Wendys sechstes virtuelles
Abenteuer
Der neue Aufenthalt in der virtuellen Welt bescherte ihm einen
Job – einen, der ihm bis dato unbekannt war. Er hatte von Haus zu Haus zu gehen
und Menschen nach ihren Eingebungen zu fragen. Gefühlsmäßiges, überraschende
Einsichten, Wachträume, Träume und was es da alles sonst so gibt. Auftraggeber
war ein Paar, mit Namen Groß, Johann und Sybille. Die hatten in Emmenbrücke ein
Haus eingerichtet, zum Zweck, ‚Eingebungen‘ zu sammeln. Hier wurde das
Gesammelte erst mal auf seine Lesbarkeit überprüft und archiviert, später
verglichen, sortiert und bewertet. Wendy staunte nicht wenig, über die vielen
Regale, gefüllt mit Tausenden von Blättern und Zetteln, alle sorgfältig auf
schwarzen Karton geheftet.
Johann und Sybille Groß schienen sichtlich erfreut zu seinen,
einen neuen Sammler gefunden zu haben. (Auch wenn es, wie sich durch einen
besonderen Umstand ergab, nur für anderthalb Stunden sein sollte). Anscheinend
war es nicht leicht, Helfer zu finden, die diese wenig beachteten Regungen der
Menschen einzuholen bereit waren. Die beiden schienen ziemlich ungewöhnliche
Menschen zu sein. Johann trug sein gewelltes Haar lang wie eine Frau.
Entsprechend war auch seine Kleidung, ein beiger Rock, darunter Nylonstrümpfe.
Sein Gesicht war erstaunlich weich und freundlich – für jemand, der eine solch
konzentrierte Arbeit zu leisten hatte. Es konnte aber auch sein, dass Sybille,
seine Partnerin die Hauptarbeit leistete und er mehr die praktisch, logistische
Arbeit des Verwaltens übernahm. Sybille hatte glattes, schwarzes Haar und trug
ein Kleid. Jedesmal wenn Wendy seinen Blick auf ihr schönes Gesicht lenkte,
blieb er an ihren Augen hängen. Durch diese zog sich ein waagrechter Strich,
über dem winzige Ziffern notiert waren. Was ihn an das Suchraster einer
Radarkamera erinnerte. Ihr Lachen war freundlich, trotzdem wich Wendy intuitiv
einen Schritt zurück, vor diesen ungewöhnlichen Augen. Im Verlauf seines
Aufenthalts hörte er keinen Laut von ihr. Und doch schien ihm, dass Johann und Sybille
sich untereinander verständigten.
Auf die Regale voller gesammelter Zettel schauend, sagte Wendy. „Eine
solche Sammlung kenne ich bislang nur vom Tagebuchmuseum in Emmendingen. Die
sammeln ja auch persönliche Aufzeichnungen – so ähnlich wie ihr das macht.“
„Ja, da sind wir gewissermaßen das Pendant dazu“, bestätigte
Johann. „Sie richten ihren Fokus mehr auf das Tagesgeschehen der Menschen. Wir
kümmern uns um die weniger greifbaren Dinge, die wir etwas vereinfachend ‚Eingebungen‘
nennen. Aber wie du siehst, kommt da auch einiges zusammen.“
„Allerdings“ bestätigte Wendy beeindruckt von der Fülle der
unzähligen Zettel. Er ließ seinen Blick immer wieder über die ausgestellten
Zettel gleiten. Diese Sammlung hatte etwas sehr Intimes. Es war, als wäre hier
das Verborgenste, das die Menschen mit sich tragen, angehäuft.
„Das sich aber auch wieder sehr ähneln kann“, fiel Johann ein,
der wohl ahnte, was sein Gast dachte.
Wendy schaute ihn erstaunt an. „Wie meinen Sie?“
„Wir haben im Laufe unserer Forschungsarbeit festgestellt, dass Eingebungen
sehr ähnlich sein können. Man könnte zu der Ansicht kommen, dass Menschen sich
nicht in ihren Eingebungen, sondern durch das Maß, wie weit sie diese auf sich
wirken lassen, unterscheiden“.
Wie?, wollte Wendy, der nicht verstanden hatte, fragen. Doch er
wurde von etwas Ungewöhnlichem, das ihm am Kleid von Sybille auffiel,
abgelenkt. Sie folgte zwar ihrer Unterhaltung, mischte sich aber nicht ins
Gespräch ein. Ihm fiel etwas Ungewöhnliches an ihrem Kleid auf. Vom Becken bis
zur Brust breitete sich eine runde, glatte Fläche aus, die von einem
Reißverschluss umkreist war. Er dachte spontan an einen modernen Reisekoffer
mit zusätzlichem Fach auf dem Kofferdeckel. Er konnte sich nicht erklären, zu
was so ein runder Deckel bei einem Kleid nützlich sein sollte. Dieses Rätsel
sollte sich erst am Abend lösen, als er die beiden in einer Gaststätte wieder
traf.
„Wir freuen uns, dass du dich als Sammler zur Verfügung stellst“,
sagte Johann und Sybille nickte bestätigend. „Heute ist aber ein besonderer Tag
…“ Er sah Wendy an.
Dieser dachte nach, hob dann die Schulter und fragte. „Welcher?“
„Heute ist der Tag des offenen Hauses.“
„Tag des offenen Hauses?, den kenne ich nicht,“ gab Wendy zu.
Johann wurde bewusst, wie wenig der Neue mit den heimischen
Bräuchen vertraut war. Ich darf ihn nicht überfordern, dachte er. Es wäre
besser, er würde an diesem Aktionstag teilnehmen, bevor er die zähe Arbeit
eines Sammlers antritt. Sein Horizont würde sich erweitern. So entschloss er
sich für diesen ersten Arbeitstag auf Wendys Arbeitskraft zu verzichten.
„Weißt du was“, schlug er vor. „Du nimmst an diesem Aktionstag
teil. Da wirst du manches über die Hintergründe unserer Arbeit erfahren. Wenn
schon der Zufall es will, dass du ausgerechnet an diesem Tag bei uns anfängst.“
„Was muss ich tun?“, fragte Wendy. Es drängte ihn, sich nützlich
zu machen.
Johann wandte sich Sybille zu. Sie unterhielten sich in ihrer
lautlosen Art.
„Also“, sagte er, wieder zu ihm gewandt, „eine Gruppe startet an
der Universität. Sie ist besonders klein. Die Universität ist für uns ein
hartes Pflaster. Sie können gut Verstärkung brauchen. Er schaute auf die Uhr.
Das reicht aber in zwei Stunden noch. Solange könntest du uns noch einen Dienst
tun.“
Er hielt Wendy einen Zettel hin. Da drauf waren einige Adressen
gelistet. „Wenn du diese Zulieferer ‚melken‘ könntest.“
Wendy sah ihn verdutzt an.
„Das ist eine ganz leichte Arbeit“, beruhigte ihn Johann. „Du
gehst einfach hin und holst ab, was sie bereit halten. Es sind Menschen, die
regelmäßig ihre Eingebungen aufzeichnen. Die braucht man nur abholen. Bei
manchen hängen sie an der Innentür. Wenn nicht, so klingle kurz, dann werden
sie sie dir rausreichen.“
Diese Arbeit war wirklich leicht. Die Häuser waren so gebaut,
dass man, wenn man ein Haus verließ, gegenüber gleich die nächste Türe sah. Man
konnte die Häuser also durchqueren und verlor so nie die Orientierung. Nach
einer guten Stunde kehrte Wendy mit dem guten Gefühl, doch noch etwas geleistet
zu haben, zu Großens Haus zurück.
Heute gegen Habend werden wir in der neuen Gaststätte in Home
sein. Es würde uns freuen, wenn du dazu kämst, sagte Johann.
Wendy befand sich nun plötzlich im Foyer der Universität. Er
schaute sich um. Seitlich der Treppe fiel ihm eine kleine Gruppe auf. Sie sahen
aus wie eine Abordnung der Fachschaft oder wie der Kern einer Protestbewegung
oder eine politische Gruppe. Einzig, dass sie sich zu verstecken schienen war
ungewöhnlich. Er ging behutsam näher, da winkte ihm eine groß gewachsene Frau
mit hellbraunen Haaren.
Tag des offenen Hauses?, fragte sie. Nicht gerade im Flüsterton,
aber auch nicht zu laut. Es klang verschwörerisch und einige aus der Gruppe
sahen sich ängstlich um.
Wendy nickte.
Ich bin Luisa und wer bist du?
Wendy sagte leise seinen Namen und sie sagte ihn etwas lauter zu
den anderen. Luisa hatte alles, was man als Gruppenleiterin brauchte. Sie war
sehr selbstbewusst und hatte etwas Kämpferisches an sich. Überdies war sie auch
noch schön. Aber das Besondere war schon ihre taffe Art, die sie außerhalb des
Unikomplexes erst richtig entfaltete. Wendy bemerkte, dass die Männer der
Gruppe sehr genau beobachteten, was zwischen Luisa und ihm sich abspielte.
Gewiss war der eine oder andere dabei, dem nicht so sehr an der Aktion lag, als
vielmehr daran, in der Nähe dieser energetisch starken Frau zu sein.
Sobald sie sich aus dem Viertel, in dem sich der Campus befand,
entfernt hatten, begannen sie mit ihrer Aktion. Sie taten im Grunde nichts
anderes, als was Wendy gerade beim Sammeln der ‚Eingebungen‘ für Großens auch
getan hatte. Sie schritten einfach durch die Häuser und zwar konsequent durch
jedes hindurch. Es herrschte eine fröhliche Stimmung. Wendy empfand ein starkes
Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Menschen. Die Bewohner, die diesen Tag
mitfeierten, empfingen sie an einer Tür im Hausinneren. Manche boten ihnen
Getränke an oder Snacks und erhielten dafür Broschüren, die für die
Durchlässigkeit der Häuser warben. Spenden in die Kasse. Anderen, die nicht
zuhause waren oder die sie nicht empfangen wollten, legten sie ihre Prospekte
im Inneren auf einen Tisch oder steckten sie in eine der Türen.
Sie waren schon durch etliche Häuser gegangen, als sie auf ein
Haus stießen, dessen Durchgang innen verschlossen war. Da auf das Anklopfen keine
Antwort erfolgte, ging man gezwungenermaßen wieder rückwärts hinaus. Aber statt
im Bogen zum nächsten Haus zu gehen, wie Wendy erwartete, versammelte man sich
auf einem nahen Platz und bereitete eine Kundgebung vor. Andere Gruppen wurden
dazu gerufen. Lautsprecher wurden aufgestellt.
Als erstes ließ sich eine Sprecherin alle Zettel mit der Zahl der
Häuser, die sie durchquert hatten, reichen. Einige hatten schon früher
angefangen und hatten sechzig, siebzig Häuser durchquert, ohne auf eine verschlossene
Tür gestoßen zu sein. Insgesamt kamen die sechs Gruppen, die sich versammelt
hatten, auf zweihundertfünfundfünfzig Häuser, die offen gewesen war. „Letztes
Jahr waren es zweihundertzwölf“, sagte die Sprecherin. „Dreiundvierzig mehr in
diesem Jahr, das ist ein großer Erfolg.“
Als Luisa das Wort ergriff, prangerte sie an, dass es immer noch
Häuser gab die innen verschlossen waren und schloss mit der Aussage. Das hat zu Folge, dass wir noch durch das
Dunkel ziehen.
Nach ihr kam ein Redner, der die Problematik der verschlossenen
Häuser noch schärfer formulierte. Er spitzte seine Forderung nach der
Durchlässigkeit der Häuser dahin zu, dass er sagte. „Wenn
es das nicht gibt, dann gibt es den Atomkonsens.“
Wendy sah, dass die Veranstaltung am Ausklingen war. In der
Gruppe, die auch während der Versammlung zusammengeblieben war, gab es
unterschiedliche Meinungen, wo der Ausklang mit Essen stattfinden würde. Wendy
ging davon aus, dass Luise ihn dazu bitten würde – aber plötzlich war er
woanders.
Wendy befand sich im Home – in seinem Elternhaus. Das war
geschickt, von hier aus war es nur ein Katzensprung zur neuen Gaststätte, in
der er mit Großens verabredet war. Er ging in sein früheres Zimmer, stöberte
ein bisschen in einer alten Kiste. Dann kamen zwei Geschwister vorbei. Kaffee
wurde gekocht, Schwätzchen gehalten. Ihm fiel noch ein, dass er ein Dokument
für die Astoria-Schule, das er hier abgelegt hatte, eintüten und in der Schule
einwerfen sollte. Sie hatten ihr Schulgebäude links vom Eingang von Home –Wendys
Heimatgemeinde. Sie war etwas tiefer gelegen als die Straße. Gegenüber erhob
sich auf einer Terrasse ein Gebäude der öffentlichen Schule und nicht weit
entfernt war die neue Gaststätte. Als Wendy vors Haus trat, war gerade ein
Wagen der Spedition Englert da. Da entschied er sich, das Kuvert der Spedition
mitzugeben. Er adressierte es an die Sekretärin, Beatrice, Astoria-Schule,
Home.
So kam es, dass er etwas zu früh in der Gaststätte ankam.
Die Gaststätte war ein moderner, flacher Bau mit Glasfront nach
vorne. Wie er sah, wurde sie hauptsächlich von jungen Leuten besucht. Nicht
wenige der Anwesenden schienen Studenten zu sein. In der Mitte war ein großes
Buffet aufgebaut. Die rechte Hälfte nahm der Nachtisch ein. Wendy fiel eine
Schüssel mit Vermicelles ins Auge. Spontan hatte er geglaubt, eine Schüssel mit
Spaghetti sei an den falschen Platz gestellt worden. Aber es waren passierte
Maronen. Der bloße Anblick förderte schon seine Speichelbildung. Er schaute
sich um und entdeckte auch Schlagsahne und Meringues, die man mit Vermicelles
zusammen zu essen pflegte. Ihn gelüstete danach, obwohl er wusste, dass ihm
davon leicht übel werden konnte.
Als er sich gerade setzen wollte, kamen Johann und Sybille Groß.
Johann trug seine Haare offen wie im Archiv. Er hatte aber einen langen Rock
angezogen, der ihn noch größer erscheinen ließ. Er wirkte sehr entspannt und
war bei bester Laune. Sybille trug das
gleiche Kleid. Es war am Bauch ausgebuchtet. Nanu, dachte Wendy, sie wird doch
nicht schwanger sein. Sie nahm liegend auf der Bank Platz und stützte ihre
Schultern auf ein großes Kissen, dadurch kam ihr fülliger Bauch noch stärker
zur Geltung.
Wendy berichtete, was er am Nachmittag erlebt hatte. Dass er mit
der Gruppe von Luisa sechsundzwanzig Häuser durchquert hatte und alle Gruppen
zusammen es durch zweihundertfünfundfünfzig geschafft hatten, bis sie eine Tür
im Innern verriegelt angetroffen hatten. Dreiundvierzig mehr als im Vorjahr.
„Letztes Jahr sind es wenige gewesen“, bemerkte Johann. „Es gab
auch schon Jahre, da waren es über dreihundert. Die Durchlässigkeit schwankt.
Die Annahme, dass irgendwann alle Häuser durchlässig sind, bleibt wohl ein
schöner Wunsch“, sagte er nüchtern.
Als die Kellnerin kam und die Getränkebestellung aufnahm, teilte
ihr Johann mit, dass sie anlässlich des Tages der offenen Hauses Geschenke für
die Gäste mitgebracht hätten und bat sie dies über den Lautsprecher den Gästen
mitzuteilen. Wendy sah wie Sybille den Schlitten ihres Reißverschlusses langsam
in der Rundung fuhr und als sie damit auf die gleiche Seite kam, den Stoff
wegschlug. Zum Vorschein kam ein Früchtekorb. An Früchte dachte er zuerst, weil
die Blätter von Ananasfrüchten am höchsten herausragten. Unter dem Stoff kam
nicht die Bauchdecke zum Vorschein, sondern ein gefüllter Bauchraum. Dass sie
kein gewöhnlicher Mensch war, hatte er schon aufgrund ihren Augen geschlossen,
aber jetzt wurde er sich dessen vollends bewusst. Sie muss eine rein virtuelle
Frau sein, sagte er sich, sonst würde sie wohl kaum eine solche Umbildung ihres
Körpers vornehmen können.
Wendy wandte sich mit der Sorge an Johann, ob die Geschenke an
die Gäste nicht eine Konkurrenz zum Buffet der Gaststätte bildete.
Aber Johann meinte, das sei höchstens eine einmalige Einbuße. Es
spreche sich herum, wenn Gäste beschenkt würden. Das sei für das Lokal auf
längere Sicht förderlich. MLF
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