Freitag, 14. Dezember 2012

131 Jenseits der Grenze

Als er mit der Schwester durch den Ort ging, um mit der Bahn ins Tal hinunter zu fahren, kam es in der Dorfstraße zu einer beinahe unheimlichen Begegnung. Ein Mann näherte sich ihm, dessen Äußeres alles andere als ansprechend war. Sein Ausdruck war verwegen und seine Kleider schäbig.
Im nächstgelegenen Ort in der Höhe ließ sich Tonke nieder, nachdem er die Grenze in den Bergen überschritten hatte. Seine Schwester wohnte dort und er konnte bei ihr unterschlüpfen. Der Zweck seines Aufenthalts war die Erkundung des Tals darunter. Er wollte die Lebensweise der hier ansässigen Menschen erkunden. Leider sah es mit seinen Finanzen eher mau aus. Er hatte keinerlei Erspartes.
„Ich habe dir doch gesagt, du musst nichts zahlen, wenn du hier bist“, rief der Mann ihm zu.
Vage erinnerte sich Tonke, dass ihn während der Vorbereitungsphase jemand kontaktiert hatte und ihm eine Zusammenarbeit nach dem Übertritt vorgeschlagen hatte. Das Angebot war ihm ziemlich dubios vorgekommen und er hatte nicht darauf reagiert.
Weil der Mann einen so wenig vertrauenserweckenden Eindruck machte, ignorierte er ihn und ging einfach weiter. Der Fremde rief ihm noch nach.
„Wenn dir mein Äußeres nicht gefällt, bedenke, ich bin hier am Ort im Viertel der Ärmsten aufgewachsen.“
Der hält mich wohl für einen naiven Christen, dachte Tonke, für einen, der Armut mit Unschuld und guter Gesinnung gleichsetzt. Schnell folgte er seiner Schwester, die diesem Menschen auch nicht zu trauen schien.
Als Tonke wieder von seinen existentiellen Sorgen heimgesucht wurde, sagte er sich, er hätte den Fremden doch anhören sollen. Vielleicht fiele es ihm ja gar so nicht schwer, diesem zu liefern, was er wollte. Womöglich könnte dieser ihn aus seiner verzwickten Lage befreien. Irgendwie schlug er sich aber doch durch und vergaß den Verwegenen.
Ein neuer Anstoß erhielt Tonke, als er eines der Bücher las, die im Vorraum der Wohnung auslagen. Diese Schriften konnten nur von dem Fremden stammen. Wer sonst sollte sie für ihn bereit gelegt haben. Da ihm das eine Buch so gut gefiel, ging Tonke in den Ort und hielt nach dem Fremden Ausschau.
Er hatte gar nicht weit zu laufen, da kam der Verwegene schon daher gegangen und gesellte sich zu ihm. Er stellte sich als Antonin vor und zeigte großes Interesse an den Lebensgewohnheiten wo Tonke herstammte. Als er Tonkes Bereitschaft bemerkte, stellte er sogleich die erste Frage.
„Trägt ihr beim Abstimmen drüben einen Kopfhörer oder nicht?“
Tonke überlegte. Gar nicht lange vor dem Übertritt war er noch mal beim Wählen gewesen. Hatte er dabei einen Kopfhörer getragen? Hm, er wusste es nicht.
„Tut mir leid, sagte er, so auf die Schnelle kann ich nicht sagen, ob mit oder ohne. Geben Sie mir etwas Bedenkzeit, sonst sag ich womöglich was Falsches.“ 
Antonin war einverstanden und sie verabredeten sich auf den nächsten Tag auf die gleiche Zeit.
Die Antwort von Tonke lautete. „Nein, wir tragen keinen Kopfhörer.“
Antonin setzte sich auf die Mauer und grübelte. „Aber wie könnt ihr dann abstimmen? Woher wisst ihr was richtig und was falsch ist?“
„Jeder fällt selber die Entscheidung“, antwortete Tonke lapidar. Er verstand nicht, wo da das Problem lag. Erst später, als er sich längere Zeit im Land jenseits der Grenze aufgehalten hatte, wurde ihm nach und nach bewusst, warum Antonin diese Frage gestellt hatte.
Als Antonin beim dritten Mal immer noch keine Anstalten machte, ihm einen Deal vorzuschlagen, sprach ihn Tonke direkt darauf an.
„Du hast gesagt, dass ich hier kein Geld bräuchte. Wie hast du denn vor, mich zu unterstützen?“
Antonin schaute ihn verwundert an. Nach einer Weile stieß er hervor „Geld habe ich keins, aber schau, ich komm doch auch ohne aus.“
Erst erschrak Tonke, doch dann sagte er sich, er hat eigentlich Recht. Was brauch ich schon? Eigentlich gar nichts.
Je länger Tonke in dem Höhenort lebte, umso ähnlicher wurde er Antonin dem Äußeren nach.  MLF

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