Mittwoch, 31. Juli 2013

159 Visualisieren des Waldes



Als ausländischer Gast zu Besuch in China genoss Otis eine privilegierte Behandlung. Zum Höhepunkt des Empfangs befanden sie sich in Schiffen auf dem Wasser. Auf einem speziellen Boot bereiteten ihm gegenüber zwei Künstlerinnen, vor dem Hintergrund einer bizarren städtischen Skyline, eine Performance vor. Rechts von Otis stand der Regent auf einem herrschaftlich glitzernden Schiff, umgeben von seinem Stab. Ausnahmsweise hatte der Regierende den Auftritt einer landsmännischen Künstlerin erlaubt. Die strikte Zensur, die sonst die Artisten in die Verborgenheit drängte, wurde zum Gefallen des fremden Gastes gelockert. Bei den Künstlerinnen handelte es sich um Gitta, die Schwester von Otis und eine chinesische Artistin, mit der sie befreundet war. Ihr schwimmender Untersatz war ein Floß von einer länglichen Nierenform. Mit etwas Grün ausgelegt, suggerierte der Untersatz eine schwimmende Insel. Otis hörte munkeln, dass sie nackt auftreten würden.
Gut, dachte er, schau ich mir gerne an. Doch, was er zu sehen bekam, war Zauberei.
Er sah wie die fremde Künstlerin alles, was sie vor sich aufgehäuft hatte, umfasste. Sie bewegte ihre flinken Hände darüber wie eine Klavierspielerin oder eine Datentypistin. Die Finger waren, wie er deutlich sah, von der fortgesetzten Aufgabe wund. Ihre Gesichtszüge waren nicht asiatisch, vielmehr erkannte er in ihr den Typ Künstlerin, wie man sie in seiner Heimat oft als Artistinnen in Zirkusshows sieht. Straff gespannte Haut über den Wangenknochen, ein festes Kinn und ein kühler, unbeirrbarer Blick. Die dunkelbraunen Haare, glatt nach hinten gefasst, verstärkten noch die Taffheit, die sie ausstrahlte. Und doch war da zugleich etwas sehr Sanftes in ihrem Gesicht und in ihren feinen Gliedern. Sie fuhr mit ihren Händen über den geordneten Haufen vor sich. Plötzlich geschah’s. Vor ihr tanzte ein Vorhang aus kleinen schwarzen Wolken, in Abstand zueinander. Genau besehen, tanzten die Wölkchen nicht, sondern schwebten in der Luft. In genauen Abständen, ein großes Raster bildend, vier Meter hoch und mehrere Meter breit. Gebannt starrten alle auf diese schwarzen Wölkchen. Da erst wurde das Eigentliche sichtbar. In diesem Raster erschienen Büsche und kräftige Bäume, ein dichter, sattgrüner Wald nahm Gestalt an. Von schwarzen Wattewolken wurde ein Wald beschworen. Ein magischer Wald. Es herrschte vollkommene Stille, wie es sie sonst nur im Schlaf gibt. Selbst das Schlagen der Wellen an die Boote war verstummt. Als wäre sogar das Meer von dieser Erscheinung gebannt.
Otis spürte wie die Spannung stieg, die Künstlerin würde sie nicht ewig halten können. Also schlug er die Handflächen aufeinander. Tosender Applaus setzte ein, während die schwarzen Wölkchen wie zahme Tiere nacheinander in die Arme der Künstlerin zurückglitten und das Bild des Waldes langsam verblasste.

Einen zusätzlichen Tag seines Aufenthalts nutzend, besuchte er ein berühmtes, am Rand des städtischen Molochs gelegenes Mahnmal. Mit einem aktuellen Reiseführer in der Hand schlug er sich selber zu dem bekannten Monument durch.
Er stand vor einem gewaltigen Sockel der staatlichen Autobahn. Darin steckte, in nur wenigen Metern Höhe, ein Frauenkopf. Das war das berühmte Mahnmal zum Gedenken an die Hexenverbrennung. Die prominente chinesische Bildhauerin hatte das plastische Relief so gestaltet, als wäre beim Bau der Autobahn der Kopf von oben herab in den noch weichen Beton, des nach unten breiter werdenden Sockels gefallen und hätte sich dabei tief eingegraben. Wie ein gefallener Komet mit Schweif sah der Kopf aus. Die Spur des sich Eingrabens beim Herabfallen stellten die Haare der Unglücklichen dar.
Im Stadtzentrum war noch eine Abschlussveranstaltung zu Ehren des Gastes anberaumt. Um rechtzeitig zurück zu sein, stieg Otis die Stufen zur Autobahn hoch und versuchte so in die chinesische Stadt zurück zu gelangen. Doch er verstieg sich in Bergen von aufgetürmten Autobahnstücken. Nicht mal aus der Ferne konnte er den Kern der chinesischen Metropole ausmachen. Es war unmöglich dorthin zu gelangen. Enttäuscht kehrte er zurück. Verwirrt und erschöpft setzte er sich auf eine niedere Mauer zu Füßen des Mahnmals.
Da trat ein Führer an ihn heran.
„Would you like to go back to town?“, fragte er in erstaunlich deutlichem Englisch.
Otis schüttelte den Kopf, er habe es probiert, es sei unmöglich.
Der Führer wehrte den Einwand mit den Händen gestikulierend ab. „Come on, I’ll show you the way.“
Argwöhnisch richtete sich Otis auf und folgte ihm.
Der Fremde ging ihm voran um den Autobahnsockel herum. Einige Schritte weiter stießen sie auf einen schmalen hohen Bogen. Durch diesen sah er tatsächlich die städtischen Gebäude aus Stahl und Glas. Otis konnte es kaum fassen, aber die Arkade erwies sich als Eingang in die chinesische Großstadt. Noch einige Schritte weiter und sie näherten sich dem zentralen Platz auf dem die Schlussveranstaltung ihm zu Ehren stattfand.
Man hatte für die chinesische Künstlerin ein paar nützliche Dinge auf einen simplen Marktkarren gelegt. Jeans, T-Shirt, Bluse, ein Paar Schuhe, Shampoo, Zahnpasta und zwei Schachteln Zigaretten. Für diese Habseligkeiten wurde Geld gesammelt. Es fehlte ihr am Nötigsten. Ganz oben lagen Gutscheine für den Friseur, für den Fahrradladen und die Apotheke. Auf diesen waren Beträge in Euro gemalt.
Die Befürchtung beschlich ihn, sie könnte ihn, den ausländischen Gast, rupfen wollen. Doch die Preise schienen ihm moderat und er half gern. MLF

Montag, 13. Mai 2013

157 Don’t Talk to the Pilot



Wie Tonke von einem gefeierten Autor den Schlüssel zu einem Rolls Royce erhielt, diesen dann aber freiwillig zurückgab.

Nach einem nicht enden wollenden Gang durch den feuchten, dämmrigen Wald erreichte Tonke endlich die sonnige Höhe. Von hier aus konnte er, zwischen vereinzelten Bäumen, deren Duft ihn umschwebte, den Blick in eine weite Landschaft schweifen lassen. An einer schlichten, alten Kapelle vorbei steuerte er auf die Gaststätte mit der Sonnenterrasse zu. Verstreut standen einige Chalets, die nur an den Wochenenden und in den Ferien bewohnt waren. An diesem schönen Ort hatte er schon öfters gerastet, wenn er ein Manuskript beendet hatte.
Von der Terrasse aus war weiter unten am Hang eine Ansammlung von alten Gebäuden zu sehen, die den Künstlern als Treff diente und ‚Kulturzentrum am Hang‘ hieß. Tonke arbeitete gelegentlich dort. Im Atrium stand ein großes Objekt von ihm, an dem er schon lange sich abmühte. Er war mit der monumentalen Plastik bisher aber kaum aus dem Modellstadium herausgekommen.
An diesem Tag hatte das Erreichen der Höhe für ihn eine besondere Überraschung parat. Er traf vor der Gaststätte einen Gast, der, wie schon an seinen asiatischen Gesichtszügen zu erkennen war, eine weite Reise hinter sich hatte. Er war der Verfasser anspruchsvoller Bücher, die trotz ihres schwierigen Inhalts in der ganzen Welt gelesen wurden. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt und Tonke sich vorgestellt hatte, schilderte er dem Autor die großen Schwierigkeiten, mit denen er auf dem verworrenen Pfad im Wald zu ringen hatte.
Der Schriftsteller zeigte volles Verständnis. Er habe sich selber oft durch den Wald schlagen müssen. Außerdem sei er beim Schreiben jeder seiner Romane an einen Punkt geraten, an dem er geglaubt habe, verzweifeln zu müssen.
In diesen Worten, kam zum Ausdruck, welche Anstrengung der Schriftsteller auf seine Bücher verwandte. Das führte dazu, dass Tonke sein Manuskript nochmal durchlas und entgegen seinem früheren Dafürhalten eine weitere Überarbeitung für nötig fand.
Der Schriftsteller bekräftigte ihn darin und bot ihm überraschend seinen Wagen an. So würde er schneller zu seiner letzten Arbeitsstation zurückfinden und zeitig wieder aus dem Wald hinaus sein können. Er ging ihm voraus zum Parkplatz hinab, blieb bei einem kostbaren Wagen stehen und überreichte ihm den Schlüssel. Überdies zeigte er ihm im Handschuhfach einen dicken Geldbeutel, den er dort liegen hatte. Er solle davon verwenden, so viel er brauche, und sich damit von anderen Verpflichtungen freihalten.
Tonke war betroffen, er konnte es kaum fassen, nahm aber das Angebot dankend an. Diese Großzügigkeit half ihm Zeit zu sparen und er würde, wenn er eifrig arbeitete, den Schriftsteller wieder treffen können, solange er sich noch in der Gegend aufhielt. Er wollte diese Gelegenheit nutzen und sich mit ihm noch eingehender austauschen.
Tonke hatte gleich erkannt, dass das ein besonderer Wagen war. Aber so richtig wurde ihm dies erst bewusst, als er mit dem schweren Gefährt auf dem engen Pfad im Wald fuhr. Es handelte sich, ungelogen, um einen Rolls Royce. Der Weg war zwar breit genug und er war auch nicht sumpfig. Trotzdem passte dieses strotzende Gefährt nicht so recht zu diesem Pfad. Komisch, dachte er, es ist als fordere der Wald ein schlichteres Fortbewegungsmittel als dieses.
Der gewundene Weg, den er gegangen und den er jetzt zurückfuhr, war gleichzeitig ein alter Passionsweg, der zur traditionsreichen Kapelle auf der Kuppe führte. Bei der vorletzten Station dieses Bußweges hielt Tonke an. Hier stand auch eine Herberge für Pilger, ein robustes Gebäude im Stil eines Jägerhauses. Hinter dem Haus war eine Lichtung, auf der eine ganz besondere Stimmung herrschte. Die Luft war von Feuchtigkeit gesättigt und von den Schatten des Waldes, der den begrenzten freien Raum nach allen Seiten hin umschloss, durchwoben.
In diesem Haus hatte Tonke die vermeintliche Endfassung erarbeitet. Hier hielt er auch jetzt und bezog Quartier, um eine verbesserte Version seines Buches zu schaffen. Dank dem unerschöpflichen Inhalt des Geldbeutels konnte er in ein größeres Zimmer umziehen und sich mit Vollpension, statt nur mit Halbpension verköstigen.
Trotz diesen Erleichterungen stellt sich die Überarbeitung seines Manuskripts – wie er nicht anders erwartet hatte – als ziemlich schwierig heraus. Es forderte wiederum seine ganzen Kräfte. Er musste sich das Ziel erst mal aus dem Kopf schlagen, um ganz in seiner Arbeit aufgehen zu können.
Andererseits musste er dem Schriftsteller Bescheid geben, dass es doch länger dauerte. Es galt auch abzuklären, wie lange er den Wagen noch behalten konnte.
Deshalb fuhr Tonke hoch zur Kuppe und von dort die lichte Seite des Berges hinab, zum Kulturzentrum am Hang. Dort residierte der berühmte Schriftsteller vorübergehend.

Der Gebäudekomplex bestand aus mehreren feudalen Bauten, die einen langen, rechteckigen Innenhof umschlossen. Das Erdgeschoss des langen Gebäudes linkerhand war von Arkaden untergliedert. Innendrin befand sich das Atrium mit dem spiralförmigen Modell seiner Plastik. Im rechten Trakt wohnte der Schriftsteller. Dort gab es auf der ganzen Länge nur einen Eingang.
Das Abpassen einer günstigen Gelegenheit, den Autor zu treffen, versetzte Tonke in eine nervöse Spannung. Er wusste, dass sich der Autor von der Öffentlichkeit möglichst fernhielt. Es hieß, er sei, als sein Roman Norwegian Wood zum Bestseller avancierte, für mehrere Jahre aus seinem Land geflüchtet, um einer Vereinnahmung durch die Medien und durch Neugierige auszuweichen. Bitter bemerkte Tonke, dass er jetzt auch einer von denen war, die versuchten die Aufmerksamkeit des Schriftstellers auf sich zu ziehen und ihn so von seiner Schreibtätigkeit ablenkten. Tonke nahm sich vor zu warten, bis der Autor von sich aus zu einem Gespräch unter die Arkaden kam. Man hatte ihm nämlich gesagt, dass der berühmte Schriftsteller sich gelegentlich dort zeige. Ein tieferes Gespräch sei jedoch bisher nicht zustande gekommen. Der gefeierte Autor sei äußerst zurückhaltend. Tonke meinte einen gewissen Unmut herauszuhören, der sich gegen den berühmten Gast angestaut hatte. Vielleicht war das unvermeidbar, wenn jemand, den man bisher aus der Ferne verehrt hatte, plötzlich zum Greifen nah vor einem stand.
Zufällig stieß Tonke aber schon davor auf den zurückhaltenden Schriftsteller. Er saß im überwölbten Eingang seines Wohntraktes. Tonke vermutete, dass er nicht mochte, spontan angesprochen zu werden. Aber warum zeigte er sich dann? Diese Gelegenheit musste er nutzen, schien ihm und er ging in die Öffnung hinein. Der Autor saß dort im Schneidersitz und hielt einen plastisch geformten Gegenstand in den Händen und betrachtete diesen, wie es schien. Der gewölbte Eingang war einige Meter tief. Tonke trat ein paar Schritte näher und beobachtete die Reaktion des Autors. Er schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Näherkommend sah er, dass hinter der Hand, die den Gegenstand hielt, ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Schriftsteller betrachtete gar nicht den Gegenstand, sondern las in einem Buch. Klar, der Autor war Vielleser. Er sagte von sich, dass er unzählige Werke der Weltliteratur gelesen habe, manche sogar zweimal. Als Tonke das durchschaute, zog er sich schnell zurück. Trotzdem traf ihn noch ein abwehrender Blitz aus den Augen des Schriftstellers.

Endlich kam der Augenblick, da der Autor sich unter den Arkaden zeigte. Tonke freute sich, dass jetzt der Moment gekommen war, sich mit ihm auszutauschen. Als ein gutes Omen erachtete er, dass der Schriftsteller sich für die Spiralfigur interessierte, die Tonke dort aufgebaut hatte. Obwohl sie zu zwei Dritteln aus Styropor bestand und nur im oberen Bereich bekleidet war, stellte sich der Autor doch darunter und betrachtete sein riesiges Objekt, das einer Wendeltreppe nicht unähnlich war, eingehend. Er hatte wieder den Gegenstand dabei, den er beim Lesen in der Hand gedreht hatte. Erst jetzt erkannte Tonke, dass es ein Flügelteil seiner Spiralplastik war, das wohl heruntergefallen war. Die Anwesenden wurden unruhig. Sie warteten darauf, dass der Schriftsteller zum Austausch kam. Doch der ließ sich Zeit.
Schließlich kam er doch in die Runde.
Doch wie sich bald herausstellte, war ein Austausch kaum möglich. Sobald eine Frage formuliert wurde, verzog der Autor das Gesicht oder betrug sich wie eine Kratzbürste. Jetzt lernte auch Tonke seine Flausen kennen, vor denen man ihn schon gewarnt hatte. Aber Tonke bemerkte, dass es nicht bloß Launen waren, sondern eine heftige psychische Abwehrreaktion. Sein Gesicht wurde unwillkürlich zur Fratze verzogen und der Körper verformte sich. Das musste sehr schmerzhaft sein. Tonke fiel vor allem auf, dass er unter massiven Rückenschmerzen litt. Er kannte dies zu gut aus eigener Erfahrung.
Es regnete Kritik auf den sonst hochgelobten Schriftsteller. Warum er nicht offen rede? Was er mit solchen Sperenzien bezwecke? Ob ein Autor seiner Leserschaft nicht Rede und Antwort schuldig sei?
Tonke glaubte ihn in Schutz nehmen zu müssen und rief in die Runde. „Picasso said: Don’t talk to the pilot”
Dieser Satz brachte die Kritiker zum verstummen und führte dazu, dass der Autor sich ihm zuwandte. Um ihn weiter zu ermuntern, sagt er noch. „Sie sind für mich der wichtigste Autor überhaupt.“ Was nicht geschmeichelt war, sondern tatsächlich stimmte. Aber als er ihn fragte, ob er ein neues Projekt in Arbeit habe (nach 1Q84), reagierte er ihm gegenüber genau so brüsk wie gegen die anderen.
In den Verlagsbulletins stehe doch alles drin, sage er kurzangebunden.
Da sah Tonke, dass man mit ihm nicht warm werden konnte. Ein paar Worte hatten sie zwar gewechselt, doch zu wenige. Es lohnte sich für ihn nicht zu bleiben.
Der Autor bemerkte, dass er aufbrach und sagte in verbindlichem Ton. „Sie sind der erste, dem es gelungen ist, mir etwas mitzuteilen.“
Tonke fühlte sich geehrt. Der Meister hatte ihm geschmeichelt. Aber mehr als eine Floskel sah er darin nicht. (Erst später kam ihm der Gedanke, der Schriftsteller könnte das Flügelteil seiner Spiralplastik gemeint haben.)
Als er den Raum unter den Arkaden verließ, fiel ihm der Autoschlüssel ein. Er machte nochmal kehrt und überreichte dem Schriftsteller den Schlüssel und bedankte sich mit einer Verbeugung. Einen Moment hielt er inne und fragte sich, ob er auch an alles gedacht habe, was er von ihm erhalten hatte. Es war alles. Mehr war es nicht gewesen.
Vor dem Gebäude draußen strich er mit den Fingerspitzen nochmal über den dunkelgold gefärbten Wagen. Etwas wehmütig trennte er sich von diesem und stieg den Sonnenhang hoch. Bis zur Kuppe musste er laufen, dort hatte er vor ein paar Tagen, als er vom Wald kam, sein Fahrrad abgestellt. Aber als er auf dem Rad saß und den Waldweg hinunter fuhr, sog er tief den feuchten Duft des Waldes ein. Er war erleichtert. Das war doch ein viel passenderes Fortbewegungsmittel für diesen Pfad. In der Herberge wechselte er wieder in das kleine Zimmer und begnügte sich mit der sparsameren Essensvariante. Dies, obwohl er noch ein paar Scheine aus dem dicken Geldbeutel gehortet hatte, bevor er diesen wieder ins Handschuhfach zurücklegte. Bald würde ihn die Geldnot wieder in den Klauen halten. Aber solange sie ihm noch fernblieb, war er erleichtert kein gefeierter Autor zu sein. MLF

Montag, 29. April 2013

154 II Angeblich die Bergwacht



Die Stimmen, die Tonke hörte, rührten von einer Wandergruppe her, die den Weg, den er gerade gegangen war, hoch kam. Er sah Erwachsene, Männer und Frauen, von Kindern begleitet. Ihren bunten Kleidern nach stammten sie nicht aus dem Dorf, sondern kamen von weiter her. Ihm fiel der Wagen ein. Vielleicht waren sie mit dem Auto gekommen, das er gehört hatte. Unten haltend, hatten sie, statt in der Wiese zu picknicken, sich auf eine Wanderung begeben.
Zwischen den Wandernden ging ein Tier. Tonkes Aufmerksamkeit wurde von den Wanderern auf dieses Tier gelenkt. Es wirkte groß und schwerfällig wie ein Rind, hielt aber seine Nüstern in steter Neugier am Boden. Diese eigentümliche Kopfhaltung verleitete ihn zu der Vermutung, dass es sich um einen Tapir handeln könnte. Wenn Menschen Giftschlangen und Krokodile hielten, warum dann nicht auch einen Tapir. Ein Tapir war wahrscheinlich nicht schwieriger zu halten als ein Rind. Trotz seiner Größe schien dieses Tier sehr beweglich zu sein. Er war unsicher, vielleicht war es doch ein riesiger Hund.
Tonke wartete und ging noch nicht durch das Loch.
Ein bisschen war ihm Angst vor dem großen unbekannten Tier, aber er war auch neugierig. Die Personen musterte er erst, als sie schon ziemlich nah waren. Männer, Frauen und Kinder. Da erkannte er, das Gesicht unter einer Deckelkappe, in halblangen Hosen, seinen Kontrahenten Alex. Tonke wurde unheimlich zu Mute. Das war ja der Freund, dem er vorwarf, diese Welt kreiert zu haben. Hatte Alex ihn hierher gelockt, um ihm die Hässlichkeit der Bergwelt zu beweisen? Ja, so musste es sein.
Statt zu lachen und versöhnlich auf den Gegenspieler, der ja immerhin sein Freund war, zuzugehen, Blieb Tonke im Schutz eines großen Felsbrockens. Er kam sich wirklich vor wie ein Hinterwäldler. Er hätte doch offen auf ihn zugehen und ihm gratulieren können. Es war Alex gelungen, ihn in seine Vorstellungswelt zu locken.
Aber alles, was er hervorbrachte, war die Frage. „Ist das Tier, das euch begleitet ein Tapir?“
„Aber nein“, sagte sein Kontrahent und grinste, „siehst du denn nicht, dass das ein Rind ist.“
In Wirklichkeit war es ein etwas überdimensionierter Hund. Tonke blieb weiter hinter dem Felsen. Er beobachtete das Tier, wie es überall umherging und schnüffelte. Es hielt mit treuen Augen die Verbindung zu den Mitgliedern der Gruppe, suchte aber auch Kontakt zu ihm. Das nahm ihm die letzte Scheu und er trat hinter dem Stein hervor.
Jetzt fing Alex laut an zu lachen. „Da ist ja ein Nackter“, rief er. „Habt ihr den schon gesehen“, rief er zu den andern. „Kinder schaut weg, der ist nackt.“
Tonke sah sich bloßgestellt. Er hatte versäumt sich anzuziehen. Er stand da, wie er aus dem Bett gestiegen war.
Die anderen Erwachsenen und die Kinder lachten eher verlegen. Ihnen schien die Situation nicht ganz geheuer zu sein. Alex dagegen fand Tonkes Blöße sehr erheiternd. Er freute sich außerordentlich, dass ihm sein Coup gelungen war. Er klopfte sich immer wieder auf seine halblange Hose und rief, „ein Nackter, ein Nackter.“
Ganz nackt war Tonke nicht. Immerhin trug er eine Boxer-Short. Von wegen die Kinder sollten wegschauen.
Das Gelächter von Alex nahm Tonke vollends gegen ihn ein.
Etwas abseits stellte er sich auf. Während die Gruppe im Gelände sich niederließ und die Kinder zwischen den Felsen spielten, baute sich zwischen den beiden Männern eine Kampfsituation auf. Wie zwei Böcke am Rande der Herde, so traten sie in einigem Abstand von der Gruppe gegeneinander an. Der Jüngere setzte voll auf Konfrontation, er kam hoch erhoben auf Tonke zu. Dieser erschrak und fühlte seine Kräfte schwinden. Ich bin zu alt, einer solchen Auseinandersetzung bin ich nicht mehr gewachsen, sagte er sich. Ein laues Gefühl im Magen schwächte ihn zusätzlich. Aber das lag daran, dass er versäumt hatte zu frühstücken. Er raffte sich auf und stand hin wie ein mit Hörnern bewehrter Widder. Die Shorts war genau die richtige Kleidung für den bevorstehenden Kampf.
Der Jüngere reagierte verblüfft und wurde zornig. Er versuchte ihn wegzustoßen. Aber Tonke, der sich in seiner Boxer-Shorts gut in Form fühlte, stieß ihn seinerseits und rief:
Bergwacht, das ist gut. Niemals würde die Bergwacht ein solches Bild der Bergwelt zeichnen. Das stammt von dir. Es ist das düstere Bild, das du dir von den Bergen machst. Warum bleibst du nicht in deiner Stadt. Niemand zwingt dich die Berge aufzusuchen.“
„Doch du“, konterte Alex, „indem du ständig von ihnen schwärmst und weiß was für Wunder von Oben und Unten erzählst.“
Tonke sah, dass sie wieder am immer gleichen Punkt ihrer Auseinandersetzung angelangt waren. Sie waren keinen Schritt weiter gekommen. Im Gegenteil, mit diesem gelungenen Streich hatte der Kontrahent einen Vorteil über ihn gewonnen. Wer würde denn von einem Nackten etwas annehmen. Er hatte die Hoffnung verloren, seinen Gegner überzeugen zu können. Deshalb machte er sich für den Rückzug bereit. Der Klügere weicht aus.
Als Alex, von seiner Frau gerufen, sich umdrehte, schlüpfte Tonke schnell ins Loch und ließ den Verstockten in seiner öden, selbsterzeugten Bergwelt zurück.

In sein Zimmer zurückgekehrt lag das große Bild noch immer auf dem ungemachten Bett. Tonke schlug schnell die Seiten um und stopfte den Kalender in den Umschlag. Wie sein Kontrahent sich die Berge vorstellte, sollte ihm fortan egal sein. Er musste sich nur davor hüten, ihm jemals wieder von seinen Erfahrungen mit Oben und Unten zu berichten.
Den Pappkarton warf er neben den Papierkorb, der nicht groß genug war ihn zu fassen.
Er rieb sich den Schweiß von der Stirn, das war ein heikles Unterfangen gewesen. Ein solches Abenteuer schon am Morgen. Ein starkes Hungergefühl überkam ihn. Er zog sich ein T-Shirt über, schlüpfte in die Pantoffeln und ging nach unten. Endlich frühstücken. MLF

Samstag, 27. April 2013

154 I Angeblich die Bergwacht



Wie Tonke beim Blättern eines Kalenders sich unversehens in eine öde Gebirgswelt versetzt sah und dort mit einem Freund in Streit geriet.

Als Tonke nach einer struben Nacht um zehn Uhr erwachte, lag ein Pappumschlag auf seiner Decke. Wo kommt denn der jetzt her?, fragte er sich verwundert. Brix wird ihn bei der Tür aufgelesen und ihn mir hingelegt haben, bevor er zur Arbeit ging. Das war seine Erklärung.
Tonke ging zur Toilette und verschaffte seiner drückenden Blase Erleichterung. Danach öffnete er den großen, geheimnisvollen Umschlag. Was mochte bloß darin stecken?
Ein Kalender der Bergwacht. Jedenfalls stand da ‚Bergwacht‘ drauf. Er überflog die ersten Bilder und wunderte sich. Die waren ganz anders als die großartigen Bilder, wie er sie von den früheren Kalendern des Bergwacht-Vereins gewohnt war. Statt strahlenden Gipfeln, rauschenden Wasserfällen und lieblichen Tälern sah er abgelegene, raue Täler, bedrohliche Überhänge und verlassene Dörfer, „Chräche“, wie die Alpenländer die unwirtlichen Täler nennen. Er fand diese Bilder ganz und gar untypisch für Kalendermotive. Da beschlich ihn der Verdacht, dass ihm da jemand etwas unterjubeln wollte.
Er nahm nochmal den Umschlag in die Hand. Die Adresse war von Hand geschrieben. Das war doch die Handschrift seines Freundes, Alex, eines jungen Hauptstädters, mit dem er sich neulich gestritten hatte. Wegen was denn? Es wollte ihm nicht einfallen.
War das die Antwort des Freundes? Alex wusste, dass er, Tonke, die Berge liebte. Ja dass schon der Unterschied zwischen Oben und Unten für ihn große Bedeutung hatte. Wollte er ihm mit diesen düsteren Bildern einen Denkzettel verpassen? Tonke suchte im Umschlag nach einem Begleitbrief, fand aber keinen.
Er saß in seiner Boxer-Shorts auf dem Bettrand, legte den Kalender zur Seite und trank aus der Flasche das restliche Wasser, das von der Nacht noch übrig geblieben war. Tonke stand auf. Zeit fürs Frühstück.
Doch der Kalender ließ ihm keine Ruhe. Er nahm ihn nochmal in die Hand, schlug ein weiteres Blatt über die Oberkante mit der Ringbindung nach hinten und betrachtete das nächste Großbild. Er hatte ein besonders düsteres Foto vor sich. Von oben sah er in ein Tal hinab, in dem es kaum Grün gab. Er gewahrte nur Felsen und Geröll in grauen und braunen Schattierungen. Über einen Hang hinab sah Tonke in eine Welt, in der Leben kaum vorstellbar war. Und doch erspähte er unten Dächer und die Konturen einiger Häuser, die ein verwittertes Bergdorf bildeten. Was für ein erbärmliches Leben mochten die Bewohner dieser Häuser in ihrer kargen Welt wohl führen? Überrascht war Tonke von drei großen Gebäuden, oben am Hang, gegenüber. Die Gebäude machten einen herrschaftlichen Eindruck. Es musste eine Beziehung geben zwischen dem ärmlichen Ort unten und dem stattlichen Herrensitz oben. Trotz dieser schönen Häuser schauderte ihn bei der Vorstellung, in diesem Tal wohnen zu müssen.
Von seinem Augpunkt aus führte ein gepflasterter Weg abwärts. Dieser war beidseitig von Steinmäuerchen eingefasst. Tonke bemerkte, dass sich, mit dem Blick der Straße folgend, sein Augpunkt veränderte. Sein Sichtfeld erweiterte sich, er gewahrte weiter vorgehend neue Dinge. Mit jeder Bewegung sah er mehr. Ohne Zweifel handelte es sich um ein holographisches Bild. Unversehens steckte er ganz in dieser Gebirgswelt drin.
Er ging abwärts über die großen, flachen Steine des Weges. Auch wenn an Vegetation nicht viel zu bewundern war, so atmete er doch die befreiende Luft der Höhe. Ein sachter Wind strich ihm durch die Haare. Aber der Schauer blieb.
Gegenüber, ziemlich auf der gleichen Höhe, sah er die drei stattlichen Bauten jetzt in Real. Für diese abgelegene Gegend wirkten sie ungewöhnlich großzügig. Besonders überraschten ihn die runden Formen, die sowohl die Dächer, als auch die Außenmauern bestimmten. Er musste an das Haus der Pi-Menschen denken, bei denen er im Ort am Meer Unterkunft gefunden hatte. Das war zwar nur ein kleines Haus gewesen, aber die runden Formen waren bestimmend gewesen. Über den Fenstern waren die Balken gewölbt gewesen und sogar das Bett, in dem er geschlafen hatte, war von einem ovalen Brett umspielt gewesen. Sein Blick hing unverwandt an den drei Bauten, während er mit nackten Füßen abwärts über die Steinplatten ging.
Da fiel ihm ein Streitgespräch mit Alex ein. Gerade neulich hatten sie sich gezankt. Tonke hatte ihm berichtet, dass etwas, das er in der Höhe erlebt hatte, sich unten fortgesetzt hatte. Oben hatte sich angekündigt, was ihm dann unten widerfuhr.
Alex hatte dagegen heftig protestiert. Als wollte ihm Tonke einen Bären aufbinden. Oder als würde diese Aussage ihn zu etwas zwingen, das ihm von Grund auf zuwider lief. Genau genommen hatte Tonke schon oftmals diese Beobachtung widergegeben und jedesmal hatte Alex mit heftigen Worten gekontert.
Tonke hatte es erwähnt, weil er es überraschend fand, dass er in einem Gebäude in der Höhe etwas voraussah, das ihm dann tagsüber unten in entsprechender Form zustieß.
„Das ist vielleicht bei euch Dörflern so, aber gewiss nicht bei uns in der Stadt“, hatte der Kontrahent bissig bemerkt. Alex wohnte in der Nesenbachstadt und führte dort ein kultiviertes Leben, mit viel Abwechslung, vielerlei Engagement und einem weitläufigen Freundeskreis. Gemessen an ihm kam sich Tonke tatsächlich wie ein Asket und Einsiedler vor. Obwohl er ja auch in einer Stadt wohnte, wenn auch in einer deutlich kleineren. Und mit Brix zusammen lebend war er auch nicht allein.
Jetzt aber schritt er mit bloßen Füßen dieses öde Gebirgstal hinab, wie er düsterer noch keines gesehen hatte. Tonke hätte auf die Provokation schweigen sollen  Aber im Eifer hatte er nicht an sich gehalten. Während er weiter abwärts ging, wurde der Streit wieder lebendig.  
„Dann kennst du die Degerhöhe nicht“, hatte Tonke herausfordernd gesagt. „Übernachte mal auf der Degerhöhe und gehe dann runter in die Stadt. Du wirst dich wundern, was sich da für Zusammenhänge auftun.“
Da war Alex richtig sauer geworden und hatte ihn einen Spintisierer und Verrückten geschimpft. Die Degerhöhe sei ein ganz gewöhnliches Wohngebiet, das nur zufällig etwas höher liege als das Zentrum.
Tonke war sehr ernüchtert gewesen, weil er einmal mehr erfuhr, dass es ihm nicht möglich war, seine besonderen Erlebnisse jemandem mitzuteilen.
Der Anblick der drei herrschaftlichen Bauten am Hang gegenüber stimmte ihn misstrauisch. Ihre Größe und Stattlichkeit wollte gar nicht zu dieser kargen, düsteren Welt passen. In Tonke reifte zunehmend die Überzeugung, dass sein Freund diese öde Gebirgswelt kreiert habe, um Tonkes Auffassung von den Bergen in Frage zu stellen. Die drei Bauten waren ihrer Erscheinung nach in die Nähe von Zwingburgen gerückt, die eine Talschaft knechteten. Wenn dem so war, hatte Alex ihn tüchtig missverstanden. Es ging nicht um eine Regentschaft, um einen Zwang, der von oben nach unten ausgeübt wurde, sondern um den Augpunkt, der Blick von oben, der einem eine Art prototypische Schau gab, von dem was einem im Alltag erwartete.
Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass sein Kontrahent diese Landschaft geschaffen hatte, um seine Sicht des Zusammenspiels von Oben und Unten zu diskreditieren. Diese verzerrte Sicht bereitete Tonke großen Kummer.
Er war einige hundert Meter hinab gegangen, als ihn seine nackten Füße und seine unzureichende Kleidung innehalten ließen. Vielleicht sollte ich doch erst frühstücken und mich passend anziehen, bevor ich weiter diese düstere Gebirgswelt erforsche, sagte er sich und hielt an. Zwischen den Steinen wuchsen kräftige, widerstandsfähige Pflanzen und blühten auch. Wenn auch nicht so üppig wie die Tulpen und Magnolien in den städtischen Gärten. Er lehnte sich an einen Stein und entfernte die spitzen Krallen einer Distel aus seiner linken Fußsohle. Während er sich ausruhte, hörte er ein Motorengeräusch von einem Auto. Er schaute sich um, sah aber keinen Wagen.
Als er bergan zurückging, hört er den Wagen von neuem. Aber wieder sah er kein Auto. Es musste in der Nähe eine andere Straße geben, die für ihn nicht zu sehen war. Dem gleichmäßigen Geräusch des Wagens nach, war es eine Straße mit geringer Steigung. Ein Motor, der eine steile und überdies grob gepflasterte Straße bewältigen musste, wie die, auf der Tonke ging, würde sich ganz anders anhören. Anscheinend führte eine glatte Straße von der Stadt in dieses düstere Tal. Sie mochten in einer Parkbucht halten, ihren Campingtisch in die angrenzende Wiese stellen und die mitgebrachten Toastbrote verzehren. Möglicherweise würden sie die Schuhe ausziehen und die Füße in das Wasser eines plätschernden Gebirgsbaches halten, um sie, die Kälte des Wassers gewahr werdend, erschrocken zurückzuziehen.
Das Geräusch des Wagens erklang nicht wieder. Vielleicht hatte der Wagen wirklich gehalten oder er war in einem Tunnel verschwunden.
Oben, bei dem Loch angekommen, durch das er in die Landschaft geschlüpft war, hörte er Stimmen von unten.