Wendys dreißigstes virtuelles Abenteuer
In einer abgelegenen Region wohnte er mit zwei Begleitern der
Ehrung eines muslimischen Dichters bei. Die Auszeichnung fand auf dem örtlichen
Bazar statt. Daneben das laute Treiben eines orientalischen Marktes. Ihm fiel
auf, dass manche der Männer Waffen trugen. Ein neues Buch des Dichters mit dem
Titel, ‚l’Eilil‘, war herausgekommen. Dafür wurde er ausgezeichnet. Ein
Exemplar lag auf ihrem Stehtisch. Das Frontcover war nachtschwarz, durchzogen
von senkrechten Lichtstreifen, wie Sternschnuppen im Fallen. Der Dichter kam an
ihren Tisch. Ein hageres Gesicht, das viele Entbehrungen verriet, in dem aber
Stärke und Durchhaltevermögen deutlich zum Ausdruck kamen.
L’Eilil, ist das richtig ausgesprochen?, fragte Wendy.
Der Muslim bestätigte mit ja, fügte dann aber hinzu, dass es bei
den Stämmen im Osten so hieße – ein gänzlich anderes Wort – und bei denen im
Westen, an der Grenze zum Iran so – wieder ein vollkommen anderer Ausdruck.
Wie man mit so einer Sprachverwirrung leben konnte, war Wendy ein
Rätsel. Das muss für Künstler sehr schwierig sein, dachte er. Und er überlegte,
dass das Arabische als Brückensprache ein Gewinn war.
Weil der Dichter noch etwas zu erledigen hatte, bat er Wendy,
seinen Mantel zu halten und steckte seine Brille in die Manteltasche. Wendys
Begleiter, die Journalisten waren, reagierten ablehnend, aber er nahm den
Mantel an.
„Im Westen liegt Persien“, sagte Wendy verblüfft, „ich habe
geglaubt, wir befänden uns in Äthiopien oder Eritrea.“
Der eine der beiden Journalisten entgegnete. „Die Russen haben sich
dieses Land nicht unter den Nagel reißen können.“ Und er breitete eine Karte
aus.
Wendy wollte gerade einen Blick auf die Karte werfen, als hinter
den Gebäuden ein riesiger Papierdrache erschien. Er stellte einen geflügelten
Fisch dar und war übermäßig groß und lang. Der muslimische Dichter hob ohne
Zögern sein Gewehr, zielte und drückte ab. Das schöne Gebilde sackte zusammen
und sank.
Wendy war dieser Vorfall höchst peinlich. Dass von ihnen, den
fremden Gästen aus, jemand störend eingegriffen hatte. Sie rannten zu viert
durch den Markt und bogen am Ende der Gebäudereihe in die Felder hinaus. Eine
Frau – ihrem Gesicht nach eine Chinesin – saß auf einem Traktor und pflügte das
Feld. Im Schlepptau des Pfluges wurde der gesunkene Drachen durch den Acker
gezerrt.
Vom Gehöft dahinter schrien sie. „Anhalten! Halt doch an!“
Aber die Chinesin fuhr stur weiter bis zum Ende des Ackers. Dort
ließ sie den Pflug von der Hydraulik heben und fuhr um das Feld herum zum
Gehöft zurück. Die vier gingen auf der anderen Seite des Ackers ebenfalls zum
Bauernhof. Er wird ihnen doch hoffentlich etwas Geld zur Entschädigung
anbieten, dachte Wendy.
Sie stießen dazu, wie ein Neugeborenes gerade gewaschen wurde.
Wendy schloss daraus auf einen Brauch bei den Chinesen, mit dem fliegenden
Fisch die Geburt eines Kindes zu verkünden.
Vom Gespräch zwischen den Chinesischen Bauern und dem Muslim
schnappt er nur Bruchstücke auf. Ihm schien, dass sich die Sprechenden auch
untereinander nicht verstanden. Mehr aus den Gebärden, als aus den Worten entnahm
er folgende Standpunkte. Die Chinesen warfen dem Muslim vor, das Glück des
Lebens zu stören. Der muslimische Dichter seinerseits versuchte ihnen verständlich
zu machen, dass materielles Glück für die Seele Unglück bedeute.
Sie kehrten zurück auf den Bazar. Wieder am Stehtisch, fiel Wendy
auf, dass er den Mantel, den ihm der muslimische Dichter überreicht hatte,
hatte fallen lassen. Betreten hob er das Kleidungsstück auf und versicherte
sich, dass die Brille in der Tasche keinen Schaden genommen hatte. Der Muslim
reagierte nicht brüskiert. Wendy wischte den weißen Staub mit einem Taschentuch
ab und reichte den Mantel zurück.
Noch ein Erlebnis prägte sich Wendy ein, bevor er von der Reise
in die gebirgige Region zurückkehrte.
Als er an einer Moschee vorbeikam und die Tür halb offen stand,
warf er einen Blick hinein. Da sah er einen jungen, schönen Muslim in
religiöser Kleidung mit kurzgeschnittenem Bart. Über seiner Schulter lag ein
langer Stoffstreifen, eine Stola, die beidseitig in goldene Enden mündete.
So richtig bewusst wurde sich Wendy des Gesehenen erst, als er zuhause
angekommen, ihren Tisch mit exakt der gleichen Stola dekoriert sah. Bodo hatte
sie der Länge nach über den Holztisch gelegt. Die goldenen Enden lagen zur
Hälfte auf dem Holz und hingen zur Hälfte hinunter.
Als Wendy mit dem Bericht seines Erlebnisses in dem fernen Land
zu Ende war, fiel ihm der Blick in die Moschee wieder ein. Er behielt diese
Entdeckung aber für sich. Er fürchtete, Bodo, als extremer Hedonist, würde das
schöne Stoffband sonst entfernen. MLF
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