Wendys fünfundzwanzigstes virtuelles
Abenteuer
Sein Abenteuer begann auf dem Hügelrücken im Wald. Lucinde, die
Frau seines Bruders war mit ihm. Sie hatten möglichst weit vor laufen wollen,
bevor sie abstiegen. Aber dann kam ein Dritter dazu. Ihm wollte Wendy dann doch
nicht die weite Wanderung zumuten. Folglich schlugen sie den ersten Weg ein,
der vom Berg ins Tal hinab führte.
Der Weg führt auf abnehmenden Arkadenbögen im rechten Winkel in
die Tallandschaft hinein. Besser hätten sie’s nicht treffen können. Dank der
Arkaden-Überführung, die erst in der Talmitte flach in die Ebene mündete,
konnten sie alles überblicken. Prächtige, von Bewässerungskanälen durchzogene
Gärten, schöne alte Bauwerke und moderne Firmen, deren Stahlrohre in der Sonne
blinkten. Ein üppigeres Land konnte man sich gar nicht vorstellen.
„Welch herrliches Land“, rief Wendy voller Bewunderung aus. Jetzt
verstand er erst richtig die begeisterten Ausrufe der Romantiker, wenn sie vom
kalten Norden nach Italien gelangt waren. So war er aus dem düsteren Wald in
das lichte, fruchtbare Land gestoßen – einen größeren Gegensatz konnte man sich
nicht denken. Lucinde blieb ungerührt. Er verstand nicht, warum sie dieser
Anblick nicht begeisterte.
Der Weg lief unmittelbar auf ein großes Holzlager zu. Es war nur
leicht überdacht, zum Schutz gegen die Witterung und frei zugänglich. Wendy
stieg auf einen Berg aus feinstem Ulmenholz. Wie ein Bildhauer sich in den
Marmorbrüchen von Carrara vorkommen muss, so fühlte er sich. Mit einer Feinsäge
ausgerüstet schnitt er sich eine große Bahn heraus. Wie Butter ließ sich das
Holz schneiden.
Genau aus diesem Holz hatte der Vorgänger von ihm sein
Meisterstück geschaffen und hatte damit den ersten Preis gewonnen. Auf das
richtige Material kam es an, dann war es leicht eine Auszeichnung zu gewinnen.
Mit einer großen Tranche überglücklich unten ankommend, wurde er von seiner
Begleiterin brüskiert.
„Wir sind hier falsch“, sagte Lucinde, „wir hätten oben doch
weiterlaufen müssen. Hier haben wir nichts verloren.“
Wendy war von ihren Worten ernüchtert. „Was soll das?“, rief er
aus. „Hier gibt’s das tollste Holz und du sagst, dass wir nicht richtig sind.“
Er bestand darauf, im Büro der Firma vorzusprechen.
Es stellte sich heraus, dass es eine Niederlassung der Firma Zeyko
war, die jetzt von Sven, dem Sohn, geführt wurde. Für den Vater hatte Wendy
schon gearbeitet und mit dem Sohn war er befreundet. Er kannte diese Firma also
gut.
Im Foyer lief ein Film über Svens Zeit in Indien. Wendy ließ sich
in ein Polster sinken und warf einen Blick auf die Dokumentation. Er sah einen
Kanal, mit zum Teil üppigen Pflanzen, aber auch mit viel trockener Erde.
Linkerhand lagen einfache Hütten. Rechts vom Kanal wurde ein großes Haus
sichtbar. Ein Backsteinhaus im massigen Stil der Gründerzeit.
„Ah, das ist ja stattlich“, rief er aus, dachte aber. Typisch
indisch ist es ja nicht.
Die Sekretärin berichtigte. „Das ist nicht das des Chefs. Seins
ist noch größer und vor allem moderner.“
Wendy saß nun neben Sven Zeyko am Tisch. Er war stolz neben
diesem erfolgsverwöhnten Menschen zu sitzen. Zeyko wirkte, gemessen an der
wichtigen Rolle, die er spielte, noch jung. Sein joviales Lachen stand ihm gut.
Von den Anderen saßen manche am Boden. Wieder andere hielten sich bei den
Kleiderschränken auf. Lucinde, mit der er den Weg vom Wald hinunter gekommen
war, lag auf dem Bett. Wo immer es möglich war, nahm sie die liegende Position
ein. Und wenn sie nicht liegen konnte, verkrümelte sie sich meistens. Hier, in
diesem kunterbunt gefüllten Raum störte das niemanden. Ein Betrieb herrschte
hier und ein Stimmengewirr, wie es wohl nur in einem reichen, üppigen Haus
anzutreffen war. An Svens anderer Seite saß eine junge Frau. Sie war deutlich
als Inderin zu erkennen. Sven Zeyko zeigte damit offen, dass er in Indien eine
feste Beziehung eingegangen war und mit ihr als Zweitfrau hier zu leben
gedachte. Die Mehrheit der Anwesenden schien ihre Verbindung zu akzeptieren. Zwei
Fälle wurden diskutiert, in denen die Beziehung zwischen einem älteren Mann und
einer jungen Frau von der Erstfrau toleriert wurde und die Beziehung ein Segen
für die Gemeinschaft war. Wendy fiel auch ein Beispiel ein, das er für
glücklich hielt und sagte es.
Da fiel sein Blick auf Lucinde. Flach auf dem Bett liegend,
kochte sie förmlich. Ihr Oberkörper bebte vor Wut. Unter dem dünnen Stoff
konnte er die Brüste zittern sehen.
Als er später in den Nebenraum ging, folgte sie ihm und stellte
ihn zur Rede.
„Bist du dir da so sicher, dass diese Verbindung gut ist für
diese junge Frau?“, fragte sie ihn scharf. „Wohl, wohl, jetzt kann sie den
Tisch mit Öl waschen, aber wie lange noch? Mir scheint Zeyko ist stark gealtert
– erschreckend schnell. Er macht es nicht mehr lange.“
Wendy begriff nicht gleich, was sie so sehr gegen Zeyko
aufbrachte. War er wirklich gealtert? Da musste man schon sehr kritisch
hinschauen, um sowas zu sehen. Aber was die Inderin betraf, da hatte sie
wahrscheinlich Recht. Für sie war es wirklich nicht gut.
Als er wieder neben Zeyko saß, stellte er ihm die Frage. „Was ist
besser, den Tisch mit Öl putzen oder mit Wasser? – Eigentlich mit Öl, nicht
wahr, dann glänzt er. Aber wenn man bedenkt, dass man bald kein Öl mehr hat,
wäre es dann nicht besser Wasser zu nehmen?“
Zu seiner Überraschung durchschaute Zeyko den Spruch sofort. Wendy
spürte deutlich, wie beleidigt er war.
Du kleiner Wixer, dachte Zeyko, ich dulde dich hier an meiner
Seite und du tischst mir eine solche Niederträchtigkeit auf. Doch als großer
jovialer Mensch, wollte er Wendy nicht beschimpfen und gab sich keine Blöße.
Als Wendy sich später in den Nebenräumen aufhielt, war dort auch Zeykos
junge Frau. Sie räumte zusammen mit der Sekretärin Regale ein. Er beobachtete
sie. Sie war erstaunlich jung, fast noch ein Kind. Sie musste auf jeden Fall
ein Kind gewesen sein, als er sie in Indien zu sich genommen hatte. MLF
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