Wendys neunundzwanzigstes virtuelles Abenteuer
Wendy fieberte mit einem Sträfling, der
sich hatte befreien können. Sein unsicheres Schicksal beschäftigte ihn. Wie
wird es ihm ergehen? Was fängt er mit dem neuen Leben an? Gelingt es ihm, die
erlangte Freiheit zu nutzen? Diese Fragen wollten ihm nicht aus dem Kopf.
Erst jetzt, da er in Paris in der Bibliothek saß und seine Arbeit
abschloss, wurde ihm bewusst, wie wenig er sich bisher um die Geheimhaltung
bemüht hatte. Er arbeitete in englischem Auftrag und war mit dem Flieger von
London nach Paris gekommen. Jetzt, da seine Arbeit fertig wurde, erkannte er
die Gefahr, in der er damit steckte. Er spürte die Blicke von mehreren Personen
auf sich haften. Wenn er zufällig die Augen aufschlug, schauten sie weg. Bisher
hatte er geglaubt, sie seien zerstreut und ließen deshalb ihre Blicke
herumwandern. Aber das Verhalten einiger war so auffällig, dass kein Zweifel
bestand. Manche der Anwesenden waren nicht um ihrer selbst willen da. Sie taten
nur so, als würden sie lesen oder schreiben. Im Effekt warteten sie bloß
darauf, dass sie etwas von dem, was die wirklich Schreibenden hervorbrachten,
zu sehen bekamen und es ans Licht der Öffentlichkeit zerren konnten. Diese
Raubvögel mussten bemerkt haben, wie konzentriert er in den letzten Tagen
gearbeitet hatte, um endlich zum Schluss zu kommen. Er ärgerte sich nun, dass
er für diese abschließende Arbeit an einen öffentlichen Ort gegangen war, noch
zusätzlich in diesen besonderen Saal, der seit jeher bei Literaten beliebt war.
Die fertige Arbeit bestand zum Schluss nur noch aus dem Kern und das waren nur
wenige Seiten. Viel größer war der Stapel mit den Vorarbeiten. Die musste er
mitnehmen oder musste sie vernichten. Ein gutes Versteck würde hinreichen, damit
die Blätter nicht vor seinem Abflug entdeckt würden. Danach konnte es ihm egal
sein. Wenn er das Land erst verlassen hatte, würde ihn nicht mehr kümmern, was
damit geschah.
Wendy beobachtete, wie eine Frau beim Papierkorb etwas fallen
ließ und dann unauffällig in den Korb griff und eine Handvoll Blätter herausholte.
Das gleiche würde mit seinen Vorarbeiten geschehen, wenn er sie hier entsorgte.
Nein, in diesem Saal durfte er nichts lassen. Also blieb ihm nichts anderes
übrig, als alles in die Tasche zu stecken, wodurch diese sich aufblähte. Das
erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass er am Zoll kontrolliert würde und die
Gefahr, dass ihm jemand die Tasche entriss, stieg auch.
Als er endlich den Schlusspunkt gesetzt hatte, lehnte er sich
zufrieden zurück. Endlich geschafft. Er gab sich Mühe, seine Erleichterung
nicht zu sehr zu zeigen. Möglichst gleichgültig stand er auf, stopfte das ganze
Material in seine Tasche und schlenderte zum Ausgang hin. Auf einem Tisch nahe
am Ausgang, sah er viele Blätter offen herumliegen. Das ist aber ein
gefährlicher Ort, hier bei der Tür, dachte er. Ob da nicht immer mal wieder das
eine oder andere Blatt abhanden kam? Doch bei näherem Hinsehen entdeckte er
eine dünne Kette, die durch ein Loch in der oberen linken Ecke der Blätter
ging. Die Kette war an einem Armband, das der Schreibende trug befestigt. Aha,
da hat einer eine Gegenmaßnahme getroffen, dachte Wendy. Diese Entdeckung
bestätigte ihn zusätzlich in seinen Befürchtungen.
Er ging mit einem Begleiter um ein offenes Gebäude herum – wohl
eine Zirkusarena. Es lagen mehrere Kreuzschlitz-Schraubeinsätze am Boden, von
der Montage her. Er hob zwei davon auf und bot sie seinem Begleiter an. Dieser
lehnte ab – interessierte ihn nicht.
Die Herberge nachts teilte er mit zwei Bekannten. Selbst ihnen
traute er nun nicht mehr. Ihm schien, dass ihre Blicke ständig zu seiner Tasche
wanderten. Er ärgerte sich über sich selber, dass er keinerlei
Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte. Eine Scheinversion hätte er erstellen und
diese in die Tasche stecken müssen. Die echte hätte er auf dem Körper zu
tragen. Am Morgen startete der Flieger. Dass ihm zum Schluss erst, im
allerletzten Moment bewusst wurde, in welcher Gefahr er die ganze Zeit gesteckt
hatte, darüber schüttelte er den Kopf. Aber wahrscheinlich hätte er die Arbeit
nicht zustande gebracht, wenn er sich die ganze Zeit solchen Ängsten ausgesetzt
hätte. Ich muss ja nur noch diese letzten Stunden durchstehen, sagte er sich,
dann hab ich’s geschafft.
Auf dem Weg zum Flughafen stand Wendy plötzlich wieder der
Häftling vor Augen, der sich die Freiheit verschafft hatte. Aber just, als sie
ankamen, wurde er Zeuge, wie der ehemalige Häftling gefasst und einer langen
Haft überführt wurde. Was geht das mich an, fragte er sich. Warum beschäftigt
mich dieser Mensch so? Er versuchte diese Gedanken abzuschütteln.
Sie waren noch etwas zu früh am Flughafen und mussten warten.
Endlich war es so weit. Bei der Zollkontrolle schob er die Tasche durch den
Scanner und er wurde mit einem Metalldetektor abgetastet. Der Beamte öffnete
seine Tasche und fragte. Was sind das für Papiere?
„Notizen“, sagte Wendy so beiläufig wie möglich.
Doch der Beamte wollte es genauer wissen. Wendys Erklärungen
befriedigten ihn nicht.
„Bitte treten Sie zur Seite“, forderte er ihn auf. Ein Anruf und
kurze Zeit später, kamen zwei Beamte. Der eine hielt ihn fest, der andere
überflog die Blätter. Dann führten sie Wendy ab.
Jetzt wunderte er sich nicht mehr, warum ihn das Schicksal jenes
Menschen so betroffen gemacht hatte. Er hatte sein eigenes vor Augen gehabt.
MLF
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