Ganz oben, in der Spitze eines topmodernen Gebäudes, das an einem
wichtigen Knotenpunkt in der Hauptstadt stand, wohnte eine Freundin von ihm.
Mit ihr war er in einem geschwisterlichen Verhältnis so eng verbunden, dass
beide voneinander sagten, sie seien ein Herz und eine Seele. Wenn er sich in
ihrer Wohnung aufhielt, die über drei Stufen bis zum höchsten Fenster des
Gebäudes reichte, fühlte er sich in erregter Stimmung. Die exquisite
Einrichtung, die Lichtfülle, die Exponiertheit mochten diesen Zustand bewirken.
Seine Freundin Alexa hatte dieses Appartement in Verbindung mit einer Arbeit
ergattert, zu der sie – von Beruf Auftragsschreiberin – in sonderbarer Weise
gelangt war. Sie hatte an einem windigen Nachmittag, als sie nach Hause kam, in
ihrem Briefkasten einige handbeschriftete Blätter gefunden. Das war der Auftakt
zu einer Arbeit, die ihr Leben verändern sollte.
Am Abend vor der Präsentation dieser Arbeit war René bei ihr in
der Wohnung. Er spürte wieder dieses prickelnde Gefühl, das er in dieser
Wohnung immer hatte. Ihm fiel auf, dass ganz oben, wo Alexa ihr Bett stehen
hatte, die Vorhänge sich bewegten. Die Stufen hochgehend, hob er oben den
Vorhang und sah dass das Fenster schräg gestellt war. Aber er schloss es nicht.
Am nächsten Morgen herrschte große Aufregung. Das lang erwartete
Buch eines großen Drahtziehers war erschienen – im wörtlichen Sinn –bei seiner
Freundin in der Wohnung. In Windeseile verbreitet sich die Nachricht. René traf
Alexa unten auf dem Platz. Sie war im Begriff zur Buchvorstellung zu gehen. Ihre
Ausstrahlung war eine andere als sonst. Die dralle, lebensbejahende Art, die
ihm so gefiel an ihr, war an diesem Morgen noch stärker als sonst. Er spürte
dass sie ihn auf Distanz hielt. Er hatte neben ihr immer die Rolle des
Besonnenen gespielt, die er gerne einnahm, weil sie in seiner Natur lag. Sie
wusste wohl von sich, dass sie etwas zu leichtfertig und unbekümmert war und
schätzte ihn als Gegenpol. Jetzt spürte René jedoch eine Trennwand zwischen
ihnen. Trotzdem begleitete er sie auf dem Weg zum Stadtpark, wo der Event
stattfinden sollte.
„Was denkst du, wo das Buch lag?“, fragte sie im Gehen und
verriet es ihm, bevor er antworten konnte. „Ich fand es auf der Ablage beim
Fenster. Ich wunderte mich, wo es so plötzlich herkam. Da stellte ich fest,
dass das Fenster ein Spalt offen war.“
„Ich weiß“, sagte René.
Sie hielt abrupt inne und schaute ihn verwundert an.
René wich ihrem Blick nicht aus und sagte. „Gestern Abend habe
ich bemerkt, dass es schräg stand.“
„Und du hast mich nicht gewarnt, hast es nicht geschlossen“, warf
sie ihm vor.
„Hätte ich das sollen?“, fragte er zweifelnd. „Du hast dir doch
gewünscht, was eingetroffen ist oder etwa nicht?“
Sie presste die Lippen zusammen. „Ja, schon, gab sie zu, aber
wenn ich’s gewusst hätte, ich hätte kein Auge zugetan. Stell dir vor, ich hätte
die Hand gesehen.“
Ein Schauder ging sowohl ihm als auch ihr über den Rücken.
Alexa fasste sich und lief weiter. Er folgte ihr.
Ein gutes Jahr früher hatte Alexa einen Umschlag mit vier
handbeschriebenen Blättern in ihrem Briefkasten gefunden. Auf einem beigelegten
Zettel stand die Frage.
SIND SIE BEREIT MEINE NOTIZEN AUSZUARBEITEN? WENN JA, SCHICKEN
SIE DIE BEARBEITUNG AN DAS POSTFACH … UND SCHREIBEN SIE IHRE BANKVERBINDUNG
DAZU.
Versteckt sich hinter diesen Blättern der Auftrag, den ich mir
seit Jahren wünsche?, fragte sie sich. Eine bekannte Persönlichkeit, für die es
ein Buch zu schreiben galt. Das, alleine wegen dem Bekanntheitsgrad der Person,
an die Spitze der Verkaufslisten rücken würde. Für einen führenden Politiker
z.B. oder für eine Filmdiva oder für einen bekannten Musiker. Sie konnte es
kaum erwarten, bis sie den Inhalt gelesen hatte.
Damals hatte sie noch in einer einfachen Wohnung im Stadtteil
Hässloch gehaust und sich mehr schlecht als recht mit Schreibaufträgen über
Wasser gehalten.
Wie sie vermutet hatte, handelte es sich um eine Person, die eine
wichtige Rolle in der Gesellschaft zu spielen schien. Diesen Eindruck hatte sie
nach dem ersten Überfliegen des Textes. Allerdings kein Politiker, auch niemand
aus der Filmbranche oder Musikszene, sondern wohl eher aus der Wirtschaft. Es
dauerte eine Weile, bis sie die teils krakelige, teils fahrige Handschrift entziffern
konnte. Sie ging die Seiten zweimal durch. Dann ging sie in die Küche, goss
sich einen Tee auf. Erneut las sie die Blätter durch. Die vier Seiten
behandelten einen Abschnitt aus den Anfängen seiner Karriere. Die, wie er in
einer Nachbemerkung erklärte, für ihn besonders wichtig gewesen war, weil er in
dieser Zeit entdeckt hatte, dass das Leben besser funktionierte, wenn man es
vereinfachte.
Alexa übertrug den Inhalt
zuerst wortgetreu. Dann erstellte sie davon einen Text in korrektem und
flüssigem Stil. Sie nahm sich dafür zwei Tage Zeit. Dann packte sie das
Original und ihre Bearbeitung in ein Kuvert. Doch sie steckte es noch nicht in
den Briefkasten.
Tatsächlich war sie am nächsten Tag unzufrieden damit. Wenn
daraus ein Buch werden sollte, musste sie schon jetzt den richtigen Stil
finden. Sie musste aus diesen wenigen Blättern den Auftraggeber in seinem Typ
erkennen, und was er den Lesern mitteilen wollte. Aus den ersten Blättern ging
hervor, dass der Auftraggeber mit Medien zu tun hatte oder zumindest so
begonnen hatte. Ihr waren zwei, drei Größen dieser Branche bekannt. Wobei einer
von ihnen besonders herausragte. Im Verlagsbereich hatte er durchgesetzt, dass
Bücher nur noch gedruckt wurden, wenn sie auf Anhieb einem der Genres, die er
ausgewählt hatte, zuzuordnen waren. In den Zeitungen seines Konzerns waren die
Artikellängen auf ein Drittel der ursprünglichen Länge gekürzt worden. Aufs
Geratewohl versetzte sie sich in diesen Menschen und versuchte wie er zu
sprechen. Sie stellte sich vor den Spiegel und verzerrte ihr Gesicht zu einer
ihm ähnlichen Grimasse. In seinem Geiste schrieb sie die Notizen nochmal neu.
Jetzt gefielen sie ihr schon deutlich besser.
Eines Tages war in dem Kuvert mit den Blättern ein Hinweis dabei,
dass in einem besonderen Gebäude an einem zentralen Knotenpunkt eine Wohnung
frei sei, die sie mieten könne. Sie solle sich bei Frau … melden.
Nach dem Umzug hatte René sie dort besucht. Ihm gefiel die
Wohnung auch, sie war fantastisch. Exponiert, hell und ganz neu. Dass man nur
mit dem Lift in die Wohnung gelangen konnte, störte ihn anfangs (die
Feuertreppe war nur für den Notfall erlaubt). Andererseits benutzte er, wenn er
in die Bibliothek ging, ja auch jedesmal den Lift.
In diese Gedanken vertieft, wurde René immer langsamer. Sie
dagegen, in Gedanken schon bei der Buchvorstellung, lief ihm einen Schritt
voraus. Er war ihr ein Klotz am Bein und sie bereute es, dass sie nicht einfach
weitergegangen war, nachdem sie sich auf dem Platz begrüßt hatten.
René hatte seine Abers
gegen diesen Auftritt. Nur aus Rücksicht auf ihre gehobene Stimmung sprach er
sie nicht aus. Warum macht man um die Äußerungen eines solchen Drahtziehers –
im Grunde hielt er ihn sogar für einen Fiesling – solches Aufheben. Hatte er nicht schon genug Einfluss, indem er
mit seinen rüden Methoden gewachsene Strukturen zerstörte und eine vielfältige Kulturlandschaft
in lauter Plantagen verwandelte? Musste man sich jetzt noch seine klugen
Sprüche anhören und seine Analysen, die eine demokratische Kultur, als etwas Veraltetes
darstellten. Aus diesem inneren Widerstreben war René langsamer geworden.
Alexa hielt inne. „Ich sehe, du hast keine Eile, mein Gutester“,
sagte sie in ungeduldigem Ton. „Ich lass dich jetzt in deinem Schritt gehen.
Ich werde erwartet.“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange und eilte davon. Er
schaute ihr nach, wie sie mit strammem Schritt und wehender Bluse auf die
provisorisch eingerichtete Bühne mit Stühlen zuschritt.
René fragte sich, ob er ihr überhaupt folgen solle und blieb
stehen. Genau betrachtet hatte er gar keine Lust, die Schar derer zu
vergrößern, die gespannt auf den Lebensrückblick und die Botschaften eines
rücksichtslosen Drahtziehers warteten. Alexa würde ihn bei dem Trubel, den man
um ihr Buch machte, bestimmt nicht vermissen. Also drehte er um.
Was sollte er jetzt noch mit dem Tag anfangen? Es war, als hätte
Alexa seine Seele und mit dieser seine Begeisterungsfähigkeit davongetragen. Er
ging weiter zur neuen Bibliothek, die ähnlich hoch war, wie der Bau in dem
Alexa residierte, aber nicht spitz zulaufend, sondern in einer geometrischen,
fast kubischen Form. Dort arbeitete er manchmal. Zum Glück war er routiniertes
Arbeiten gewohnt. Aber an diesem Tag, da sie ihren Triumpf feierte, fiel es ihm
besonders schwer sich aufzuraffen.
Er fuhr mit dem Lift hoch in das oberste Stockwerk, wo dem Lift
diagonal gegenüber die mathematische Bibliothek untergebracht war. Die Mitte
dieses Gebäudes nahm ein großes Atrium ein. Er hatte also erst die Längsseite
und dann die Querseite dem Atrium entlang zu gehen.
In der Ecke jedoch wurde er angesprochen. Ein junger Mann trat an
ihn heran und forderte ihn auf, mit in die Vertiefung zu kommen. René war
überrascht, aber er folgte der Aufforderung. Der Mann schritt ihm voran zur
Außenwand und durch eine Glastür in einen schmalen Raum, der sich außerhalb des
Gebäudes befand. Links an der Wand standen einige Menschen, unter ihnen auch
ein Freund von ihm, dem er flüchtig zuwinkte. Geradeaus stand ein Tisch, an dem
zwei Tutoren saßen. Er wurde an den Tisch gebeten und durfte sich setzen. Er
wunderte sich über diesen Ort. Anscheinend war der schmale Raum von außen
provisorisch an das Gebäude angedockt worden. Die Vorstellung, dass sie gleich
den Fensterreinigern in einer Kabine über dem Abgrund schwebten, ließ ihn
erschauern. Die Tutoren schoben ihm ein Blatt zu. René nahm es in die Hand und
betrachtete es. Auf diesem Papier war eigentlich nichts anderes drauf als zwei
kleine Flecken, um nicht zu sagen, zwei Kleckse. Der eine war schwarz, der
andere nicht ganz weiß, beige vielleicht. Das war alles. Er schaute fragend zu
den Tutoren hoch.
„Was ist, wenn man die tauscht?“, wurde er gefragt.
Nun war René nicht ganz unvorbereitet auf solche Fragen. Man
konnte, wenn von Tutoren eine Frage gestellt wurde, davon ausgehen, dass je
banaler sie schien, umso weitreichender und komplexer der Sachverhalt sein
würde, den sie betraf. Er hatte auch eine ungefähre Ahnung, um was es sich
dabei handeln könnte. Er sagte.
„Mir ist ein solcher Wechsel vertraut von den
Koordinaten-Transformationen in der Mathematik.“ Gleichzeitig kam ihm in
Erinnerung, wie schwer er sich immer getan hatte, sich die Veränderungen
vorzustellen, die eine solche Transformation bewirkte. Auf die Schnelle fiel
ihm nichts ein, was er dazu hätte sagen können. Vielleicht etwas von
Gegensätzen, von Polaritäten. Aber er schwieg lieber, als sich im Allgemeinen
zu ergehen.
Als sie sahen, dass von ihm keine schlüssige Antwort kam,
steckten sie ihm ein Blatt von der Größe einer Postkarte zu. Das Blatt
beschrieb einen Kurs, der sich mit wenigen Wochenstunden über ein Semester
erstrecken würde. Sie empfahlen ihm, sich zu diesem Kurs anzumelden. Er nahm
den Zettel entgegen und stand auf.
Sein Freund kam zu ihm. Er hatte den gleichen Zettel. Sie
beschlossen zusammen daran teilzunehmen. Die Vorstellung, mit einem Begleiter
gemeinsam den Kurs zu besuchen, weckte die Lust aufs Unbekannte und beseitigte
seine Vorbehalte. MLF
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