Im nächstgelegenen Ort in der Höhe ließ sich Tonke nieder, nachdem er die Grenze in den Bergen überschritten hatte. Seine Schwester wohnte dort und er konnte bei ihr unterschlüpfen. Der Zweck seines Aufenthalts war die Erkundung des Tals darunter. Er wollte die Lebensweise der hier ansässigen Menschen erkunden. Leider sah es mit seinen Finanzen eher mau aus. Er hatte keinerlei Erspartes.
„Ich habe dir doch gesagt, du musst nichts zahlen, wenn du hier
bist“, rief der Mann ihm zu.
Vage erinnerte sich Tonke, dass ihn während der
Vorbereitungsphase jemand kontaktiert hatte und ihm eine Zusammenarbeit nach
dem Übertritt vorgeschlagen hatte. Das Angebot war ihm ziemlich dubios
vorgekommen und er hatte nicht darauf reagiert.
Weil der Mann einen so wenig vertrauenserweckenden Eindruck
machte, ignorierte er ihn und ging einfach weiter. Der Fremde rief ihm noch
nach.
„Wenn dir mein Äußeres nicht gefällt, bedenke, ich bin hier am
Ort im Viertel der Ärmsten aufgewachsen.“
Der hält mich wohl für einen naiven Christen, dachte Tonke, für
einen, der Armut mit Unschuld und guter Gesinnung gleichsetzt. Schnell folgte
er seiner Schwester, die diesem Menschen auch nicht zu trauen schien.
Als Tonke wieder von seinen existentiellen Sorgen heimgesucht
wurde, sagte er sich, er hätte den Fremden doch anhören sollen. Vielleicht fiele
es ihm ja gar so nicht schwer, diesem zu liefern, was er wollte. Womöglich
könnte dieser ihn aus seiner verzwickten Lage befreien. Irgendwie schlug er
sich aber doch durch und vergaß den Verwegenen.
Ein neuer Anstoß erhielt Tonke, als er eines der Bücher las, die
im Vorraum der Wohnung auslagen. Diese Schriften konnten nur von dem Fremden
stammen. Wer sonst sollte sie für ihn bereit gelegt haben. Da ihm das eine Buch
so gut gefiel, ging Tonke in den Ort und hielt nach dem Fremden Ausschau.
Er hatte gar nicht weit zu laufen, da kam der Verwegene schon
daher gegangen und gesellte sich zu ihm. Er stellte sich als Antonin vor und
zeigte großes Interesse an den Lebensgewohnheiten wo Tonke herstammte. Als er Tonkes
Bereitschaft bemerkte, stellte er sogleich die erste Frage.
„Trägt ihr beim Abstimmen drüben einen Kopfhörer oder nicht?“
Tonke überlegte. Gar nicht lange vor dem Übertritt war er noch
mal beim Wählen gewesen. Hatte er dabei einen Kopfhörer getragen? Hm, er wusste
es nicht.
„Tut mir leid, sagte er, so auf die Schnelle kann ich nicht
sagen, ob mit oder ohne. Geben Sie mir etwas Bedenkzeit, sonst sag ich womöglich
was Falsches.“
Antonin war einverstanden und sie verabredeten sich auf den
nächsten Tag auf die gleiche Zeit.
Die Antwort von Tonke lautete. „Nein, wir tragen keinen
Kopfhörer.“
Antonin setzte sich auf die Mauer und grübelte. „Aber wie könnt
ihr dann abstimmen? Woher wisst ihr was richtig und was falsch ist?“
„Jeder fällt selber die Entscheidung“, antwortete Tonke lapidar. Er
verstand nicht, wo da das Problem lag. Erst später, als er sich längere Zeit im
Land jenseits der Grenze aufgehalten hatte, wurde ihm nach und nach bewusst,
warum Antonin diese Frage gestellt hatte.
Als Antonin beim dritten Mal immer noch keine Anstalten machte,
ihm einen Deal vorzuschlagen, sprach ihn Tonke direkt darauf an.
„Du hast gesagt, dass ich hier kein Geld bräuchte. Wie hast du
denn vor, mich zu unterstützen?“
Antonin schaute ihn verwundert an. Nach einer Weile stieß er
hervor „Geld habe ich keins, aber schau, ich komm doch auch ohne aus.“
Erst erschrak Tonke, doch dann sagte er sich, er hat eigentlich
Recht. Was brauch ich schon? Eigentlich gar nichts.
Je länger Tonke in dem Höhenort lebte, umso ähnlicher wurde er
Antonin dem Äußeren nach. MLF
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