Montag, 17. September 2012

96 Das Harz IV Felsband


Wendys erstes virtuelles Abenteuer
Der Start im virtuellen Dasein war genial. Er stand hoch oben im Gebirge und schaute in die Tiefe. Direkt unter ihm lag ein steiler Hang, der sich in einen nächsten fortsetzte und immer weiter. Eine Folge von Abhängen, die grenzenlos schien. Da stürzte er sich den steilen Hang hinab. Das ging so flott, dass er bald den anschließenden erreichte und einfach weiter fuhr. Er glitt die Abhänge hinunter in einem Tempo, das er auf den besten Pisten nicht erreicht hatte. Das Tolle war, er brauchte sich um Unebenheiten und Hindernisse gar keine Sorgen machen. Er war so in Form, dass er mit flatternden Kleidern über alles hinwegfegte, was sich ihm in den Weg stellte. Zwischendurch kamen ihm Zweifel, ob er nicht doch zu schnell sei. Aber sie vergingen wieder und er bretterte weiter, endlos wie ihm schien.
Aber auch die schönste Abfahrt ist mal zu Ende. Es konnte gar nicht anders sein. Bei dieser Geschwindigkeit konnte man nicht ewig fahren. Schließlich erreichte Wendy eine Senke, nach der das Gelände wieder anstieg. Bevor er den tiefsten Punkt erreichte, sah er gegenüber den langen Rücken einer Erhebung liegen. Vor allem fiel ihm eine topographische Besonderheit auf, eine Verwerfung im Gelände mit einer Steilwand, die sich nach hinten zog, so lange wie der Hügelrücken. Sie war von einem Nebelschleier umwebt, der sie wie ein Schal umhüllte. Trotzdem schien die langgezogene Felswand auf Menschen eine magnetische Anziehungskraft auszuüben. Er sah Unzählige die sich im Nebel um diese Geländekante drängten. Er erwartete ein Eldorado von Kletterern und lenkte, noch in der Abfahrt, zur Seite der Steilwand hin. Das Tempo trug ihn durch die Senke auf die Erhebung hoch, bis in die Nähe des Felsbands. Im Schwung der Abfahrt reizte ihn, ein Sprung von der Felskante zu versuchen. Er war neugierig, ob er die paar Meter springen könne.

Wie er dann aber im Nebel unter den an diesem Abhang Beschäftigten stand, waren seinem hochfliegenden Gemüt plötzlich die Flügel geschnitten. Er wurde in eine Gruppe gesogen, die sich ängstlich an den Abstieg machte durch ein Loch in den Felsen. Vorsichtig an Grasbüscheln und Wurzeln sich haltend, kletterten und rutschten sie den Abhang hinunter. Die Stimmung, die hier herrschte, ergriff auch von ihm Besitz - alle schienen sie unsicher zu sein. Ans Springen dachte er längst nicht mehr. Vielmehr hakelte er sich wie die andern den Abhang hinunter.
Unten angekommen zog ihn die Menge mit zu einem Loch weiter hinten, das mit einigen Absätzen für den Aufstieg geeignet war. Einzelne Mutige kletterten in der Felswand, wo diese nicht zu schroff war. Aber niemand schien die richtige Ausrüstung für ein solch sportliches Unterfangen dabei zu haben. Der Aufstieg durch die Felslücke war mühselig und schweißtreibend. Wenn der Vordere nicht weiterkam, musste er warten. Das Stöhnen und Fluchen der andern schlug ihm aufs Gemüt. Nur die Erinnerung an die tolle Abfahrt hielt ihn bei Laune und ließ ihn das virtuelle Dasein nicht schon beim ersten Einsatz verfluchen. Kaum oben trug ihn der Sog zum vorigen Abstieg, der ihm jetzt etwas leichter fiel, weil er die Büsche und Äste kannte, an denen er sich halten konnte.
Mittendrin, auf einem dicken Wurzelarm Rast machend, sah er unten eine bekannte Person,  Tommy, ein feiner, hellhäutiger Mensch. An seinem roten Wuschel erkannte er ihn sofort. Tommy arbeitete schon seit Jahren in einer Firma, die im Aufbau begriffen war und kein Gehalt zahlen konnte. Er wusste von Tommys Existenzkampf. Dieser hatte ihm oft genug davon berichtet. Anfangs hatte Tommy in einer Hütte gewohnt, ohne Wasser und ohne Strom. Dann war er zu seiner Schwester gezogen. Jetzt lebte er wie Wendy mit einem Partner zusammen und noch immer kriegte er kein Geld von seiner Firma. Da hatte Wendy einen Einfall. Er könnte Tommys Sekretär werden, ihm unter die Arme greifen in der Not. Unten angelangt arbeitete er sich vor zu dem herausstechenden Rotschopf. Als nur noch drei Personen zwischen ihnen waren, rief er ihm zu.
„Hallo Tommy, bist du auch hier?“
Tommy drehte sich zwar und erkannte ihn wohl auch, aber er antwortete nicht.
Wendy rief weiter. „Ich habe mir gerade überlegt, ich könnte dich unterstützen, indem ich deine Schreibarbeiten erledige. Was hältst du davon?“
Tommy schaute ihn an. Es war, als müsste er die Worte erst in sich aufnehmen und verdauen. Doch dann schüttelte er abwehrend den Kopf, fixierte ihn nochmal kurz und ließ sich dann weiter treiben, ohne einen weiteren Versuch zu machen, auf ihn zu warten.
Wendy wurde, weil er stehen geblieben war, fast umgeworfen. Er wich zur Seite und fand Unterschlupf bei einem überhängenden Felsen. Er war ernüchternd und enttäuscht. Gerade hatte er einem Menschen, von dem er wusste, dass er bedürftig war, ein äußerst großzügiges Angebot gemacht und war abgewiesen worden. Er will gar nicht, dass ich ihm helfe, sagte er enttäuscht zu sich. Auf dem feuchten Stein sitzend, sah er ernüchtert auf die Menschen, die vorbei strömten. Was geht hier eigentlich vor?, fragte er sich.
Als einer erschöpft neben ihm Zuflucht suchte, sah er ihn neugierig an. Es war ein eher kleiner Mann mit stark gelichtetem Haar und aufgequollenem Gesicht. Er hatte sich sinken lassen und versuchte zu Atem zu kommen.
„Sie, hören Sie mich?“, sagte Wendy laut. Es war ihm, als müsste er gegen einen rauschenden Strom ansprechen. „Was um Himmels Willen geht hier vor sich?“, fragte er und sah ihn dabei so freundlich und aufmunternd wie möglich an.
Der Angesprochene richtete sich im Sitzen hoch und zog die Beine an. „Arbeiten, arbeiten, aber es reicht nicht, um die Familie durchzubringen“, gab er zur Antwort und atmete laut. Das viele Auf und Ab schien ihm stark zugesetzt zu haben.
„Zählen sie zu den Working Poor?“, fragte Wendy mitfühlend.
„Toller neuer Begriff“, brummte der Mann, „aber an meiner Lage ändert er nichts.“ Er ließ den Kopf zwischen die angewinkelten Knie sinken. Dann richtete er sich auf und verschwand ihm Fluss der Vorbeiziehenden.
Wendy bedachte seine Lage nüchtern. Ich habe mit einer tollen Abfahrt begonnen. Die Neugier hat mich hierher geführt. Es gibt keinen Grund, dass ich mich weiter von diesem Strom mitziehen lasse, sagte er sich. Eine halbe Runde musste er noch mitmachen, um wieder nach oben zu kommen, aber dann nichts wie weg, fort von diesen verhängnisvollen Klippen, nahm er sich vor.
Im Aufstieg hangelte er sich mit einem älteren Mann den Hang hoch, der, wie ihm schien, ganz gelassen wirkte.
„Was führt Sie hierher?“, erkühnte sich Wendy zu fragen.
Der Mann schaute ihn schelmisch an und antwortete. „Weit über fünfzig, nicht mehr vermittelbar. Schlage mich durch. Bin jedenfalls froh, dass es Harz IV gibt.“
Wendy glaubte ihm, denn er schien zufrieden.
Aber ein junger Mann, der gerade noch geflucht hatte, weil er sich an einem scharfen Stein einen Schlitz in die Hose gerissen hatte, schaute sie zornig an. Sein Äußeres war gepflegter als bei den anderen. „Der alte Knacker hat gut lachen“, schimpfte er. „Ich habe die Lehre abgeschlossen und bin nicht übernommen worden. Seit zwei Jahren bin ich arbeitslos.“
„Ich seit vier“, sagte einer über ihm in sarkastischem Ton, der nach seiner Art zu urteilen eher ein Lehreranwärter zu sein schien, als ein Handwerker.
Wendy hatte genug gehört. Ihm war jetzt klar, womit die Menschen sich hier abmühten. Er kämpfte sich vollends nach oben und lief dann einfach geradeaus weiter. Bei der Abfahrt hatte er gesehen, dass der Nebel nur einen Schleier um dieses Felsband bildete. Trotzdem musste er seinen ganzen Willen und seine Vorstellungskraft aufbieten, um den Dunst zu durchqueren. Er schaute nicht zurück, und lief immer weiter.
Als er den Nebel hinter sich hatte, dachte er daran, dass Tommy sein Angebot ausgeschlagen hatte. Das hatte ihn verletzt. Wie konnte jemand, der in Not war, die Hilfestellung eines Bekannten zurückweisen. Aber jetzt, in sicherer Distanz von dem verhängnisvollen Felsband, hatte er plötzlich das Gefühl, dass der Bekannte ihm ein Signal hatte geben wollen. Nicht mal das beste Motiv soll dich dazu verleiten, dich in dieser landschaftlichen Verwerfung abzuquälen, wenn es nicht die nackte Not ist, die dich dazu zwingt.
Wendy erreichte das Ende des Hügelrückens. Im Abhang hinten lief er auf eine pflugförmige Einfassung zu, die an die Talstation einer Seilbahn erinnerte. Eine Wehmut, wie er sie von der Rückkehr nach einer schönen Gebirgswanderung kannte, suchte ihn heim. Dann öffnete er die Tür und war draußen.

Unter ihm lag aber nicht eine Ortschaft, sondern dichter Wald. Links vom Eingang stand eine Frau auf dem von einem Geländer eingefassten Absatz. Sie schien auf jemanden zu warten. Er beachtete sie erst nicht. Ihm fiel ein, dass es hier zwei Bushaltestellen zur Wahl gab. Die eine lag nur hundert Meter entfernt in einem dichtbewachsenen Bereich. Die andere war weiter drüben, im lichteren Bereich, wo es den nächsten Hang hochging.
Die Frau, die da stand, schien ihn zu kennen. Sie sprach ihn wie einen guten Bekannten an.
„Ich möchte Jeanette eine Karte schreiben“, sagte sie. „Würdest du bitte auch unterschreiben?“, bat sie ihn und streckte ihm die Karte entgegen.
Erst jetzt, die Karte entgegennehmend, schaute er sie prüfend an. Es fielen ihm mehrere Frauen ein, denen sie ähnlich sah. Sie hatte auch etwas von Jeanette, obwohl sie bestimmt nicht Jeanette war. Er hob sein rechtes Bein und schrieb seinen Namen, so gut es unter diesen Umständen ging.
„Weißt du, was ich von Jeanette erfahren habe?“, fragte die Frau, als er ihr Stift und Karte zurückreichte. Sie schien wirklich etwas von der handfesten, zupackenden Art von Jeanette zu haben.
Er hob die Schultern. „Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich sie gesehen habe“, sagte er. „Ich weiß nicht.“
„Jeanette hat gesagt, wenn’s so weiterläuft, dann könntet ihr bald nach Nordafrika.“ Die letzten Worte betonte sie besonders.
„Wow, wirklich?“, rief Wendy erstaunt. „Sind Sie sicher? Haben Sie sich da nicht verhört?“
Sie schaute ihn befremdet an. Er wusste nicht warum. Ob sie die Sie-Form störte oder ob ihr seine Zweifel missfielen? Noch bei der letzten Begegnung hatte Jeanette ihm prophezeit, dass er über Spanien nie hinauskommen werde.
Es wurde Zeit auf den Bus zu gehen. Er wurde unruhig. Als er sich zum Gegen wandte, war die Frau einfach weg. Virtuell, sagte sich Wendy. Ich bin hier im virtuellen Raum. Dabei hatte er sie noch nicht mal nach ihrem Namen gefragt.
Er wählte die etwas weitere Strecke durch die Senke und ein Stück den sanften Hang hoch. Dort war der Wald lichter. Er wusste ja nicht, wie lange er auf den Bus würde warten müssen. Die Worte der Frau gingen ihm durch den Kopf. „Dann könnt ihr bald nach Nordafrika.“ Was für ein gutes Zeichen, eine solche Botschaft am ersten Tag in der virtuellen Welt. Ihm war jetzt auch klar, auf wen die Frau gewartet hatte. Auf niemand anderen als ihn. Um ihm diese Nachricht zu überbringen.
An der Haltestelle, legte er sich auf die Bank, da er alleine war. Mit einem Mal war es dunkel. Als er sich drehte, bemerkte er, dass er nicht mehr auf der Bank, sondern im Bett lag. Da fiel ihm ein, was Muse gesagt hatte. Er knipste das Licht an und griff nach dem Block und dem Stift. Zwar hätte er lieber gedöst und sich gleich ins nächste Abenteuer gestürzt. Aber er bezwang sich, richtete sich schräg auf und fing an. Der erste Teil war ja sehr schön gewesen. Diese Super-Abfahrt, sowas hatte er in seinen sportlichsten Zeiten nicht erlebt. Weniger schön waren die Erlebnisse bei diesem langgezogenen Bruch in der Landschaft gewesen. Konnte es sein, dass viele ihre virtuelle Zeit an diesem Abriss verbrachten? Ein Schauern ging durch ihn. Dann die Ankunft im Wald. Woher hatte er eigentlich gewusst, dass es dort zwei Bushaltestellen gab? Und von wo war ihm dieser Wald so vertraut vorgekommen? Muse schien Recht zu haben, wenn sie behauptete, dass er davor schon virtuell gelebt hatte. Mit geschlossenen Augen sozusagen.
Die Botschaft mit Nordafrika kam ihm vor wie ein Willkommensgeschenk. Jetzt da er die Augen offen hatte, würde er es schaffen über Spanien hinaus zu gelangen. Wie oft hatte Jeanette ihm vorgeworfen, dass er über das Land, in dem alles spanisch klingt, nie hinausgelangen werde. Es musste sich doch einiges geändert haben. Er hatte sie oft von Algerien schwärmen hören. Das schien ihr Silicon Valley zu sein. MLF

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