Donnerstag, 15. November 2012

124 Vor dem Abflug nach England



 Wendys neunundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Wendy fieberte mit einem Sträfling, der sich hatte befreien können. Sein unsicheres Schicksal beschäftigte ihn. Wie wird es ihm ergehen? Was fängt er mit dem neuen Leben an? Gelingt es ihm, die erlangte Freiheit zu nutzen? Diese Fragen wollten ihm nicht aus dem Kopf.

Erst jetzt, da er in Paris in der Bibliothek saß und seine Arbeit abschloss, wurde ihm bewusst, wie wenig er sich bisher um die Geheimhaltung bemüht hatte. Er arbeitete in englischem Auftrag und war mit dem Flieger von London nach Paris gekommen. Jetzt, da seine Arbeit fertig wurde, erkannte er die Gefahr, in der er damit steckte. Er spürte die Blicke von mehreren Personen auf sich haften. Wenn er zufällig die Augen aufschlug, schauten sie weg. Bisher hatte er geglaubt, sie seien zerstreut und ließen deshalb ihre Blicke herumwandern. Aber das Verhalten einiger war so auffällig, dass kein Zweifel bestand. Manche der Anwesenden waren nicht um ihrer selbst willen da. Sie taten nur so, als würden sie lesen oder schreiben. Im Effekt warteten sie bloß darauf, dass sie etwas von dem, was die wirklich Schreibenden hervorbrachten, zu sehen bekamen und es ans Licht der Öffentlichkeit zerren konnten. Diese Raubvögel mussten bemerkt haben, wie konzentriert er in den letzten Tagen gearbeitet hatte, um endlich zum Schluss zu kommen. Er ärgerte sich nun, dass er für diese abschließende Arbeit an einen öffentlichen Ort gegangen war, noch zusätzlich in diesen besonderen Saal, der seit jeher bei Literaten beliebt war. Die fertige Arbeit bestand zum Schluss nur noch aus dem Kern und das waren nur wenige Seiten. Viel größer war der Stapel mit den Vorarbeiten. Die musste er mitnehmen oder musste sie vernichten. Ein gutes Versteck würde hinreichen, damit die Blätter nicht vor seinem Abflug entdeckt würden. Danach konnte es ihm egal sein. Wenn er das Land erst verlassen hatte, würde ihn nicht mehr kümmern, was damit geschah.
Wendy beobachtete, wie eine Frau beim Papierkorb etwas fallen ließ und dann unauffällig in den Korb griff und eine Handvoll Blätter herausholte. Das gleiche würde mit seinen Vorarbeiten geschehen, wenn er sie hier entsorgte. Nein, in diesem Saal durfte er nichts lassen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als alles in die Tasche zu stecken, wodurch diese sich aufblähte. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass er am Zoll kontrolliert würde und die Gefahr, dass ihm jemand die Tasche entriss, stieg auch.
Als er endlich den Schlusspunkt gesetzt hatte, lehnte er sich zufrieden zurück. Endlich geschafft. Er gab sich Mühe, seine Erleichterung nicht zu sehr zu zeigen. Möglichst gleichgültig stand er auf, stopfte das ganze Material in seine Tasche und schlenderte zum Ausgang hin. Auf einem Tisch nahe am Ausgang, sah er viele Blätter offen herumliegen. Das ist aber ein gefährlicher Ort, hier bei der Tür, dachte er. Ob da nicht immer mal wieder das eine oder andere Blatt abhanden kam? Doch bei näherem Hinsehen entdeckte er eine dünne Kette, die durch ein Loch in der oberen linken Ecke der Blätter ging. Die Kette war an einem Armband, das der Schreibende trug befestigt. Aha, da hat einer eine Gegenmaßnahme getroffen, dachte Wendy. Diese Entdeckung bestätigte ihn zusätzlich in seinen Befürchtungen.

Er ging mit einem Begleiter um ein offenes Gebäude herum – wohl eine Zirkusarena. Es lagen mehrere Kreuzschlitz-Schraubeinsätze am Boden, von der Montage her. Er hob zwei davon auf und bot sie seinem Begleiter an. Dieser lehnte ab – interessierte ihn nicht.

Die Herberge nachts teilte er mit zwei Bekannten. Selbst ihnen traute er nun nicht mehr. Ihm schien, dass ihre Blicke ständig zu seiner Tasche wanderten. Er ärgerte sich über sich selber, dass er keinerlei Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte. Eine Scheinversion hätte er erstellen und diese in die Tasche stecken müssen. Die echte hätte er auf dem Körper zu tragen. Am Morgen startete der Flieger. Dass ihm zum Schluss erst, im allerletzten Moment bewusst wurde, in welcher Gefahr er die ganze Zeit gesteckt hatte, darüber schüttelte er den Kopf. Aber wahrscheinlich hätte er die Arbeit nicht zustande gebracht, wenn er sich die ganze Zeit solchen Ängsten ausgesetzt hätte. Ich muss ja nur noch diese letzten Stunden durchstehen, sagte er sich, dann hab ich’s geschafft.

Auf dem Weg zum Flughafen stand Wendy plötzlich wieder der Häftling vor Augen, der sich die Freiheit verschafft hatte. Aber just, als sie ankamen, wurde er Zeuge, wie der ehemalige Häftling gefasst und einer langen Haft überführt wurde. Was geht das mich an, fragte er sich. Warum beschäftigt mich dieser Mensch so? Er versuchte diese Gedanken abzuschütteln.
Sie waren noch etwas zu früh am Flughafen und mussten warten. Endlich war es so weit. Bei der Zollkontrolle schob er die Tasche durch den Scanner und er wurde mit einem Metalldetektor abgetastet. Der Beamte öffnete seine Tasche und fragte. Was sind das für Papiere?
„Notizen“, sagte Wendy so beiläufig wie möglich.
Doch der Beamte wollte es genauer wissen. Wendys Erklärungen befriedigten ihn nicht.
„Bitte treten Sie zur Seite“, forderte er ihn auf. Ein Anruf und kurze Zeit später, kamen zwei Beamte. Der eine hielt ihn fest, der andere überflog die Blätter. Dann führten sie Wendy ab.
Jetzt wunderte er sich nicht mehr, warum ihn das Schicksal jenes Menschen so betroffen gemacht hatte. Er hatte sein eigenes vor Augen gehabt. MLF

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