Sonntag, 26. August 2012

90 Ein Haus in Bünden


Wer war dieser Angeklagte gewesen, in diesem schrecklichen Gerichtsprozess?, fragte sich René immer wieder. Da er selber verfolgt worden war, ließ ihm die Sache keine Ruhe und er fing an zu recherchieren. Dabei fand er heraus, dass der Angeklagte selber ein Anwalt war und in Oberreinach eine Anwaltspraxis führte. Als er dort anrief, sagte eine Stimme auf Band. ‚Voranmeldung ist nicht möglich. Mit Wartezeiten ist zu rechnen. Bringen sie etwas Zeit mit‘. Von zeitweiliger Schließung des Büros wurde nichts gesagt. Daraus schloss René, dass die Meute im Gericht, dem Anwalt doch nichts hatte anhaben können.
Die Nacht vor dem Besuch beim Anwalt, verbrachte er bei Bekannten und schlief mit dem Freund und einigen anderen auf einer Pritsche im Obergeschoss. Erst am Morgen fiel ihm der ungewöhnliche Zuschnitt des Obergeschosses auf. In der Mitte war ein einziger großer Raum, der zugleich als Flur diente. Von diesem gingen, eingefasst von schönen Holzrahmen, in mehrere Richtungen Treppenstufen hoch. Aber diese wurden nicht als Treppenaufgänge genutzt, sondern dienten als Schlafräume. Über die Stufen gelangte man zu einer Pritsche, genau wie in dem Raum, in dem er geschlafen hatte. Er sah viele solche Aufgänge und in jedem hielten sich viele Kinder auf. Das veranlasste ihn, seinen Freund zu fragen. „Wie viele seid ihr denn?“
„Wir haben gerade einige Gäste“, bekam er zur Antwort. „Mit ihnen sind wir genau hundert.“
René war mehr als erstaunt. Da die Zahl achtzehn genannt wurde, mutmaßte er, dass sie so viele Kinder waren.
Auch die Mutter trat im großen Raum des Obergeschosses in Erscheinung. Sie machte einen sehr dynamischen und erfrischenden Eindruck. Sie schien nicht übermäßig belastet. 

Stufen führten zum Eingang des massiven Gebäudes hoch. Vor dem Zimmer des Anwalts traf er auf eine lange Schlange von Menschen. Daraus schloss René, dass er bei einer wichtigen Person vorsprach. Es hieß, dass der Anwalt von jedem Menschen, der sich an ihn wende, einen Akte vorliegen habe. René war einerseits begierig einen Menschen, der einen solch widerlichen Prozess unbeschadet überstanden hatte, näher kennenzulernen. Andererseits war er neugierig, ob der Anwalt von ihm auch eine Notiz verwalte.
Als nur noch zwei Personen vor ihm in der Schlange standen, konnte er den Anwalt an seinem Arbeitstisch sehen. Wie sein erster Eindruck im Gericht gewesen war, so sah er auch jetzt einen väterlichen Menschen vor sich. Ein schönes Gesicht mit nicht wenigen Falten und einer warmen Ausstrahlung.
Als René dran war, legte ihm der Anwalt ein Blatt vor, auf dem ein Gebäude abgebildet war. Das Haus stand in den Bergen.
Es gehört dem Jud, Dubist", bemerkte der Anwalt dazu.
Es war ein schönes, modernes Haus, ganz neu gebaut. Die linke vordere Seite hatte statt einer Ecke eine Rundung. Daran konnte René erkennen, dass es vom Baumeister persönlich gebaut worden sein musste. René begriff nicht, was es mit diesem Haus auf sich hatte. Die Zeit, die ihm zustand, war zu kurz, um viele Fragen zu stellen. Die nächsten drängten hinter ihm. Bevor der Anwalt sich der folgenden Person, einer älteren Dame, zuwandte, machte er ihn nochmal auf die Besonderheit des Namens aufmerksam. „Nicht Dubist, sondern Du-Bist, heißt der Bauherr“, betonte er.
René machte einen Schritt und die Alte rückte nach. Er sagte sich, dass er das Haus dieses Juden zumindest mal anschauen möchte. Deshalb wandte er sich nochmal an den Anwalt.
„Die Adresse. Können sie mir die Adresse nennen?“
Die Alte mit Klunkern im Ohr fühlte sich sichtlich gestört und warf ihm einen gehässigen Blick zu. Der väterliche Anwalt wies mit dem Stift auf eine Zeile unterhalb des Bildes. Dort stand. ‚Bünden, am Hang beim Zentrum‘. René bedankte sich.
Draußen setzte er sich auf die Stufen und nahm das Blatt, das ihm der Anwalt mitgegeben hatte, in näheren Augenschein. Wirklich, ein sehr schönes Haus, dachte er. Wie er jetzt den Namen des Bauherrn nicht nur hörte, sondern auch las, begriff er erst, was es mit diesem Namen auf sich hatte. „Du bist“ hieß der Bauherr. Da erst dämmerte ihm, warum das Bild dieses Hauses ausgerechnet in seiner Akte lag. MLF

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