Freitag, 14. September 2012

95 Die virtuelle Frau

Er blickte von der Arbeit auf und sah plötzlich eine Frau gegenüber. Sie hatte eine so ungewöhnliche Ausstrahlung, dass er sich fragte, ob sie echt sei oder ob er sie sich nur einbildete. Ein langes gleichmäßiges Gesicht, umrahmt von leicht gewelltem, kastanienbraunem Haar. Auffällig war ein Fleck auf ihrer linken Wange. Er fasste sich unwillkürlich an seine Wange. Sein Muttermal befand sich an derselben Stelle. Ob das Zufall war? Sie trug eine luftige Bluse und … (Er konnte im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob sie einen Rock oder eine Hose getragen hatte) Er schlug mehrmals die Lider auf und zu, um sich zu versichern, dass er sich nicht täuschte. Aber die Frau blieb und sah ihn unvermindert an, als wollte sie sagen. Ja du, dich meine ich, deinetwegen bin ich hier.
Wendy warf einen kurzen Blick auf die Tür, die wie erwartet geschlossen war. Er suchte nach passenden Worten, mit denen eine solche Erscheinung anzusprechen sei. Schließlich entschied er sich – da sie sich ja bei der Arbeit befanden – für eine gängige Formulierung.
„Womit kann ich dienen?“, fragte er, fühlte sich dabei aber alles andere als wohl. Seine Stimme zitterte.
Die unerwartet Eingetretene schien sich am Geschäftston nicht zu stören. Sie antwortete in der gleichen Manier. Wobei sich in ihrem Gesicht – wie ihm auffiel – kein Müskelchen bewegte, nicht mal die Lippen.
„Mich interessiert dein virtuelles Dasein“, sagte sie, als ginge es um die Polsterung seines Bürostuhls.
„Mein was?“, fragte Wendy, er glaubte sich verhört zu haben.
Sie kam etwas näher und wiederholte, wieder gänzlich ohne Bewegung im Gesicht: „Dein – Verhalten – im – Virtuellen.“
Diese vier Worte führten zu einer kurzzeitigen Blockierung von Wendys Denktätigkeit. Mit offenem Mund starrte er zu ihr hinüber und blinzelte dabei, als hoffte er, sie mit dieser Fächerbewegung vertreiben zu können.
Sie kümmerte sich wenig um seine Verwirrung –anscheinend war sie solche Reaktionen gewohnt – und sprach munter drauflos, wie eine gut trainierte Promoterin, die wusste, dass man sie früher oder später schon verstehen würde. „Hier sein ist ja gut und recht“, führte sie aus. „Aber das heißt nicht, dass du – während dein Körper sich regeneriert – nicht doch Einiges unternehmen kannst.“  
„Wie bitte?, fragte Wendy, der sich wieder gefangen hatte.
„Ja, dein virtuelles Leben!“, wiederholte sie.
„Mein virtuelles Leben?“ Wendy glaubte noch immer, es handle sich um einen Versprecher. Virtuelle Welt, das waren für ihn Computerspiele und technische Simulationen, mehr nicht. Von einer virtuellen Welt, parallel zum Hier und Jetzt hatte er noch nie gehört.
Sie blieb aber hartnäckig. „Wendy, hör mir gut zu“, sagte sie. „Wer die virtuelle Welt nicht kennt, verpasst das Wichtigste im Leben.“
Sie hat meinen Namen genannt, dachte er. Woher kennt sie mich? – „Wer sind Sie?“, fragte er geradeheraus. „Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Ich bin Muse, erkennst du mich nicht? Wir haben doch weiß Gott schon viel zusammen unternommen.“
Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Es liegt daran, dass du die virtuelle Welt nicht beachtest.“ Zum ersten Mal lagen Emotionen in ihrer Stimme, sie hatte einen traurigen Klang. „Du verpasst nicht die Hälfte, sondern vier Fünftel deines Daseins“, sagte sie eindringlich.
„Vier Fünftel? Des Daseins?“, wiederholte er mechanisch.
„Weil du in der virtuellen Welt viel mehr erleben kannst, als im platten, festgefahrenen Alltag. – Dabei ist es so einfach.“
Sie hob ihre Arme. Er sah zu, wie ihr Federn wuchsen und wie sie sich langsam in ein geflügeltes Wesen verwandelte. Der Vogel erhob sich und rauschte davon. Kurze Zeit später kehrte er wieder, flatterte in der Luft und landete im Stehen. Sie schüttelte die Federn ab, der Kopf wurde flach und ihr schönes Gesicht nahm wieder seine gewohnte Gestalt an. Sie sah ihn herausfordernd an.
Wendy starrte sie mit offenem Mund an.
„Siehst du jetzt, was ich meine. Das ist virtuell.“
Wendy hob zur Probe die Arme. Aber ihm wuchsen keine Flügel. Enttäuscht ließ er die Hände sinken.
„Nur langsam“, mahnte sie. „Du stehst auf festem Boden. Um virtuell leben zu können, musst du mit deinen Füßen im Virtuellen sein.“
Erst jetzt sah er, dass sie nicht auf der gleichen Fläche mit ihm stand.
„Ich bin ein virtuelles Wesen“, erklärte sie, „während du nur zu vier Fünfteln virtuell bist, bin ich es ganz und gar. Das Handicap ist, dass dein Schwerpunkt im Reellen liegt, in dem einen Fünftel. Das sollten wir beide nie vergessen.“
„Da habe ich keine Bedenken“, warf Wendy ein. „Ich bin jetzt schon so und so alt, aber von dieser virtuellen Seite habe ich noch nie etwas gehört. Wie sollte ich da je vergessen, wer ich bin.“
„Wer du zu sein hast, wäre passender gesagt“, bemerkte Muse in abwertendem Ton und ihre Worte hörten sich an wie das Maunzen einer Katze.
Wendy sah ein Kätzchen vor sich, das schnurrend auf einem Fenstersims lag. Als er näher ging und sie mit aufgerissenen Augen anstarrte, fauchte sie:
„V-i-r-t-u-e-l-l – gschschsch!“
Es hörte sich an, wie wenn jemand zwischen den Zähnen spricht. „Sie sind es also doch“, stotterte er verschüchtert.
Aus der Wand vom Sims an abwärts wurde wieder der Unterkörper der Frau und aus dem Fenster der Oberkörper bis zur Schulter. Die Katze richtete sich auf und verwandelte sich ins Gesicht. Die Vorhänge schrumpften und schmiegten sich als Haare an den Kopf.
Völlig außer sich hatte Wendy auf diesen Verwandlungsvorgang gestarrt. Sie ließ ihm etwas Zeit, bis er sich gefangen hatte. Dann sagte sie.
„Na, wie sieht’s aus? Heute mal virtuell dabei?“
„Wenn, wenn Sie mir, mir erklären, was ich, ich machen muss, dann, dann gerne“, brachte er stotternd hervor.
„Es ist ganz einfach“, sagte sie in beschwichtigendem Ton. „Du setzt dich in einer Mußestunde in einen bequemen Stuhl. Solltest nicht zu müde sein – und keinen Alkohol bitte. Falls es kühl ist, nimm eine Decke. Dann lass dich treiben und wenn du merkst, dass du weg bist, so mach die Augen auf. Alles Weitere ergibt sich von selbst, du wirst sehen.“
Wendy ließ den Kopf hängen und sah sie ohne Hoffnung an. „Woher bitte soll ich erkennen, wenn ich weg bin? Wenn ich weg bin, bin ich weg, liebe Muse, da ist nichts mit erkennen.“
Die Frau streckte ihren Arm nach hinten. Sie zog sich aus dem Unsichtbaren einen Stuhl herbei, setzte sich drauf und schaute Wendy nachdenklich an. Nach einer Weile nickte sie und sagte. „Wahrscheinlich hast du Recht. Du brauchst meinen Beistand. Sie hob ihre Hand mit einer großzügigen Geste. „Ich könnte dir anbieten, dass ich dich abhole. Natürlich nicht ganz. Wir möchten ja, dass du dich entspannst. Aber ich könnte deinen virtuellen Körper wecken. Könnte dafür sorgen, dass du siehst, was du virtuell erlebst. Was hältst du davon?“
Wendy hatte wieder Hoffnung geschöpft und war ganz aufgeregt. Er sprang auf und nickte heftig. „Ja, find ich toll, wenn Sie das können. Wenn Sie mir ermöglichen virtuell zu leben, werde ich Ihnen ewig dankbar sein.“
„Virtuell leben tust du auch ohne meine Hilfe“, sagte sie trocken. „Ich könnte aber dafür sorgen, dass du in deinem virtuellen Körper aufwachst. Sprich, dein virtuelles Bewusstsein aktivierst.“
„Ou cool“, rief Wendy, und ging einige Schritte hin und her.
„Eine Bedingung aber muss ich stellen“, sagte Muse in ernstem Ton. Sie riss ihn damit aus seiner Euphorie. „Du musst, was du erlebst, aufzeichnen. Du musst festhalten, was dir bei deinen Unternehmungen zustößt.“
„Ach ja, warum denn das?“, fragte Wendy und ließ sich ernüchtert auf den Stuhl fallen.
„Du musst es unbedingt“, beharrte sie. „Je gründlicher du dieser Aufgabe nachkommst, umso mehr wird sich dein virtuelles Bewusstsein erhellen.“
„Aber“, wandte Wendy ein, „dazu müsste ich ja meinen Beruf wechseln.“
„Ach, was“, wischte Muse seine Bedenken zur Seite. „Stelle nicht zu hohe Ansprüche an dich. Schreib einfach, so gut du kannst. Mit der Zeit wirst du schon Übung kriegen. Manches – du wirst sehen – bleibt sowieso unbeschreibbar. Gib dir Mühe und mach’s so gut du kannst. Das virtuelle Leben wächst mit dem Schreiben. Das wird dein Ansporn sein.“
Wendy hielt seinen Kopf geneigt. Er sah sie von der Seite an und sagte. „Sie sind also doch eine Muse. Hab ich’s mir doch gedacht.“
„Ist doch nichts Schlimmes, oder?“, fragte sie und sah ihn herausfordernd an.
Wendy schaute auf die Uhr und erschrak. „Oh, ich fürchte, ich muss jetzt mal was tun. Haben Sie später Zeit? Ich bin echt neugierig und würde es am liebsten gleich ausprobieren. Um vier bin ich fertig. So gegen fünf dürfte eine günstige Zeit sein.“
Sie bewegte leise den Kopf auf und ab, stand auf, hob den Stuhl nach hinten, worauf dieser verschwand. Und plötzlich war auch sie weg.

Wendy rieb sich die Augen. Bin ich etwa eingenickt?, fragte er sich. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht geträumt hatte. Ich werd’s ja sehen, sagte er sich.
Er machte sich an die Arbeit. Zwischendurch dachte er immer wieder an diese Frau, die sich erst in einen imposanten Vogel und dann in eine Katze samt Wandelement verwandelt hatte. Bisher hatte er geglaubt, er lösche sich aus, wenn er wegdriftete und würde beim Zurückkommen neu entfacht. Dass dazwischen etwas stattfinden sollte, stimmte ihn äußerst neugierig. Er zitterte vor Erfahrungsdrang. Etwas, das viel größer sei als der Tag. Eine Welt, von der er nichts wusste, weil er seinen Schwerpunkt im Tagesgeschehen hatte. So hatte es diese Frau gesagt, deren Name Muse war und die, wenn er richtig verstanden hatte, rein virtueller Natur war.

Punkt vier machte Wendy Schluss und fuhr nach Hause. Enzo würde nicht vor halb sieben kommen. Es blieb also Zeit. Er rückte den Couchtisch an den Sessel, legte Papier und Schreibzeug darauf. Denn er wollte – wenn das mit dem virtuellen Leben stimmte – ihren Auftrag ernst nehmen und gleich nach dem ersten bewussten Aufenthalt in the virtual world mit dem Schreiben beginnen. Eine Flasche Wasser stellte er auch dazu. Regungslos saß er da, den Kopf angelehnt. Sein Puls war viel zu hoch. Die Vorstellung, dass er bald woanders sein würde, trieb ihn weiter in die Höhe. Doch langsam entspannte er sich und plötzlich war er in einer anderen Welt. MLF

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