Wendys achtundzwanzigstes virtuelles Abenteuer
Er ahnte schon, dass es kein gewöhnliches Lichtspieltheater sein
würde, sondern ein virtuelles, als er sich nach dem heißen Liebeserlebnis ins
Kino begab – wie Maikel ihm geraten hatte. In dem Moment, da er den Tisch in
der angrenzenden Natur sah, wurde es ihm zur Gewissheit. Dass aber in diesem
Kino seine Erlebnisse einsehbar waren, das realisierte er erst an der Reaktion
der Person, die er dort antraf.
An die Plattform des Kinos angrenzend, stand ein massiver Tisch
in einer Wiese, die leicht abwärts in die Natur hinaus lief. In den Büschen
dahinter bildeten die Blätter eine Fläche, die als Leinwand eingesetzt wurde.
An diesem massiven, viereckigen Tisch saß eine Person, die er wohl dreißig
Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Dame war in den dreißig Jahren kein
bisschen gealtert. Sie schien im Gegenteil etwas jünger, weil ihr Gesicht – im
Gegensatz zu früher – füllig war. Aber sie hatte noch immer den strengen,
prüfenden Blick, das leicht abschätzige Mienenspiel, mit dem sie ihre
Bemerkungen zu Vorfällen in der Großfamilie abzugeben gepflegt hatte. (Etwa
wenn ein Großneffe nicht den von ihr empfohlenen Beruf wählte oder eine
Großnichte ihr Kind früher als neun Monate nach der Hochzeit zur Welt brachte,
usf.) Es war die Grand Dame Geißler, Wendys weltgewandte Großtante, der er hier
seine Aufwartung machte. An ihrer rechten Seite saßen zwei Gesellschafterinnen,
beide leicht zurückversetzt, um keinen Zweifel an ihrer Rolle aufkommen zu
lassen.
Da war Wendy klar, wem er die wohlgemeinte Deutung seines
Gewichtes als erfolgreicher, volksverbundener Politiker zu verdanken hatte.
Nachdem sie in einer reichen Familie als Erzieherin gedient hatte, hatte sie
sich zurückgezogen und eine kleine Pension geführt. Dabei hatte sie ihr
Interesse am gesellschaftlichen Geschehen und insbesondere an der Politik
erhalten und sich immer auf dem neusten Stand zu halten gewusst.
Dass die Großtante, deren Erwartungen in ihn er selber hatte
erleben dürfen, sitzen blieb und ihn nicht freudig zu sich winkte, sondern ihn
mit einem skeptischen Blick maß, daraus schloss Wendy, dass sie den von Maikel
produzierten ‚Fortsetzungsfilm‘ aus Adiswil gesehen hatte. Nicht nur wie er
Nüsse gesammelt und mit einer vermeintlichen Bärbel sich gestritten hatte,
sondern auch seine Frauenunterhose und den Liebestaumel mit einem Mann im
Obergeschoss des Home.
Aber immerhin erkannte sie ihn, wenn auch mit deutlichem
Naserümpfen.
„Das muss wohl mein Neffe
sein“, sagte sie zu den beiden jungen Gesellschafterinnen.
„Nicht der Neffe, ich bin dein Großneffe, liebe Tante“, korrigierte sie
Wendy.
In dem Moment trat Jella von der Plattform her zu ihnen. Sie
ebenfalls in Begleitung. Wendy war unsicher, ob er sich setzen sollte.
Eigentlich war ihm mehr danach, zu Maikel zurück zu kehren und ihm für die
schöne Überraschung zu danken. Aber als Jella und ihre Freundin sich setzten,
nahm er links von ihr Platz. Jella hatte eine Tüte mit Erdnüssen dabei und
streute sie auf dem Tisch aus. Wendy, der das Popcorn-Rascheln in Kinos hasste,
wäre am liebsten aufgesprungen. Doch dann blieb er doch sitzen und hörte zu wie
Jella und ihre Freundin die alte Frau und ihre beiden Begleiterinnen über die
neusten Geschehnisse im Alpenland unterrichteten. Nur gelegentlich trug er
seine Meinung bei, bedenkend, dass das gesellschaftliche Treiben nicht sein
Ding war.
Dreißig Jahre, Tante, da ist einiges gelaufen. Die Wende in
Deutschland, die hast du nicht erlebt oder? Die beiden Deutschland haben sich
wieder vereinigt. In dieser Zeit ist das Sowjet-Imperium zusammengebrochen,
viele Teilstaaten haben sich von Russland gelöst. Und stell dir vor, am elften
September zweitausendundeins, wurde auf die zwei größten Türme von New York ein
Anschlag verübt. Die ganze Menschheit hat am Fernsehen ohnmächtig zugeschaut. Tausende
von Menschen wurden unter den Trümmern begraben.
Als ich das im Radio hörte, dachte ich erst, sie sprächen von
einem Film, warf Wendy ein.
Die Drahtzieher waren Kämpfer aus der Islamischen Welt, die sich
dem Kampf gegen den Westen, insbesondere Amerika verschrieben hatten. Es
folgten Kriege im Irak und in Afghanistan, in denen die USA und ihre
Nato-Verbündeten versuchten, ihre Gegner auszulöschen.
In meinem Land? Berichte mir noch vom Alpenland. Was hat sich da
ereignet? MLF
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