Wendys fünftes virtuelles
Abenteuer
Enttäuscht, weil ihm die durchgeknallte Brisette seine
Mitbringsel geraubt hatte, fragte er sich, ob nicht in einer der anderen
Taschen vielleicht noch etwas aus der virtuellen Welt zu finden sei. Tatsächlich
fand er zwei Kacheln in dem Rucksack, den er auf der ersten Reise dabei gehabt
hatte. An den Kacheln war nichts Besonderes dran. Die eine war dunkel, fast
schwarz, die andere fleckig wie eine Milka-Kuh. Wenn er nicht gewusst hätte,
dass sie aus der virtuellen Welt stammten, hätte er sie wahrscheinlich achtlos
zur Seite getan. Aber inzwischen ahnte er, dass es in der virtuellen Welt nichts
Nutzloses gab – ganz im Gegensatz zur reellen. Schon gar nicht etwas, das er
von dort extra mitgebacht hatte. Also setzte er sich in einer freien Minute
(von wenigen Stunden Länge) in seinen Sessel und legte die linke Hand auf die
dunkle Kachel. Vorausschauend hatte er sich den Schreibblock zurechtgelegt und
hielt in der rechten Hand den Stift. Es dauerte nicht lange, da drang er vor in
die virtuelle Welt. Eine Szene, die er schon erlebt hatte, die jetzt wieder
wach wurde. Da er sie schon kannte, konnte er direkt mitschreiben.
Ich befinde mich…
Wendy befand sich in einem großen, massiven Gebäude mit noch
etwas geräumigerem Treppenhaus, als in so einem soliden, hundertjährigen Bau
sowieso üblich war. Ohne dass er ein dringendes Bedürfnis verspürte, kam er vor
ein Klo zu warten. Durch die halb offene Tür schauend, stellte er fest, dass
schon jemand drin war. Ein Mann lachte ihm zu mit freundlichem Ausdruck. Er kam
ihm bekannt vor und dachte, dass dieser Mensch von weit her angereist sein
musste. Just in dem Moment aber trat ein anderer Mann hinzu und schlüpfte zu
ihm hinein. Der halb Bekannte winkte ihm und rief „Komm doch herein“.
Da erkannte er ihn, Edy Mercury, wie er einst leibte und lebte.
Einst, weil Unwissende ihn für tot hielten. Das Klo war geräumig, viele
Menschen hätten darin Platz gefunden, aber ihm war klar, mit welchem Ziel die
beiden Männer sich trafen. Fürs Erste schien es ihm doch etwas gewagt, sich auf
ein Treffen zu dritt einzulassen.
„Ein anderes Mal gern“, rief er hinein. „Ich warte auf dich, wir
sehen uns nachher.“
Wendy blieb vor der Tür stehen. Die Geräusche, die von drinnen
nach außen drangen, waren eindeutig. Ein trockener Laut, wie das Setzen und
Lösen eines Saugnapfes, wiederholte sich gleichmäßig.
Vor der Tür zu warten, wurde ihm lang. Er nahm sich vor, einmal
ums Haus zu gehen und dann wieder zu kommen.
Im Erdgeschoss traf er auf Schüler. Von der Anzahl her musste es
mehrere Schulklassen sein. Aha, ein Schulgebäude. Hätte ich mir eigentlich
schon früher denken können, bei diesem soliden Bau, sagte er sich. Die Schüler
strömten gerade los durch das Erdgeschoss. Es wunderte ihn, dass sie jetzt
gegen Abend zu einem Ausflug aufbrachen. Wendy ging mitten unter ihnen.
„Wo geht’s hin?“, fragte er.
„Auf die Hochfläche“, bekam er zur Antwort.
„Was, jetzt am Abend?“, rief er verwundert aus.
Sie schienen daran nichts Ungewöhnliches zu finden.
Da fiel ihm wieder ein, dass er sich ja in der virtuellen Welt
befand. Er dachte an das Erlebnis beim Felsenband mit den vielen, die sich dort
abmühten. Oh nein, dachte er, hoffentlich steht ihnen nicht eine solche Übung
bevor. Die nächste Öffnung nahm er nach rechts und löste sich aus dem Pulk von
Schülern.
Kaum alleine, tauchte links von ihm ein alter Bekannter auf. Ein
großer, lässiger Kerl mit federndem Schritt.
„Herr Raab, nanu, was führt sie hierher? Unterrichten Sie etwa
hier?“ Es war sein Sportlehrer von früher, der aber, entgegen jeder Erwartung,
nicht gealtert und geschrumpft war, sondern sich gestreckt hatte und dessen
Gesicht geliftet war zum schon fast dümmlichen Ausdruck des perfekten
Sportlers.
Wendy gefiel Raabs federnder Gang und er erwähnte lobend. „Ich
habe schon einiges umgesetzt, was sie mir gezeigt haben.“
Da nahm Raab Anlauf und sprintete auf das nächste Haus, direkt
hinter der Schule zu.
Was hat er denn jetzt, wo will er hin?, fragte sich Wendy. Da war
Raab schon halb die Fassade hoch. Er hatte eine Balancierstange dabei und ging
mit seinen Turnschuhen auf den kleinen Absätzen des Klinkerbaus, gerade so als
befände er sich auf ebenem Boden. Wendy war schon einiges gewohnt aus der
virtuellen Welt, aber dieser sportliche Auftritt eröffnete eine neue Kategorie.
Ihm war unbegreiflich wie Raab auf dieser Fassade herumrennen konnte, auf und
ab – gerade als gäbe es keine Schwerkraft.
Wendys Richtung entgegen kamen zwei Männer auf die Schule zu. Sie
entdeckten Raab an der Fassade und blieben mit offenen Mündern stehen – nicht
anders als Wendy auch. Der eine von ihnen fand zuerst seine Sprache wieder und
rief aus.
„Was ist denn das jetzt schon wieder für eine total abgefahrene
neue Sportart.“
Seiner Stimme war anzuhören, dass er zwischen Faszination und
Erschrecken schwankte.
Wendy beobachtete, dass der bewundernde Ausruf Wirkung auf Raabs
sportlichen Auftritt hatte. Die Füße griffen plötzlich nicht mehr an jeder
Kante, sondern glitten über drei, vier Ecken hinweg bis sie wieder fassten.
Raab wurde flüchtig. Kein Zweifel, dass seine Konzentration durch das Lob
nachgelassen hatte. Aber Probleme mit der Schwerkraft hatte er keine.
Wendy sah sich plötzlich wieder in seinem Stuhl sitzen. Er
schüttelte den Kopf, um das Bild dieser Fassade und der artistischen Bewegungen
von Raab los zu werden. Die Hand hielt er noch immer auf der Kachel, die sich
stark erwärmt hatte. Er hob sie an und schaute nach rechts. Mehrere Blätter
lagen auf dem Tisch. Es war ihm gar nicht mehr bewusst gewesen, dass er
schrieb. In dem soliden Schulbau drin hatte er den Blick für das hier und jetzt
verloren. Erst recht hatte er alles um sich vergessen, als Raab die Fassade
hoch schnellte.
Ein bisschen bedauerte er, dass er den Weg nicht hatte fortführen
und zu Edy zurückkehren können. Ob er ihn je wiedersehen würde? Da fiel ihm die
andere Kachel auf, die gefleckte.
Erst aber ging er aufs Klo. Wusch sich das Gesicht, trank etwas
Wasser und setzte sich wieder hin.
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