Dienstag, 11. September 2012

94 Schwarzer und beiger Fleck


Ganz oben, in der Spitze eines topmodernen Gebäudes, das an einem wichtigen Knotenpunkt in der Hauptstadt stand, wohnte eine Freundin von ihm. Mit ihr war er in einem geschwisterlichen Verhältnis so eng verbunden, dass beide voneinander sagten, sie seien ein Herz und eine Seele. Wenn er sich in ihrer Wohnung aufhielt, die über drei Stufen bis zum höchsten Fenster des Gebäudes reichte, fühlte er sich in erregter Stimmung. Die exquisite Einrichtung, die Lichtfülle, die Exponiertheit mochten diesen Zustand bewirken. Seine Freundin Alexa hatte dieses Appartement in Verbindung mit einer Arbeit ergattert, zu der sie – von Beruf Auftragsschreiberin – in sonderbarer Weise gelangt war. Sie hatte an einem windigen Nachmittag, als sie nach Hause kam, in ihrem Briefkasten einige handbeschriftete Blätter gefunden. Das war der Auftakt zu einer Arbeit, die ihr Leben verändern sollte.
Am Abend vor der Präsentation dieser Arbeit war René bei ihr in der Wohnung. Er spürte wieder dieses prickelnde Gefühl, das er in dieser Wohnung immer hatte. Ihm fiel auf, dass ganz oben, wo Alexa ihr Bett stehen hatte, die Vorhänge sich bewegten. Die Stufen hochgehend, hob er oben den Vorhang und sah dass das Fenster schräg gestellt war. Aber er schloss es nicht.
Am nächsten Morgen herrschte große Aufregung. Das lang erwartete Buch eines großen Drahtziehers war erschienen – im wörtlichen Sinn –bei seiner Freundin in der Wohnung. In Windeseile verbreitet sich die Nachricht. René traf Alexa unten auf dem Platz. Sie war im Begriff zur Buchvorstellung zu gehen. Ihre Ausstrahlung war eine andere als sonst. Die dralle, lebensbejahende Art, die ihm so gefiel an ihr, war an diesem Morgen noch stärker als sonst. Er spürte dass sie ihn auf Distanz hielt. Er hatte neben ihr immer die Rolle des Besonnenen gespielt, die er gerne einnahm, weil sie in seiner Natur lag. Sie wusste wohl von sich, dass sie etwas zu leichtfertig und unbekümmert war und schätzte ihn als Gegenpol. Jetzt spürte René jedoch eine Trennwand zwischen ihnen. Trotzdem begleitete er sie auf dem Weg zum Stadtpark, wo der Event stattfinden sollte.
„Was denkst du, wo das Buch lag?“, fragte sie im Gehen und verriet es ihm, bevor er antworten konnte. „Ich fand es auf der Ablage beim Fenster. Ich wunderte mich, wo es so plötzlich herkam. Da stellte ich fest, dass das Fenster ein Spalt offen war.“
„Ich weiß“, sagte René.
Sie hielt abrupt inne und schaute ihn verwundert an.
René wich ihrem Blick nicht aus und sagte. „Gestern Abend habe ich bemerkt, dass es schräg stand.“
„Und du hast mich nicht gewarnt, hast es nicht geschlossen“, warf sie ihm vor.
„Hätte ich das sollen?“, fragte er zweifelnd. „Du hast dir doch gewünscht, was eingetroffen ist oder etwa nicht?“
Sie presste die Lippen zusammen. „Ja, schon, gab sie zu, aber wenn ich’s gewusst hätte, ich hätte kein Auge zugetan. Stell dir vor, ich hätte die Hand gesehen.“
Ein Schauder ging sowohl ihm als auch ihr über den Rücken.
Alexa fasste sich und lief weiter. Er folgte ihr.
Ein gutes Jahr früher hatte Alexa einen Umschlag mit vier handbeschriebenen Blättern in ihrem Briefkasten gefunden. Auf einem beigelegten Zettel stand die Frage.
SIND SIE BEREIT MEINE NOTIZEN AUSZUARBEITEN? WENN JA, SCHICKEN SIE DIE BEARBEITUNG AN DAS POSTFACH … UND SCHREIBEN SIE IHRE BANKVERBINDUNG DAZU.
Versteckt sich hinter diesen Blättern der Auftrag, den ich mir seit Jahren wünsche?, fragte sie sich. Eine bekannte Persönlichkeit, für die es ein Buch zu schreiben galt. Das, alleine wegen dem Bekanntheitsgrad der Person, an die Spitze der Verkaufslisten rücken würde. Für einen führenden Politiker z.B. oder für eine Filmdiva oder für einen bekannten Musiker. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie den Inhalt gelesen hatte.
Damals hatte sie noch in einer einfachen Wohnung im Stadtteil Hässloch gehaust und sich mehr schlecht als recht mit Schreibaufträgen über Wasser gehalten.
Wie sie vermutet hatte, handelte es sich um eine Person, die eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu spielen schien. Diesen Eindruck hatte sie nach dem ersten Überfliegen des Textes. Allerdings kein Politiker, auch niemand aus der Filmbranche oder Musikszene, sondern wohl eher aus der Wirtschaft. Es dauerte eine Weile, bis sie die teils krakelige, teils fahrige Handschrift entziffern konnte. Sie ging die Seiten zweimal durch. Dann ging sie in die Küche, goss sich einen Tee auf. Erneut las sie die Blätter durch. Die vier Seiten behandelten einen Abschnitt aus den Anfängen seiner Karriere. Die, wie er in einer Nachbemerkung erklärte, für ihn besonders wichtig gewesen war, weil er in dieser Zeit entdeckt hatte, dass das Leben besser funktionierte, wenn man es vereinfachte.
 Alexa übertrug den Inhalt zuerst wortgetreu. Dann erstellte sie davon einen Text in korrektem und flüssigem Stil. Sie nahm sich dafür zwei Tage Zeit. Dann packte sie das Original und ihre Bearbeitung in ein Kuvert. Doch sie steckte es noch nicht in den Briefkasten.
Tatsächlich war sie am nächsten Tag unzufrieden damit. Wenn daraus ein Buch werden sollte, musste sie schon jetzt den richtigen Stil finden. Sie musste aus diesen wenigen Blättern den Auftraggeber in seinem Typ erkennen, und was er den Lesern mitteilen wollte. Aus den ersten Blättern ging hervor, dass der Auftraggeber mit Medien zu tun hatte oder zumindest so begonnen hatte. Ihr waren zwei, drei Größen dieser Branche bekannt. Wobei einer von ihnen besonders herausragte. Im Verlagsbereich hatte er durchgesetzt, dass Bücher nur noch gedruckt wurden, wenn sie auf Anhieb einem der Genres, die er ausgewählt hatte, zuzuordnen waren. In den Zeitungen seines Konzerns waren die Artikellängen auf ein Drittel der ursprünglichen Länge gekürzt worden. Aufs Geratewohl versetzte sie sich in diesen Menschen und versuchte wie er zu sprechen. Sie stellte sich vor den Spiegel und verzerrte ihr Gesicht zu einer ihm ähnlichen Grimasse. In seinem Geiste schrieb sie die Notizen nochmal neu. Jetzt gefielen sie ihr schon deutlich besser.
Eines Tages war in dem Kuvert mit den Blättern ein Hinweis dabei, dass in einem besonderen Gebäude an einem zentralen Knotenpunkt eine Wohnung frei sei, die sie mieten könne. Sie solle sich bei Frau … melden.
Nach dem Umzug hatte René sie dort besucht. Ihm gefiel die Wohnung auch, sie war fantastisch. Exponiert, hell und ganz neu. Dass man nur mit dem Lift in die Wohnung gelangen konnte, störte ihn anfangs (die Feuertreppe war nur für den Notfall erlaubt). Andererseits benutzte er, wenn er in die Bibliothek ging, ja auch jedesmal den Lift.
In diese Gedanken vertieft, wurde René immer langsamer. Sie dagegen, in Gedanken schon bei der Buchvorstellung, lief ihm einen Schritt voraus. Er war ihr ein Klotz am Bein und sie bereute es, dass sie nicht einfach weitergegangen war, nachdem sie sich auf dem Platz begrüßt hatten.
 René hatte seine Abers gegen diesen Auftritt. Nur aus Rücksicht auf ihre gehobene Stimmung sprach er sie nicht aus. Warum macht man um die Äußerungen eines solchen Drahtziehers – im Grunde hielt er ihn sogar für einen Fiesling – solches Aufheben.  Hatte er nicht schon genug Einfluss, indem er mit seinen rüden Methoden gewachsene Strukturen zerstörte und eine vielfältige Kulturlandschaft in lauter Plantagen verwandelte? Musste man sich jetzt noch seine klugen Sprüche anhören und seine Analysen, die eine demokratische Kultur, als etwas Veraltetes darstellten. Aus diesem inneren Widerstreben war René langsamer geworden.
Alexa hielt inne. „Ich sehe, du hast keine Eile, mein Gutester“, sagte sie in ungeduldigem Ton. „Ich lass dich jetzt in deinem Schritt gehen. Ich werde erwartet.“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange und eilte davon. Er schaute ihr nach, wie sie mit strammem Schritt und wehender Bluse auf die provisorisch eingerichtete Bühne mit Stühlen zuschritt.
René fragte sich, ob er ihr überhaupt folgen solle und blieb stehen. Genau betrachtet hatte er gar keine Lust, die Schar derer zu vergrößern, die gespannt auf den Lebensrückblick und die Botschaften eines rücksichtslosen Drahtziehers warteten. Alexa würde ihn bei dem Trubel, den man um ihr Buch machte, bestimmt nicht vermissen. Also drehte er um.

Was sollte er jetzt noch mit dem Tag anfangen? Es war, als hätte Alexa seine Seele und mit dieser seine Begeisterungsfähigkeit davongetragen. Er ging weiter zur neuen Bibliothek, die ähnlich hoch war, wie der Bau in dem Alexa residierte, aber nicht spitz zulaufend, sondern in einer geometrischen, fast kubischen Form. Dort arbeitete er manchmal. Zum Glück war er routiniertes Arbeiten gewohnt. Aber an diesem Tag, da sie ihren Triumpf feierte, fiel es ihm besonders schwer sich aufzuraffen.
Er fuhr mit dem Lift hoch in das oberste Stockwerk, wo dem Lift diagonal gegenüber die mathematische Bibliothek untergebracht war. Die Mitte dieses Gebäudes nahm ein großes Atrium ein. Er hatte also erst die Längsseite und dann die Querseite dem Atrium entlang zu gehen.
In der Ecke jedoch wurde er angesprochen. Ein junger Mann trat an ihn heran und forderte ihn auf, mit in die Vertiefung zu kommen. René war überrascht, aber er folgte der Aufforderung. Der Mann schritt ihm voran zur Außenwand und durch eine Glastür in einen schmalen Raum, der sich außerhalb des Gebäudes befand. Links an der Wand standen einige Menschen, unter ihnen auch ein Freund von ihm, dem er flüchtig zuwinkte. Geradeaus stand ein Tisch, an dem zwei Tutoren saßen. Er wurde an den Tisch gebeten und durfte sich setzen. Er wunderte sich über diesen Ort. Anscheinend war der schmale Raum von außen provisorisch an das Gebäude angedockt worden. Die Vorstellung, dass sie gleich den Fensterreinigern in einer Kabine über dem Abgrund schwebten, ließ ihn erschauern. Die Tutoren schoben ihm ein Blatt zu. René nahm es in die Hand und betrachtete es. Auf diesem Papier war eigentlich nichts anderes drauf als zwei kleine Flecken, um nicht zu sagen, zwei Kleckse. Der eine war schwarz, der andere nicht ganz weiß, beige vielleicht. Das war alles. Er schaute fragend zu den Tutoren hoch.
„Was ist, wenn man die tauscht?“, wurde er gefragt.
Nun war René nicht ganz unvorbereitet auf solche Fragen. Man konnte, wenn von Tutoren eine Frage gestellt wurde, davon ausgehen, dass je banaler sie schien, umso weitreichender und komplexer der Sachverhalt sein würde, den sie betraf. Er hatte auch eine ungefähre Ahnung, um was es sich dabei handeln könnte. Er sagte.
„Mir ist ein solcher Wechsel vertraut von den Koordinaten-Transformationen in der Mathematik.“ Gleichzeitig kam ihm in Erinnerung, wie schwer er sich immer getan hatte, sich die Veränderungen vorzustellen, die eine solche Transformation bewirkte. Auf die Schnelle fiel ihm nichts ein, was er dazu hätte sagen können. Vielleicht etwas von Gegensätzen, von Polaritäten. Aber er schwieg lieber, als sich im Allgemeinen zu ergehen.
Als sie sahen, dass von ihm keine schlüssige Antwort kam, steckten sie ihm ein Blatt von der Größe einer Postkarte zu. Das Blatt beschrieb einen Kurs, der sich mit wenigen Wochenstunden über ein Semester erstrecken würde. Sie empfahlen ihm, sich zu diesem Kurs anzumelden. Er nahm den Zettel entgegen und stand auf.
Sein Freund kam zu ihm. Er hatte den gleichen Zettel. Sie beschlossen zusammen daran teilzunehmen. Die Vorstellung, mit einem Begleiter gemeinsam den Kurs zu besuchen, weckte die Lust aufs Unbekannte und beseitigte seine Vorbehalte. MLF

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