Wie Tonke in einem Geländeeinschnitt auf ein nukleares Werk stieß
und darin die Schlucht von Tsivo erkannte.
In einem Viertel am Hang über Gerlingen stießen er und sein Freund
Affentaler auf eine Straßensperre. Komisch, dachte Tonke, ich fahre diese
Straße doch recht oft, aber ich habe hier noch nie eine Sperre erlebt. Er sah
auch keinen Grund, warum man die Straße nicht fahren sollte. Außer dass die
Anwohner da und dort Messer und kleine Schaufeln in den weichen Asphalt
gesteckt hatten, sprach nichts gegen die Weiterfahrt. Er gab seinem Freund ein
Zeichen, dass er zufahren solle. Da traten die Anwohner zurück und ließen sie
ohne weiteren Einwand passieren. Wie sie aus dem Ort herauskamen, schien ihm
doch, dass die Wegführung eine andere sei. Der Weg führte gradlinig den Hang
hoch und war frisch geschottert, also noch nicht asphaltiert. Da Affentaler vorausfuhr,
folgte er ihm. Sie hatten gerade die Kuppe überschritten und fuhren auf den
großen Wald zu, der sich zwischen Leonberg und Vaihingen erschreckt, als sich
ein jäher Einschnitt in der Landschaft zeigte. Dieses tiefe Loch mochte
natürlichen Ursprungs sein, konnte aber auch von einer Erzgrube herstammen. Das
Gelände war eingezäunt. Besuchern jedoch war der Zutritt erlaubt. Auf der Tafel
über dem Eingangsgebäude stand zu lesen.
Nukleares Werk
Besichtigung von .. bis ..
Dieser Taleinschnitt wurde also von Physikern genutzt. Ein
nukleares Werk, das zugänglich war. Das schien großes Interesse zu erregen. Auf
dem Abhang wimmelte es von Menschen. Sein Freund war bereits ausgestiegen und winkte
ihm zu. Es war klar, dass Affentaler als Physiklehrer, sich eine solche
Gelegenheit nicht entgehen ließ.
Tonke blieb im Auto sitzen. Er hatte keine Lust, sich in diesen
Rummel zu stürzen. Aber dann überkam ihm das seltsame Gefühl, dass er diese
Schlucht und die plane Fläche dort unten schon mal gesehen habe. Er wusste nicht
wann, aber ein vages Gefühl von Bekanntheit war nicht wegzuweisen. Das gab ihm
den Anstoß, sich aufzuraffen. Affentaler stand schon unten in einer Gruppe, die
von einer Führerin in hellgrünem Overall geleitet wurde. Tonke sah, wie sie
einen der Glasschränke öffnete und dazu
gestikulierte. Anscheinend war das der Kern dieses Werks.
Wenn ich schon hier bin, dann kann ich doch einen Blick drauf
werfen, sagte er sich und stieg nun doch aus. Der Himmel war bedeckt. Ein
gleichmäßiges, quecksilbriges Grau überzog die Landschaft. Und es war ziemlich
schwül.
Im Eingangsbereich mussten die Schule abgelegt werden. Es lag
noch genau ein Paar Socken da. Dunkelgraue Wollsocken waren es und das bei
dieser Schwüle. Aber sie passten ihm wie angegossen. Wie viel Publikum so ein
Werk anzog, das fand er schon erstaunlich. Im Grunde musste man es ja für
problematisch halten, wenn nicht gar für gefährlich. Da sich die Besucher auf
den Wegen drängten, nahm Tonke eine Abkürzung und kletterte die gesinterten
Terrassen des Abhangs hinunter. Anscheinend handelte es sich doch um einen
natürlichen Einschnitt, denn die hell- bis graubraunen Kalkpolster waren
bestimmt Jahrmillionen alt. Am Fuß des Hangs landete Tonke auf der Umfassung
von langen, rechteckigen Wasserbecken, die die eine Seite der Grasfläche
begrenzten. Gegenüber standen die Glasschränke, die die Führerin den Besuchern
gezeigt hatte. Im Wasser schwammen kleine schwarze Schildkröten. Die eine oder
andere von ihnen schaffte es aus dem Becken heraus nach unten in die Fläche.
Als Tonke unten ankam, war die Grasfläche leer. Die Führung, an
der Rolf teilgenommen hatte, war vorbei. Die restlichen Besucher hielten sich
alle am Hang auf. Niemand außer ihm war da und zwei kleinen Schildkröten, die
im Gras verschwanden. Er ging hinüber zu den großen Schränken, die die Essenz
des für das Publikum zugänglichen Teils der Schlucht auszumachen schienen. Die
Kästen standen auf einem Podest von gleicher Höhe wie drüben die Wasserbecken
und die Glastüren waren mit Jalousien abgedeckt. Ohne Zögern machte Tonke in
seinen grauen Socken einen großen Schritt auf das Podest und schob eine der
Türen auf. Vor ihm lehnten ein paar Aluminium-Leitern gegen etwas, das dahinter
stand. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er in einem großen Kübel etwa ein
Dutzend Stäbe, gegen die Wand gelehnt, an die drei Meter hoch. Das graue
Hüllmaterial und die aufwändigen Endkappen legten die Vermutung nahe, dass es
sich um Brennstäbe eines Kernreaktors handelte. Ihm wurde unheimlich zu Mute. Gleichzeitig
wollte er aber noch etwas näher heran, um zu sehen, ob es sich bei den
Brennelementen, um die eines Siedewasser- oder Druckreaktors handelte. Doch
dabei geriet eine der Leitern ins Rutschen. Was bist du doch für ein Schussel,
schimpfte er mit sich selber. Es gelang ihm die Leiter zu stabilisieren.
Schuldbewusst sprang er nach unten und zog die Türe zu. Zu seiner Entlastung
sagte er sich, was ist meine Schusseligkeit im Vergleich zu diesen Technikern,
die diese hochgefährlichen Stäbe in einem offenen Schrank zur Schau zu stellen.
Als er sich entfernen wollte, kam eine dralle, aber hübsche Physikerin in lindgrüner Werkskleidung auf ihn zu und zischte ihn an.
„Was ist das für eine Art sich hier aufzuführen! Können Sie nicht
lesen?“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf jeder Tür ein Verbotsschild
draufstand. Anscheinend hatte sie ihn von gegenüber beobachtet und hatte
mitgekriegt, was ihm zugestoßen war.
„Ich bin zufällig hier vorbeigefahren“, versuchte er sich
rauszureden. „Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie hier Brennstäbe aufbewahren.“
„Ah so und dass das ein nukleares Werk ist, haben Sie auch nicht
gewusst?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Das Schild über dem Eingang haben sie wohl
auch nicht gelesen?“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Tonke, „ich war mir der Gefahr
nicht bewusst.“
Die Technikerin öffnete die Tür, stieg hoch und schaute nach den
Stäben. Es schien alles in Ordnung zu sein.
Da machte sich Tonke davon. Er verzichtete auf eine weitere
Erkundung des Werks und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Als
er zu den Wasserbecken kam, und in das kühle Nass blickte, wurde ihm nun klar,
wozu dieses diente. Das waren die Abklingbecken, in denen die Stäbe gelegen
hatten, solange die Nachzerfallswärme angehalten hatte. Die kleinen, schwarzen
Schildkörten erschienen ihm wie Wächter über diesen wichtigen Prozess. Vom
Becken aus kletterte er über die Kalkterrassen nach oben.
Zum Rand des Einschnitts zurückgekehrt, warf er nochmal einen
Blick in die Schlucht hinab und auf den grünen Grund. Da wurde in ihm die
Erinnerung wach. Die Schlucht von Tsivo [108] fiel ihm ein, auf die er damals
mit seinem unglücklichen Mitbewohner gestoßen war. Ein Junge hatte sie
begleitet. Die Schlucht war leer gewesen. Er hatte darin den schauerlichen
Nachhall der Geschütze des letzten Krieges gehört. Überraschend war, dass jetzt
Physiker darin wirkten. Ihre Arbeit beschwor neue Gefahren herauf. Aber durch
das Abklingen der Brennstäbe schien ihm doch, dass sich eine Mäßigung in dieser
Schlucht vollzogen hatte. MLF
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