Gefahr nicht bewusst.“

Die Technikerin öffnete die Tür, stieg hoch und schaute nach den Stäben. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Da machte sich Tonke davon. Er verzichtete auf eine weitere Erkundung des Werks und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Als er zu den Wasserbecken kam, und in das kühle Nass blickte, wurde ihm nun klar, wozu dieses diente. Das waren die Abklingbecken, in denen die Stäbe gelegen hatten, solange die Nachzerfallswärme angehalten hatte. Die kleinen, schwarzen Schildkörten erschienen ihm wie Wächter über diesen wichtigen Prozess. Vom Becken aus kletterte er über die Kalkterrassen nach oben.



Zum Rand des Einschnitts zurückgekehrt, warf er nochmal einen Blick in die Schlucht hinab und auf den grünen Grund. Da wurde in ihm die Erinnerung wach. Die Schlucht von Tsivo [108] fiel ihm ein, auf die er damals mit seinem unglücklichen Mitbewohner gestoßen war. Ein Junge hatte sie begleitet. Die Schlucht war leer gewesen. Er hatte darin den schauerlichen Nachhall der Geschütze des letzten Krieges gehört. Überraschend war, dass jetzt Physiker darin wirkten. Ihre Arbeit beschwor neue Gefahren herauf. Aber durch das Abklingen der Brennstäbe schien ihm doch, dass sich eine Mäßigung in dieser Schlucht vollzogen hatte. MLF

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