Freitag, 28. September 2012

103 B Das Opfer per Postpaket

Wendys acht b-tes virtuelles Abenteuer


Wendy befand sich in einer schönen, ebenen Wiesenlandschaft. Er stand bei einem hohen Zaun einer Pferdekoppel, die ihn von seinem späteren Geliebten Bodo trennte. Es war ein lichter Tag mit frühherbstlicher Stimmung, nichts deutete darauf hin, dass er ein großes Opfer würde leisten müssen. Bodo hatte sich nackt ausgezogen und ließ seinen drallen, kräftigen Körper via Sonnen-Direktbestrahlung wärmen. Vom Feldweg her kam der Briefträger über die Wiese. Er hatte vorne am Weg gehalten und lief die paar Schritte zu Fuß zu ihnen. Wendy fiel auf, die Örtlichkeit in der Wiese und die Ankunft des Postboten überlappten sich mit der Eröffnung des letzten Films eines Bolschois. Da ahnte Wendy, dass er etwas würde zu opfern haben, denn in diesem Film ging es um ein Opfer.
Bodo kam an den Zaun und begrüßte den Briefträger. „Ist es nicht ein herrliches Wetter, heute“, rief er.
Der Briefträger, ein schöner, aber etwas verhaltener Mann, geriet von der Bemerkung Bodos geradezu in Rage. Während Wendys Blick vom Rollkragenpullover des Boten angezogen wurde, dessen Ärmel bis über die Handgelenke reichten, rief dieser verstimmt.
„Was, ein schönes Wetter? Jetzt, da der Herbst kommt. Gliederschmerzen, Nierenstechen, Blasenreizung.“ Er fasste sich dabei mit der rechten Hand unwillkürlich an die Seite und an den Unterbauch.
Da breitete Bodo theatralisch die Arme aus und legte den Kopf zurück und rief. „Ist doch herrlich diese Sonne.“
Der Briefträger darauf halb zu sich. „Da könnt ich schon wieder eine Wut kriegen.“ (Auf diese Arbeitslosen, die sich’s gut gehen lassen, meinte er wohl) Dann wandte er sich an Wendy und verfiel in den Berufston. „Ich habe ein Paket für Sie“, sagte er. „Wann sind Sie denn zu Hause, dass ich es vorbeibringen kann?“
Wendy stutzte, ein Paket? Was konnte das sein? Halb war er neugierig, halb misstrauisch.
„Wenn sie’s ins Foyer der Uni bringen könnten. Ich wohne derzeit dort, weil ich doch meinen Abschluss mache“, gab er zur Antwort.
Der Briefträger, sagte, er werde dort später vorbeikommen und verabschiedete sich.

Das Paket traf ein, kurz bevor das Prüfungsjahr begann. Weil Wendy die meiste Zeit an der Universität verbrachte, hatte er ein Studentenzimmer bezogen. Er hatte, bis auf einen, alle Scheine beisammen und musste sich nur noch für die Prüfer entscheiden, um den Abschluss angehen zu können.
Da Wendy es eilig hatte, fuhr er mit seinem Wagen über den Platz vor dem Foyer zum Wohnheim hin, obwohl dazwischen einige Stufen lagen. Dann ging er vor zum Foyer, um den Briefträger zu treffen. Dieser erwartete ihn schon. Das Paket war sehr groß. Und schwer war es auch. Aber im Grunde hätte es auch eine Karte in einem Brief getan. Denn die Mitteilung waren nur zwei Sätze. ‚Die nächsten dreißig Jahre sind anders verplant. Das Studium gehört abgebrochen‘. Erst glaubte er, nicht richtig zu lesen. Sie standen im unbeleuchteten Teil des Foyers. Er ging näher ans Fenster. Aber das änderte nichts. Da wurde schwarz auf weiß der Abbruch des Studiums verlangt. Er sah wieder die Szene vom Morgen vor sich, die Ankunft des Briefträgers im Feld. Durch die Parallele zu diesem Film hatte er erwartet, dass ein Opfer von ihm verlangt wurde – aber das Studium. Das war unfassbar.
Durch den zunehmenden Kontakt mit den Montagnern hatte er bemerkt, dass bestimmte Aufgaben auf ihn zukamen. Aber bisher hatte er immer geglaubt, dass das Studium – insbesondere ein abgeschlossenes – ihm dabei hilfreich sein könnte.
Es war schwer ein solches Opfer anzunehmen, weil er die Gründe nicht wirklich kannte. Aber er fügte sich, ging zu seinem Zimmer zurück, packte die wenige Habe in seinen Wagen, warf noch schnell im Sekretariat die Abmeldung ein und fuhr dann los.
Doch ausgerechnet an diesem Nachmittag hatte eine Aktionskünstlerin den Vorplatz des Foyers verändert. Sie hatte eine Installation aus Büchern geschaffen. Der Boden, samt Stufen war gepflastert mit Büchern. Wie sollte er da mit seinem Auto drüber weg kommen. Er konnte seinen Wagen doch nicht einfach hier lassen. Was hat sich die Künstlerin dabei gedacht?, fragte er sich verärgert.
„Es sind so viele, wie ein Student zu lesen hat, bis er den Master erlangt“, hörte er einen der Betrachter zu einer Kommilitonin sagen.
Schließlich fuhr er – da er keine andere Wahl hatte – einfach los. Ein unsicheres, seifiges Gefühl. Vor allem bei den Stufen fürchtete er stecken zu bleiben. Die Künstlerin hatte die Bücher hier sogar aufrecht gestellt. Aber die Fahrt ging erstaunlich glatt. Die Bücher waren so dicht, dass sie nicht rutschten. Es gelang ihm mit dem Auto vom Unigelände wegzukommen.

Auf einem windigen Bergtrauf lief Wendy auf einen Laden mit Postbüro zu, der in dieser exponierten Lage zwischen den schroffen Felsen verloren stand. Es war nur ein Schuppen, aber er war froh, als er den kalten Nebeln, die über die Kante strichen, entweichen und die Tür hinter sich zuziehen konnte. Vor dem Tresen stand eine lange Schlange von Wartenden. Ernüchtert stellte er sich an und wartete eine geraume Zeit, ohne dass sich die Wartenden groß bewegten.
In dem Paket hatte eine zweite Karte gesteckt, die er zu unterschreiben und in einem Postamt der Montagner einzureichen hatte. Die Einwilligung in die Weisung, das Studium abzubrechen.
Dann fiel ihm auf, dass der zweite Schalter, an dem niemand stand, der Postschalter war. Zu spät hatte er bemerkt, dass er sich hinter diejenigen gestellt, die auf Geld warteten. Kurz bevor er wechselte, war der Beamte am Postschalter weggegangen. Er wartete erneut. Dabei hörte er dem Gespräch zu, das die zwei Frauen hinter dem Tresen mit den Kunden führten. Die eine war eine resolute Montagnerin mit dunklen Haaren, die ihn leicht den Nacken einziehen ließ. Man klagte über den anbrechenden Winter. Wendy mischte sich ein und sagte.
„Vom Winter in den Bergen kann ich ein Lied singen. Ich bin jahrelang von der Hochfläche runter zum Studium gefahren. In diesem Winter wäre ich auch wieder, wenn nicht….“
Da ihn ein abschätziger Blick von der Montagnerin traf, verstummte er. Später hörte er sie zu ihrer Kollegin sagen. „Das ist auch einer von denen, die uns hier oben den Winter bescheren.“
Nicht mehr, reizte ihn zu sagen. Aber da sie von ihm abgewandt waren, schwieg er. MLF

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