Wer war dieser Angeklagte gewesen, in diesem schrecklichen
Gerichtsprozess?, fragte sich René immer wieder. Da er selber verfolgt worden
war, ließ ihm die Sache keine Ruhe und er fing an zu recherchieren. Dabei fand
er heraus, dass der Angeklagte selber ein Anwalt war und in Oberreinach eine
Anwaltspraxis führte. Als er dort anrief, sagte eine Stimme auf Band. ‚Voranmeldung
ist nicht möglich. Mit Wartezeiten ist zu rechnen. Bringen sie etwas Zeit mit‘.
Von zeitweiliger Schließung des Büros wurde nichts gesagt. Daraus schloss René,
dass die Meute im Gericht, dem Anwalt doch nichts hatte anhaben können.
Die Nacht vor dem Besuch beim Anwalt, verbrachte er bei Bekannten
und schlief mit dem Freund und einigen anderen auf einer Pritsche im
Obergeschoss. Erst am Morgen fiel ihm der ungewöhnliche Zuschnitt des
Obergeschosses auf. In der Mitte war ein einziger großer Raum, der zugleich als
Flur diente. Von diesem gingen, eingefasst von schönen Holzrahmen, in mehrere
Richtungen Treppenstufen hoch. Aber diese wurden nicht als Treppenaufgänge
genutzt, sondern dienten als Schlafräume. Über die Stufen gelangte man zu einer
Pritsche, genau wie in dem Raum, in dem er geschlafen hatte. Er sah viele
solche Aufgänge und in jedem hielten sich viele Kinder auf. Das veranlasste
ihn, seinen Freund zu fragen. „Wie viele seid ihr denn?“
„Wir haben gerade einige Gäste“, bekam er zur Antwort. „Mit ihnen
sind wir genau hundert.“
René war mehr als erstaunt. Da die Zahl achtzehn genannt wurde, mutmaßte
er, dass sie so viele Kinder waren.
Auch die Mutter trat im großen Raum des
Obergeschosses in Erscheinung. Sie machte einen sehr dynamischen und
erfrischenden Eindruck. Sie schien nicht übermäßig belastet.
Stufen führten zum Eingang des massiven Gebäudes hoch. Vor dem
Zimmer des Anwalts traf er auf eine lange Schlange von Menschen. Daraus schloss
René, dass er bei einer wichtigen Person vorsprach. Es hieß, dass der Anwalt
von jedem Menschen, der sich an ihn wende, einen Akte vorliegen habe. René war
einerseits begierig einen Menschen, der einen solch widerlichen Prozess
unbeschadet überstanden hatte, näher kennenzulernen. Andererseits war er
neugierig, ob der Anwalt von ihm auch eine Notiz verwalte.
Als nur noch zwei Personen vor ihm in der Schlange standen,
konnte er den Anwalt an seinem Arbeitstisch sehen. Wie sein erster Eindruck im Gericht
gewesen war, so sah er auch jetzt einen väterlichen Menschen vor sich. Ein schönes
Gesicht mit nicht wenigen Falten und einer warmen Ausstrahlung.
Als René dran war, legte ihm der Anwalt ein Blatt vor, auf dem
ein Gebäude abgebildet war. Das Haus stand in den Bergen.
„Es gehört dem Jud, Dubist",
bemerkte der Anwalt dazu.
Es war ein schönes, modernes Haus, ganz neu gebaut. Die linke
vordere Seite hatte statt einer Ecke eine Rundung. Daran konnte René erkennen,
dass es vom Baumeister persönlich gebaut worden sein musste. René begriff
nicht, was es mit diesem Haus auf sich hatte. Die Zeit, die ihm zustand, war zu
kurz, um viele Fragen zu stellen. Die nächsten drängten hinter ihm. Bevor der
Anwalt sich der folgenden Person, einer älteren Dame, zuwandte, machte er ihn
nochmal auf die Besonderheit des Namens aufmerksam. „Nicht Dubist, sondern
Du-Bist, heißt der Bauherr“, betonte er.
René machte einen Schritt und die Alte rückte nach. Er sagte
sich, dass er das Haus dieses Juden zumindest mal anschauen möchte. Deshalb
wandte er sich nochmal an den Anwalt.
„Die Adresse. Können sie mir die Adresse nennen?“
Die Alte mit Klunkern im Ohr fühlte sich sichtlich gestört und
warf ihm einen gehässigen Blick zu. Der väterliche Anwalt wies mit dem Stift
auf eine Zeile unterhalb des Bildes. Dort stand. ‚Bünden, am Hang beim Zentrum‘.
René bedankte sich.
Draußen setzte er sich auf die Stufen und nahm das Blatt, das ihm
der Anwalt mitgegeben hatte, in näheren Augenschein. Wirklich, ein sehr schönes
Haus, dachte er. Wie er jetzt den Namen des Bauherrn nicht nur hörte, sondern
auch las, begriff er erst, was es mit diesem Namen auf sich hatte. „Du bist“ hieß der Bauherr. Da erst
dämmerte ihm, warum das Bild dieses Hauses ausgerechnet in seiner Akte lag. MLF
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