Dienstag, 6. November 2012

121 Die Waage als Lift



Wendys sechsundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Auf seinem nächsten Ausflug in die virtuelle Welt, wurde Wendy zum Hof von Geißlers in Adiswil entführt. Kindheitserinnerungen gemischten Inhalts wurden wach. Die Großcousins und Cousinen waren zu sehr Konkurrenten gewesen, um mit ihnen in ein wirkliches Spiel einzutauchen. Sie hatten gerne ihre Verstecke und ihre schöne Spielhöhle gezeigt, aber mehr, um damit anzugeben, als um richtig einzuladen. Vielleicht sah man sich auch einfach zu selten, um bei einem halbtägigen Besuch am Sonntagnachmittag miteinander warm zu werden.
Ein bisschen wie ich mit der Politik, dachte Wendy – aber erst später, als er die treibende Kraft hinter dieser neuen virtuellen Reise entdeckt hatte. Er hielt Politik für etwas Wichtiges und Unumgängliches und er bewunderte Menschen, die sich in dieser abmühten (wenn sie nicht vom Eigennutz geleitet wurden). Aber es war nicht sein Feld.
Wendy fand sich bei Geißlers hinter der Scheune in dem Hof, der diese mit einem Schuppen bildete. Die Gebäude und der Hof selber, waren noch etwas verstaubter, als es um landwirtschaftliche Nutzbauten herum gewöhnlich schon war. Als hätte dieser Hinterhof dreißig Jahre im Dornröschenschlaf gelegen. Die Geißlers und er hatten zwei Wagen, wie sie die Handwerker benutzten, um die zu bearbeitenden Stück von einer Arbeitsstation zur nächsten zu fahren. Also etwas vom Hobeln zum Kehlen, zum Schleifen, zur Montage, zum Feinschliff und schließlich zur Oberflächenbehandlung.
Mit dem einen dieser beiden Wagen ging Wendy auf die Scheune zu, in der der sich der Aufzug befand. Er öffnete dazu die Schiebetür und schob den Wagen hinein. Erst dachte er, da ist doch gar kein Lift. Doch dann entdeckte er im Boden den abgegrenzten, mit einem Metallprofil eingefassten Bereich einer Fahrzeug-Waage. Da drauf stellte er sich und die Schiebetüre fiel zu.
Eine virtuelle Reise fand jetzt statt, deren Verursacherin er erst später, in einem Kino, auf die Spur kam.

Wendy befand sich hoch in einer Hügellandschaft in einem sehr geräumigen Bahnwagen. Mit ihm im Wagen waren nur noch zwei Personen, alle anderen saßen im Hauptwagen vorne. Es war eine traditionelle Bahn, wie sie vereinzelt in Berggebieten wieder eingesetzt wird, für Touristen. Seinem Blick boten sich grüne Hügel und weiter hinten Felsen. Teile der Landschaft lagen schon im Schatten, aber noch herrschte eine schöne Nachmittagsstimmung. Durch den Lautsprecher ertönte die Stimme der Zugbegleiterin.
„Wir dürfen heute einen besonderen Fahrgast unter uns begrüßen“, sagte sie in einem feierlichen Ton.
Wendy sah, wie die Fahrgäste vorne sich umdrehten und in den Wagen zu ihnen starrten. Der eine Mann seitlich von ihm war es sicher nicht. Der fiel überhaupt nicht auf und regte sich auch nicht. Also musste es der Herr hinter ihm sein, der etwas fünf Reihen weiter hinten saß.
„Der Herr Minister Rösler weilt unter uns“, lüftete jetzt die Touristenagentin das Geheimnis und sprach den Minister persönlich an.
„Herr Minister, was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches? Sind es wichtige Geschäfte oder sind sie nur auf Urlaub?“
Ich möchte ein paar Tage zur Erholung hier verbringen“, gab er mit einer ruhigen, sympathischen Stimme zur Antwort.
Die Agentin stellte ein paar weitere Fragen und er antwortete in natürlicher und angenehmer Art.
Wendy war versucht sich umzudrehen. Aber er wagte doch nicht sich die Blöße zu geben. ER stellte sich den Minister vor, breitschultrig, ein fülliges Gesicht, gelichtetes, graues Haar und ein väterlich joviales Lachen. Jedenfalls war er überrascht, einen hohen Politiker mit einer so freundlichen Stimme, ohne Dünkel und ohne Herablassung zu hören.
Bei Aussteigen nachher stand Wendy dem Minister auf der Plattform der Bergbahn kurz gegenüber. Überrascht sah er einen eher zierlichen Menschen und die Kleidung widersprach geradezu dem Bild, das der sich gemacht hatte. Er trug ein enges Beinkleid aus grünem Filz mit Stulpen als Verbindung zu den Schuhen. Er wirkte wie ein Jäger oder fast noch eher wie ein einfacher Soldat. MLF

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