Freitag, 21. September 2012

100 Edy Mercury



Wendys fünftes virtuelles Abenteuer

Enttäuscht, weil ihm die durchgeknallte Brisette seine Mitbringsel geraubt hatte, fragte er sich, ob nicht in einer der anderen Taschen vielleicht noch etwas aus der virtuellen Welt zu finden sei. Tatsächlich fand er zwei Kacheln in dem Rucksack, den er auf der ersten Reise dabei gehabt hatte. An den Kacheln war nichts Besonderes dran. Die eine war dunkel, fast schwarz, die andere fleckig wie eine Milka-Kuh. Wenn er nicht gewusst hätte, dass sie aus der virtuellen Welt stammten, hätte er sie wahrscheinlich achtlos zur Seite getan. Aber inzwischen ahnte er, dass es in der virtuellen Welt nichts Nutzloses gab – ganz im Gegensatz zur reellen. Schon gar nicht etwas, das er von dort extra mitgebacht hatte. Also setzte er sich in einer freien Minute (von wenigen Stunden Länge) in seinen Sessel und legte die linke Hand auf die dunkle Kachel. Vorausschauend hatte er sich den Schreibblock zurechtgelegt und hielt in der rechten Hand den Stift. Es dauerte nicht lange, da drang er vor in die virtuelle Welt. Eine Szene, die er schon erlebt hatte, die jetzt wieder wach wurde. Da er sie schon kannte, konnte er direkt mitschreiben.
Ich befinde mich…

Wendy befand sich in einem großen, massiven Gebäude mit noch etwas geräumigerem Treppenhaus, als in so einem soliden, hundertjährigen Bau sowieso üblich war. Ohne dass er ein dringendes Bedürfnis verspürte, kam er vor ein Klo zu warten. Durch die halb offene Tür schauend, stellte er fest, dass schon jemand drin war. Ein Mann lachte ihm zu mit freundlichem Ausdruck. Er kam ihm bekannt vor und dachte, dass dieser Mensch von weit her angereist sein musste. Just in dem Moment aber trat ein anderer Mann hinzu und schlüpfte zu ihm hinein. Der halb Bekannte winkte ihm und rief „Komm doch herein“.
Da erkannte er ihn, Edy Mercury, wie er einst leibte und lebte. Einst, weil Unwissende ihn für tot hielten. Das Klo war geräumig, viele Menschen hätten darin Platz gefunden, aber ihm war klar, mit welchem Ziel die beiden Männer sich trafen. Fürs Erste schien es ihm doch etwas gewagt, sich auf ein Treffen zu dritt einzulassen.
„Ein anderes Mal gern“, rief er hinein. „Ich warte auf dich, wir sehen uns nachher.“
Wendy blieb vor der Tür stehen. Die Geräusche, die von drinnen nach außen drangen, waren eindeutig. Ein trockener Laut, wie das Setzen und Lösen eines Saugnapfes, wiederholte sich gleichmäßig.
Vor der Tür zu warten, wurde ihm lang. Er nahm sich vor, einmal ums Haus zu gehen und dann wieder zu kommen.

Im Erdgeschoss traf er auf Schüler. Von der Anzahl her musste es mehrere Schulklassen sein. Aha, ein Schulgebäude. Hätte ich mir eigentlich schon früher denken können, bei diesem soliden Bau, sagte er sich. Die Schüler strömten gerade los durch das Erdgeschoss. Es wunderte ihn, dass sie jetzt gegen Abend zu einem Ausflug aufbrachen. Wendy ging mitten unter ihnen.
„Wo geht’s hin?“, fragte er.
„Auf die Hochfläche“, bekam er zur Antwort.
„Was, jetzt am Abend?“, rief er verwundert aus.
Sie schienen daran nichts Ungewöhnliches zu finden.
Da fiel ihm wieder ein, dass er sich ja in der virtuellen Welt befand. Er dachte an das Erlebnis beim Felsenband mit den vielen, die sich dort abmühten. Oh nein, dachte er, hoffentlich steht ihnen nicht eine solche Übung bevor. Die nächste Öffnung nahm er nach rechts und löste sich aus dem Pulk von Schülern.

Kaum alleine, tauchte links von ihm ein alter Bekannter auf. Ein großer, lässiger Kerl mit federndem Schritt.
„Herr Raab, nanu, was führt sie hierher? Unterrichten Sie etwa hier?“ Es war sein Sportlehrer von früher, der aber, entgegen jeder Erwartung, nicht gealtert und geschrumpft war, sondern sich gestreckt hatte und dessen Gesicht geliftet war zum schon fast dümmlichen Ausdruck des perfekten Sportlers.
Wendy gefiel Raabs federnder Gang und er erwähnte lobend. „Ich habe schon einiges umgesetzt, was sie mir gezeigt haben.“
Da nahm Raab Anlauf und sprintete auf das nächste Haus, direkt hinter der Schule zu.
Was hat er denn jetzt, wo will er hin?, fragte sich Wendy. Da war Raab schon halb die Fassade hoch. Er hatte eine Balancierstange dabei und ging mit seinen Turnschuhen auf den kleinen Absätzen des Klinkerbaus, gerade so als befände er sich auf ebenem Boden. Wendy war schon einiges gewohnt aus der virtuellen Welt, aber dieser sportliche Auftritt eröffnete eine neue Kategorie. Ihm war unbegreiflich wie Raab auf dieser Fassade herumrennen konnte, auf und ab – gerade als gäbe es keine Schwerkraft.
Wendys Richtung entgegen kamen zwei Männer auf die Schule zu. Sie entdeckten Raab an der Fassade und blieben mit offenen Mündern stehen – nicht anders als Wendy auch. Der eine von ihnen fand zuerst seine Sprache wieder und rief aus.
„Was ist denn das jetzt schon wieder für eine total abgefahrene neue Sportart.“
Seiner Stimme war anzuhören, dass er zwischen Faszination und Erschrecken schwankte.
Wendy beobachtete, dass der bewundernde Ausruf Wirkung auf Raabs sportlichen Auftritt hatte. Die Füße griffen plötzlich nicht mehr an jeder Kante, sondern glitten über drei, vier Ecken hinweg bis sie wieder fassten. Raab wurde flüchtig. Kein Zweifel, dass seine Konzentration durch das Lob nachgelassen hatte. Aber Probleme mit der Schwerkraft hatte er keine.

Wendy sah sich plötzlich wieder in seinem Stuhl sitzen. Er schüttelte den Kopf, um das Bild dieser Fassade und der artistischen Bewegungen von Raab los zu werden. Die Hand hielt er noch immer auf der Kachel, die sich stark erwärmt hatte. Er hob sie an und schaute nach rechts. Mehrere Blätter lagen auf dem Tisch. Es war ihm gar nicht mehr bewusst gewesen, dass er schrieb. In dem soliden Schulbau drin hatte er den Blick für das hier und jetzt verloren. Erst recht hatte er alles um sich vergessen, als Raab die Fassade hoch schnellte.
Ein bisschen bedauerte er, dass er den Weg nicht hatte fortführen und zu Edy zurückkehren können. Ob er ihn je wiedersehen würde? Da fiel ihm die andere Kachel auf, die gefleckte.
Erst aber ging er aufs Klo. Wusch sich das Gesicht, trank etwas Wasser und setzte sich wieder hin.

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