Wendys neuntes virtuelles
Abenteuer
Ausgangspunkt des neuen Abenteuers war die Magadinoebene im
Tessin. Von dort aus brachen sie zu einer Wanderung auf bis nach Home, nördlich
der Alpen. Der Weg führte durch eine Höhle, die die Alpen durchquert und die
Wanderer bis nach Home vordringen ließ. In dem Bereich der Höhle, wo sie noch
vom Außenlicht erhellt war, hatten sich die Wanderer versammelt. Der Lehrer,
ein großer, gestrenger Mann, rief dazu auf, eine Person unter ihnen für die
Führung auszuwählen. Denn er ging selber nicht mit. Es solle derjenige sein,
der am nächsten dem Wachholderreisig sitze, den er in die Höhle gelegt hatte.
Er erzählte die Bechstein’sche Geschichte vom Hirsedieb. Dort
hatte der jüngste Bruder mittels Stacheldraht sich wach halten können und hatte
so das Pferdchen gefangen, das ihn später auf den Glasberg zur Prinzessin
führen sollte.
Es war ausgerechnet Brigga, Wendys unbedarfte, luftige Schwester,
neben der das stachelige Reisig lag. Erst schüttelte Wendy den Kopf, wie sollten
sie da je ans Ziel gelangen. Aber dann dachte er, dass sie doch einiges mit dem
jüngsten Bruder, aus der Geschichte gemein hatte.
Die Wanderung durchs Dunkel der Höhle musste jedenfalls geglückt
sein, denn Wendy befand sich als nächstes in Home.
Hinter dem Elternhaus standen zwei Kamine nah beieinander.
Stattliche, glänzende Rohre von einem Durchmesser, der gut einer Person im
Innern Platz bot. Nach oben war ihr Ende nicht zu sehen.
Wendy machte sich im linken der beiden Kaminzüge zu schaffen. Von
der Öffnung am Boden drang genug Licht ein, dass er darin arbeiten konnte. Es
war warm im Innern wie in einem Kuhdarm. Doch er brauchte Hitze, um den
gewünschten Sog zu entwickeln. Zu diesem Zweck wollte er ein Feuer machen. Die
Bauweise des Rohres zeigte, dass der Kamin als Pflanze gewachsen war. Er setzte
sich von Knoten zu Knoten fort. Die Knoten ließen einerseits genug freien Raum,
dass er hindurch klettern konnte, andererseits bildeten sie eine waagrechte Fläche,
auf der er sein Feuer anzufachen sich anschickte. Das Holz wie die Indianer in
Pyramidenform aufzuschichten, war ein schwieriges Unterfangen. Er brauchte
mehrere Anläufe bis die Pyramide stand und es genug Holz war.
Zwischendurch ging er zum rechten Kaminschacht, in dem sich seine
Großmutter befand. Sie nannten sie die Tessinerin, weil sie die sprichwörtliche
Frömmigkeit der Tessiner hatte. Damit die alte Frau von seiner Geschäftigkeit
nicht gestört wurde, holte er drinnen im Home drei Schlaftabletten.
Ein Berater, der auf dem Brunnendeckel vor den Kaminen saß, riet
Wendy.
„Gib ihr nicht alle auf ein
Mal. Ich habe ihr auch schon welche gegeben.“
Also legte Wendy nur jeweils eine der weißen Tabletten nach
drinnen, wenn er aus dem anderen Rohr herauskam, in dem er das Feuer vorbereitete.
Die Arbeit war aufregend. Er wurde von Sorgen geplagt, ob von unten genug Luft
einströmen werde, ob die Hitze an der Stelle, wo er das Feuer entfachte, nicht
zu hoch werden würde, und, und, und. Aber schließlich musste es doch geklappt
haben.
Wendy ging zum Hitzkircher Bahnhof in Richensee. Leider musste er
feststellen, dass der Zug zur vollen Stunden schon raus war. Ob er es mit dem
Zug zur nächsten Stunde noch schaffen würde, war sehr ungewiss. Zum Glück hatte
er eine Bekannte in der Nähe, die ihm schon oft eine Stütze gewesen war. Sie
suchte er auf.
Sie ließ ihn eintreten. Bot ihm Platz auf dem Sofa an und goss
ihm Tee ein. Wendy hatte ein Buch dabei über Katharina Hepburn. Das wollte er
ihr zeigen. Zur Vorbereitung sagte er.
„Die Autorin vertritt die Ansicht, dass Abheben und Brennen, das
große Geheimnis dieser großen Künstlerin war. Sie dokumentiert diese Behauptung
anhand einer Bildertafel.“
Er schlug das Buch an der Stelle mit der Bildertafel auf. Das
Faltblatt mit Fotos zeigte mehrere charismatische Persönlichkeiten, von Queen
Victoria über einen afrikanischen Trommler bis zu Gandhi. Insgesamt mindestens
zehn große Figuren.
Wendy erklärte weiter. „Die Autorin will beim Steigern bis zur
Hochform mehrere ekstatische Zustände an ihr beobachtet haben, bei denen sie
Züge dieser Persönlichkeiten erkannt hat.“
Die Bekannte drehte seine Hand und warf einen Blick auf die
Rückseite. Dem Buch fehlten die ersten und die letzten Seiten samt Umschlag.
Als Wendy es wieder aufschlagen wollte, hatte sich ein klebriger, weißer Schaum
auf der ersten vorhandenen Seite festgesetzt. Er versuchte diesen zu entfernen,
bekam aber klebrige Finger und fürchtete die Buchseiten damit zu verschmieren.
Die Bekannte hatte ihm zugehört und eine Weile lang seine
Begeisterung geteilt. Aber dann sagte sie. „Ich finde, du solltest zum Bahnhof
gehen.“
Wendy erklärte ihr, dass erst zur nächsten Stunde wieder ein Zug
fahren werde.
Sie verschwand. Nach einer Weile kehrte sie zurück. „Da fahren
durchaus auch Züge zwischen den Stunden, du solltest wirklich aufbrechen.“
Er sah’s ein und eilte zum Bahnhof. Als er ankam, stand ein Zug
auf einem neuen Gleis weiter hinten. Es wimmelte von Schülern, war wohl ein
Schulzug. Er beeilte sich. Ging durch die Unterführung. Aber als er die Stufen
hochkam, hörte er wie der Zug wegrollte.
Das Perron war seltsam gestaltet, alles andere als platt (Wie man
von einer Plattform erwarten dürfte). Die senkrechten Flächen waren weiß
gekalkt, was ihn an ein griechisches Dorf erinnerte. Dann kam der
Bahnhofvorsteher. Wendy hörte seine Stimme, bevor er ihn sah, dem Tonfall nach,
ein Grieche. Wendy wurde laut.
„Was fällt ihnen ein, den Zug gegenüber auf einem so unebenen
Perron fahren zu lassen, wo doch da drüben der eigentliche Bahnhof ist.“
Er hatte das Gefühl, dass ihm die umstehenden Menschen Recht
gaben.
Der unschöne Vorsteher brummt in seinem sonderbaren Tonfall etwas
von viel Geld wettmachen. Aber er war versöhnlich gestimmt.
Wendy sah eine Gruppe von jungen Männern, die etwas höher
standen. Der in der Mitte gefiel ihm besonders. Er hatte einen konzentrierten
Blick. Aber dabei presste er die Augenbrauen nicht nach unten, sondern hob sie
hoch. Der bloße Anblick dieses Mannes half ihm sich zu gedulden und auf den
nächsten Zug zu warten. MLF
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