Wendys fünfunddreißigstes Abenteuer
Arnaud führte ihn durch den Dschungel. Im Halbdunkel schlugen sie
sich unter den Urwaldriesen durch. Da und dort fiel etwas Licht ein. Umso
üppiger war an diesen Stellen die Vegetation und ein Durchkommen war kaum noch
möglich. Der Schwerpunkt ihres Interesses galt dem jungen Urwald, der sich aus
neuen, schnellwachsenden Bäumen gebildet hatte. Auch hier war es nicht leicht voranzukommen.
Die Schlingpflanzen füllten jede freie Stelle aus. Wendy ging hinter Arnaud her,
der mit einer Machete den Weg bahnte. Zwischendurch wechselten sie ab. Aber ihm
schmerzte schon nach kurzer Zeit der Arm oder er verhedderte sich so im
Gebüsch, dass sie die Richtung verloren.
„Die Homben bevölkern diese neuen Wälder“, hatte ihm Arnaud auf
der Herfahrt erklärt. „Da sie sich in den herkömmlichen Wäldern nicht sicher
fühlten, hatten sie selber für die Pflanzung dieser neuen Wälder gekämpft. Sie
haben schon früh erkannt, dass sich hier eine neue Möglichkeit zur Entfaltung
bietet“, verriet ihm Arnaud. Arnaud arbeitete unter anderem für eine Zeitung,
für die er die Kolumne ‚Leben im Dschungel‘ schrieb. Darin berichtete er, was
ihm auf seinen Dschungel-Touren zustieß.
Er hatte weiter berichtet. „Sie plädierten deshalb für die Abholzung.
Das Argument war, dass alle großen Bäume krank seien“, sagte Arnaud. „Das war
nicht ganz ehrlich. Aber für unseren Zweck war es genau das Richtige.“ Niemand
habe vorausgesehen, wie schnell die Homben sich im neuen Urwald ausbreiteten.
Das habe auch ihn überrascht, sagte Arnaud.
Jetzt versuchten Arnaud und Wendy zu einem bestimmten Platz im
Urwald zu gelangen, an dem ein Treffen verschiedener Stammessprecher vereinbart
war. „Hier muss es sein, sagte Arnaud, als sie eine kleine Lichtung erreichten,
von der der junge Urwald stufenförmig anstieg. In der Mitte stand ein alter
Baum, der die Brandrodung überstanden hatte. Er war halb verkohlt. Arnaud
lehnte sich gegen den Stamm. Wendy setzte sich auf einen Strunk, der von einer
gelben Flechte bedeckt war. Er zupfte sich die klebrigen Anhängsel von den
Schlingpflanzen an Hemd und Hose weg.
Sie warteten etwa eine halbe Stunde, bis sich im Gebüsch ein
großer blonder Mann zeigte. Wie?, fragte sich Wendy, das soll ein Afrikaner
sein? Aber dann fiel ihm wieder ein, dass sie wohl im Dschungel, aber nicht in
Afrika waren. Mit seinem kantigen Gesicht und dem blonden, fast roten Haar, sah
der erste dem Sänger von Major Tom erstaunlich ähnlich und zufällig hieß er
auch David.
„Du vertrittst die Gruppe vom Hello?“, fragte Arnaud sachlich.
Im Auto hatte er Wendy mitgeteilt, dass die Stämme sich mit
Vorliebe nach Klubs oder Gaststätten benannten, in denen sie ihre Mitglieder
rekrutierten. Und dass zuweilen heftige Streitigkeiten entstanden, wer einen
bestimmten Namen führen durfte und wer nicht.
„Die können mich mal“, sagte David verächtlich. „Asher und ich
bilden jetzt eine eigene Gruppe.“
„Willst du nicht erst mal das Treffen abwarten“, fragte Arnaud, „bestimmt
handelt es dich nur um ein Missverständnis.“
„Missverständnis, päh“, stieß David verächtlich hervor.
Nach und nach drangen von allen Seiten Hombe aus dem Gebüsch.
Große, kleine, dicke, dünne. Super gestylte ebenso wie bescheidenere und Manni,
eine Wollsocke, war auch dabei. Er machte sich mit Gregor, einem kräftigen,
väterlichen Typ für die gemeinsamen Infrastrukturen stark. Was anderen,
jüngeren wie sie sagten, ganz am Arsch vorbeiging. Wendy verlor schnell den
Überblick, wer jetzt da mit wem es gerade konnte, mit wem ins Bett ging oder
sich überworfen hatte. Eine weitgefächerte Szene, wie es sie wohl nur in
Großstädten gab, verdichtete sich hier auf einem Punkt.
Arnaud hörte sich alles an, runzelte mal die Stirn oder lachte,
mischte sich aber nicht ein. Das schien sein Prinzip zu sein. Gregor schenkte
aus einem Plastikfass grünen Waldmeistersaft in Plastikbecher und Wendy bot sie
der Reihe um an. „Was, schon wieder Waldmeister“, wurde gemeckert, aber er sah
keinen, der nicht zugegriffen hätte. Dann verabschiedete sich der erste mit „He
Leute, ich kann hier nicht ewig rumhocken.“ Und schon bald war die Gruppe auf
fünf Hartnäckige, zu denen Manni und Gregor gehörten, geschrumpft. Erst als
Arnaud sagte, sie müssten jetzt zurück, brachen auch die Restlichen auf.
Aber Arnaud kauerte sich wieder hin, zog den Notizblock aus der
Hosentasche und fing an aufzuschreiben. Zwischendurch stellte er Wendy Fragen.
Warum hat sich Paul von Asher getrennt? Was hat David Gregor vorgeworfen?
Warum, meinte Michi, sei Kevin nicht gekommen? Wendy konnte meistens helfen.
Anscheinend hatte er doch mehr aufgeschnappt, als er gemeint hatte.
„Wie viel Guthaben hast du noch auf deinem Handy?“, wollte Arnaud
wissen.
Wendy schaute ihn misstrauisch an. Vom Dschungel aus in die
Zivilisation zu telefonieren, kostete bestimmt ein Heiden Geld. Wiederstrebend
fragte er seinen Kontostand ab. Dreiundzwanzig Euro, das war mehr, als er
erwartet hatte.
Arnaud sagte. „Heute ist der siebte. So viele Tage hat der Monat
noch.“ Er nahm das Mobilteil entgegen und gab im Staccato-Ton die wesentlichen
Punkte seines Protokolls an die Redaktion durch. Drei neue Gruppen hatten sich
gebildet, das war die Quintessenz des Treffens. „Langsam wird’s auch für mich
als Insider schwierig, noch den Überblick zu behalten“, sagte er mit
gerunzelter Stirn.
Auf der Rückfahrt wagte Wendy die Frage. „Warum ist es eigentlich
so wichtig, dass die Homben den neuen Urwald bevölkern?“
Arnaud antwortete nicht gleich. Wendy glaubte schon, er habe
seine Frage überhört. Doch nach einer Weile sah er kurz zu ihm hinüber und
sagte dann.
„Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass sich nicht Schläger
und Säufer darin ausbreiten, die später das Land überschwemmen, ist, die neue
Wildnis selber zu bevölkern.“ MLF
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