Montag, 24. September 2012

101 Geschenkkorb im Bauch



Wendys sechstes virtuelles Abenteuer

Der neue Aufenthalt in der virtuellen Welt bescherte ihm einen Job – einen, der ihm bis dato unbekannt war. Er hatte von Haus zu Haus zu gehen und Menschen nach ihren Eingebungen zu fragen. Gefühlsmäßiges, überraschende Einsichten, Wachträume, Träume und was es da alles sonst so gibt. Auftraggeber war ein Paar, mit Namen Groß, Johann und Sybille. Die hatten in Emmenbrücke ein Haus eingerichtet, zum Zweck, ‚Eingebungen‘ zu sammeln. Hier wurde das Gesammelte erst mal auf seine Lesbarkeit überprüft und archiviert, später verglichen, sortiert und bewertet. Wendy staunte nicht wenig, über die vielen Regale, gefüllt mit Tausenden von Blättern und Zetteln, alle sorgfältig auf schwarzen Karton geheftet.
Johann und Sybille Groß schienen sichtlich erfreut zu seinen, einen neuen Sammler gefunden zu haben. (Auch wenn es, wie sich durch einen besonderen Umstand ergab, nur für anderthalb Stunden sein sollte). Anscheinend war es nicht leicht, Helfer zu finden, die diese wenig beachteten Regungen der Menschen einzuholen bereit waren. Die beiden schienen ziemlich ungewöhnliche Menschen zu sein. Johann trug sein gewelltes Haar lang wie eine Frau. Entsprechend war auch seine Kleidung, ein beiger Rock, darunter Nylonstrümpfe. Sein Gesicht war erstaunlich weich und freundlich – für jemand, der eine solch konzentrierte Arbeit zu leisten hatte. Es konnte aber auch sein, dass Sybille, seine Partnerin die Hauptarbeit leistete und er mehr die praktisch, logistische Arbeit des Verwaltens übernahm. Sybille hatte glattes, schwarzes Haar und trug ein Kleid. Jedesmal wenn Wendy seinen Blick auf ihr schönes Gesicht lenkte, blieb er an ihren Augen hängen. Durch diese zog sich ein waagrechter Strich, über dem winzige Ziffern notiert waren. Was ihn an das Suchraster einer Radarkamera erinnerte. Ihr Lachen war freundlich, trotzdem wich Wendy intuitiv einen Schritt zurück, vor diesen ungewöhnlichen Augen. Im Verlauf seines Aufenthalts hörte er keinen Laut von ihr. Und doch schien ihm, dass Johann und Sybille sich untereinander verständigten.
Auf die Regale voller gesammelter Zettel schauend, sagte Wendy. „Eine solche Sammlung kenne ich bislang nur vom Tagebuchmuseum in Emmendingen. Die sammeln ja auch persönliche Aufzeichnungen – so ähnlich wie ihr das macht.“
„Ja, da sind wir gewissermaßen das Pendant dazu“, bestätigte Johann. „Sie richten ihren Fokus mehr auf das Tagesgeschehen der Menschen. Wir kümmern uns um die weniger greifbaren Dinge, die wir etwas vereinfachend ‚Eingebungen‘ nennen. Aber wie du siehst, kommt da auch einiges zusammen.“
„Allerdings“ bestätigte Wendy beeindruckt von der Fülle der unzähligen Zettel. Er ließ seinen Blick immer wieder über die ausgestellten Zettel gleiten. Diese Sammlung hatte etwas sehr Intimes. Es war, als wäre hier das Verborgenste, das die Menschen mit sich tragen, angehäuft.
„Das sich aber auch wieder sehr ähneln kann“, fiel Johann ein, der wohl ahnte, was sein Gast dachte.
Wendy schaute ihn erstaunt an. „Wie meinen Sie?“
„Wir haben im Laufe unserer Forschungsarbeit festgestellt, dass Eingebungen sehr ähnlich sein können. Man könnte zu der Ansicht kommen, dass Menschen sich nicht in ihren Eingebungen, sondern durch das Maß, wie weit sie diese auf sich wirken lassen, unterscheiden“.
Wie?, wollte Wendy, der nicht verstanden hatte, fragen. Doch er wurde von etwas Ungewöhnlichem, das ihm am Kleid von Sybille auffiel, abgelenkt. Sie folgte zwar ihrer Unterhaltung, mischte sich aber nicht ins Gespräch ein. Ihm fiel etwas Ungewöhnliches an ihrem Kleid auf. Vom Becken bis zur Brust breitete sich eine runde, glatte Fläche aus, die von einem Reißverschluss umkreist war. Er dachte spontan an einen modernen Reisekoffer mit zusätzlichem Fach auf dem Kofferdeckel. Er konnte sich nicht erklären, zu was so ein runder Deckel bei einem Kleid nützlich sein sollte. Dieses Rätsel sollte sich erst am Abend lösen, als er die beiden in einer Gaststätte wieder traf.
„Wir freuen uns, dass du dich als Sammler zur Verfügung stellst“, sagte Johann und Sybille nickte bestätigend. „Heute ist aber ein besonderer Tag …“ Er sah Wendy an.
Dieser dachte nach, hob dann die Schulter und fragte. „Welcher?“
„Heute ist der Tag des offenen Hauses.“
„Tag des offenen Hauses?, den kenne ich nicht,“ gab Wendy zu.
Johann wurde bewusst, wie wenig der Neue mit den heimischen Bräuchen vertraut war. Ich darf ihn nicht überfordern, dachte er. Es wäre besser, er würde an diesem Aktionstag teilnehmen, bevor er die zähe Arbeit eines Sammlers antritt. Sein Horizont würde sich erweitern. So entschloss er sich für diesen ersten Arbeitstag auf Wendys Arbeitskraft zu verzichten.
„Weißt du was“, schlug er vor. „Du nimmst an diesem Aktionstag teil. Da wirst du manches über die Hintergründe unserer Arbeit erfahren. Wenn schon der Zufall es will, dass du ausgerechnet an diesem Tag bei uns anfängst.“
„Was muss ich tun?“, fragte Wendy. Es drängte ihn, sich nützlich zu machen.
Johann wandte sich Sybille zu. Sie unterhielten sich in ihrer lautlosen Art.
„Also“, sagte er, wieder zu ihm gewandt, „eine Gruppe startet an der Universität. Sie ist besonders klein. Die Universität ist für uns ein hartes Pflaster. Sie können gut Verstärkung brauchen. Er schaute auf die Uhr. Das reicht aber in zwei Stunden noch. Solange könntest du uns noch einen Dienst tun.“
Er hielt Wendy einen Zettel hin. Da drauf waren einige Adressen gelistet. „Wenn du diese Zulieferer ‚melken‘ könntest.“
Wendy sah ihn verdutzt an.
„Das ist eine ganz leichte Arbeit“, beruhigte ihn Johann. „Du gehst einfach hin und holst ab, was sie bereit halten. Es sind Menschen, die regelmäßig ihre Eingebungen aufzeichnen. Die braucht man nur abholen. Bei manchen hängen sie an der Innentür. Wenn nicht, so klingle kurz, dann werden sie sie dir rausreichen.“
Diese Arbeit war wirklich leicht. Die Häuser waren so gebaut, dass man, wenn man ein Haus verließ, gegenüber gleich die nächste Türe sah. Man konnte die Häuser also durchqueren und verlor so nie die Orientierung. Nach einer guten Stunde kehrte Wendy mit dem guten Gefühl, doch noch etwas geleistet zu haben, zu Großens Haus zurück.
Heute gegen Habend werden wir in der neuen Gaststätte in Home sein. Es würde uns freuen, wenn du dazu kämst, sagte Johann.


Wendy befand sich nun plötzlich im Foyer der Universität. Er schaute sich um. Seitlich der Treppe fiel ihm eine kleine Gruppe auf. Sie sahen aus wie eine Abordnung der Fachschaft oder wie der Kern einer Protestbewegung oder eine politische Gruppe. Einzig, dass sie sich zu verstecken schienen war ungewöhnlich. Er ging behutsam näher, da winkte ihm eine groß gewachsene Frau mit hellbraunen Haaren.
Tag des offenen Hauses?, fragte sie. Nicht gerade im Flüsterton, aber auch nicht zu laut. Es klang verschwörerisch und einige aus der Gruppe sahen sich ängstlich um.
Wendy nickte.
Ich bin Luisa und wer bist du?
Wendy sagte leise seinen Namen und sie sagte ihn etwas lauter zu den anderen. Luisa hatte alles, was man als Gruppenleiterin brauchte. Sie war sehr selbstbewusst und hatte etwas Kämpferisches an sich. Überdies war sie auch noch schön. Aber das Besondere war schon ihre taffe Art, die sie außerhalb des Unikomplexes erst richtig entfaltete. Wendy bemerkte, dass die Männer der Gruppe sehr genau beobachteten, was zwischen Luisa und ihm sich abspielte. Gewiss war der eine oder andere dabei, dem nicht so sehr an der Aktion lag, als vielmehr daran, in der Nähe dieser energetisch starken Frau zu sein.
Sobald sie sich aus dem Viertel, in dem sich der Campus befand, entfernt hatten, begannen sie mit ihrer Aktion. Sie taten im Grunde nichts anderes, als was Wendy gerade beim Sammeln der ‚Eingebungen‘ für Großens auch getan hatte. Sie schritten einfach durch die Häuser und zwar konsequent durch jedes hindurch. Es herrschte eine fröhliche Stimmung. Wendy empfand ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Menschen. Die Bewohner, die diesen Tag mitfeierten, empfingen sie an einer Tür im Hausinneren. Manche boten ihnen Getränke an oder Snacks und erhielten dafür Broschüren, die für die Durchlässigkeit der Häuser warben. Spenden in die Kasse. Anderen, die nicht zuhause waren oder die sie nicht empfangen wollten, legten sie ihre Prospekte im Inneren auf einen Tisch oder steckten sie in eine der Türen.
Sie waren schon durch etliche Häuser gegangen, als sie auf ein Haus stießen, dessen Durchgang innen verschlossen war. Da auf das Anklopfen keine Antwort erfolgte, ging man gezwungenermaßen wieder rückwärts hinaus. Aber statt im Bogen zum nächsten Haus zu gehen, wie Wendy erwartete, versammelte man sich auf einem nahen Platz und bereitete eine Kundgebung vor. Andere Gruppen wurden dazu gerufen. Lautsprecher wurden aufgestellt.
Als erstes ließ sich eine Sprecherin alle Zettel mit der Zahl der Häuser, die sie durchquert hatten, reichen. Einige hatten schon früher angefangen und hatten sechzig, siebzig Häuser durchquert, ohne auf eine verschlossene Tür gestoßen zu sein. Insgesamt kamen die sechs Gruppen, die sich versammelt hatten, auf zweihundertfünfundfünfzig Häuser, die offen gewesen war. „Letztes Jahr waren es zweihundertzwölf“, sagte die Sprecherin. „Dreiundvierzig mehr in diesem Jahr, das ist ein großer Erfolg.“
Als Luisa das Wort ergriff, prangerte sie an, dass es immer noch Häuser gab die innen verschlossen waren und schloss mit der Aussage. Das hat zu Folge, dass wir noch durch das Dunkel ziehen.
Nach ihr kam ein Redner, der die Problematik der verschlossenen Häuser noch schärfer formulierte. Er spitzte seine Forderung nach der Durchlässigkeit der Häuser dahin zu, dass er sagte.  Wenn es das nicht gibt, dann gibt es den Atomkonsens.“
Wendy sah, dass die Veranstaltung am Ausklingen war. In der Gruppe, die auch während der Versammlung zusammengeblieben war, gab es unterschiedliche Meinungen, wo der Ausklang mit Essen stattfinden würde. Wendy ging davon aus, dass Luise ihn dazu bitten würde – aber plötzlich war er woanders.

Wendy befand sich im Home – in seinem Elternhaus. Das war geschickt, von hier aus war es nur ein Katzensprung zur neuen Gaststätte, in der er mit Großens verabredet war. Er ging in sein früheres Zimmer, stöberte ein bisschen in einer alten Kiste. Dann kamen zwei Geschwister vorbei. Kaffee wurde gekocht, Schwätzchen gehalten. Ihm fiel noch ein, dass er ein Dokument für die Astoria-Schule, das er hier abgelegt hatte, eintüten und in der Schule einwerfen sollte. Sie hatten ihr Schulgebäude links vom Eingang von Home –Wendys Heimatgemeinde. Sie war etwas tiefer gelegen als die Straße. Gegenüber erhob sich auf einer Terrasse ein Gebäude der öffentlichen Schule und nicht weit entfernt war die neue Gaststätte. Als Wendy vors Haus trat, war gerade ein Wagen der Spedition Englert da. Da entschied er sich, das Kuvert der Spedition mitzugeben. Er adressierte es an die Sekretärin, Beatrice, Astoria-Schule, Home.
So kam es, dass er etwas zu früh in der Gaststätte ankam.

Die Gaststätte war ein moderner, flacher Bau mit Glasfront nach vorne. Wie er sah, wurde sie hauptsächlich von jungen Leuten besucht. Nicht wenige der Anwesenden schienen Studenten zu sein. In der Mitte war ein großes Buffet aufgebaut. Die rechte Hälfte nahm der Nachtisch ein. Wendy fiel eine Schüssel mit Vermicelles ins Auge. Spontan hatte er geglaubt, eine Schüssel mit Spaghetti sei an den falschen Platz gestellt worden. Aber es waren passierte Maronen. Der bloße Anblick förderte schon seine Speichelbildung. Er schaute sich um und entdeckte auch Schlagsahne und Meringues, die man mit Vermicelles zusammen zu essen pflegte. Ihn gelüstete danach, obwohl er wusste, dass ihm davon leicht übel werden konnte. 
Als er sich gerade setzen wollte, kamen Johann und Sybille Groß. Johann trug seine Haare offen wie im Archiv. Er hatte aber einen langen Rock angezogen, der ihn noch größer erscheinen ließ. Er wirkte sehr entspannt und war bei bester Laune.  Sybille trug das gleiche Kleid. Es war am Bauch ausgebuchtet. Nanu, dachte Wendy, sie wird doch nicht schwanger sein. Sie nahm liegend auf der Bank Platz und stützte ihre Schultern auf ein großes Kissen, dadurch kam ihr fülliger Bauch noch stärker zur Geltung.
Wendy berichtete, was er am Nachmittag erlebt hatte. Dass er mit der Gruppe von Luisa sechsundzwanzig Häuser durchquert hatte und alle Gruppen zusammen es durch zweihundertfünfundfünfzig geschafft hatten, bis sie eine Tür im Innern verriegelt angetroffen hatten. Dreiundvierzig mehr als im Vorjahr.
„Letztes Jahr sind es wenige gewesen“, bemerkte Johann. „Es gab auch schon Jahre, da waren es über dreihundert. Die Durchlässigkeit schwankt. Die Annahme, dass irgendwann alle Häuser durchlässig sind, bleibt wohl ein schöner Wunsch“, sagte er nüchtern.
Als die Kellnerin kam und die Getränkebestellung aufnahm, teilte ihr Johann mit, dass sie anlässlich des Tages der offenen Hauses Geschenke für die Gäste mitgebracht hätten und bat sie dies über den Lautsprecher den Gästen mitzuteilen. Wendy sah wie Sybille den Schlitten ihres Reißverschlusses langsam in der Rundung fuhr und als sie damit auf die gleiche Seite kam, den Stoff wegschlug. Zum Vorschein kam ein Früchtekorb. An Früchte dachte er zuerst, weil die Blätter von Ananasfrüchten am höchsten herausragten. Unter dem Stoff kam nicht die Bauchdecke zum Vorschein, sondern ein gefüllter Bauchraum. Dass sie kein gewöhnlicher Mensch war, hatte er schon aufgrund ihren Augen geschlossen, aber jetzt wurde er sich dessen vollends bewusst. Sie muss eine rein virtuelle Frau sein, sagte er sich, sonst würde sie wohl kaum eine solche Umbildung ihres Körpers vornehmen können.
Wendy wandte sich mit der Sorge an Johann, ob die Geschenke an die Gäste nicht eine Konkurrenz zum Buffet der Gaststätte bildete.
Aber Johann meinte, das sei höchstens eine einmalige Einbuße. Es spreche sich herum, wenn Gäste beschenkt würden. Das sei für das Lokal auf längere Sicht förderlich. MLF

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