Freitag, 17. August 2012

89 Zwei Greife


Die Nacht in einem Fraßgang
Die Nacht verbrachte er in einem Motel, dessen Schlafeinheiten wie Fraßgänge eines Borkenkäfers vom Weg, der zugleich ein Flur war, abgingen. Sie lagen deutlich tiefer, so dass er hinabsteigen musste. Die Brutstätte bestand aus einem zweigeteilten Raum und einem Bad. Das Ganze sah so neu aus, dass er meinte, er sei der erste, der diese Schlafstätte nutzte. Doch ein Junge war schon da. Ob er ihn störte? Es machte den Eindruck, denn er verließ augenblicklich den Raum. Tommy nahm eine der Decken und stellte sich oben auf den Weg. In den hinteren Räumen sah er mehrere Frauen beieinander. Nicht wenige von ihnen winkten mit großer Armbewegung. Es bestand also durchaus der Wunsch, zu ihm unter die Decke zu schlüpfen.
Als er danach mit einer von ihnen den Raum bezog, kehrte auch der Junge zurück. Er zeigte sich jetzt nicht mehr so abwehrend, sondern verhielt sich wie ihr gemeinsames Kind. Nur als Tommy ihn im Bad nach seinem Namen fragte, benahm er sich komisch. Er nannte einen zweiteiligen Namen mit Punkt dazwischen. Etwas wie „hero.dot“.
Tommy lachte verlegen. „Ist das dein Spiele-Namen?“, fragte er. Der Junge wird viel am Computer hängen, dachte er, er identifiziert sich mit einer seiner selbst gewählten Rollen. Kein Wunder, wenn er an einem so ungewöhnlichen Ort wohnt.
„Ich bin Tommy“, sagte Tommy, um ihn zu mehr Vertraulichkeit zu animieren. Aber es kam nichts weiter von ihm. Tommy bemerkte, dass die Frau sich amüsierte. Auf ihren runden Wangen bildeten sich Grübchen. Er kam sich ziemlich unbeholfen vor.

Nach einer Nacht an einem solchen Ort, was würde sich da tags darauf ereignen? Es folgte tatsächlich ein Tag, an dem er mehr erlebte, als sonst in einem Monat.

Die Greife
Bess, die Schwärmerin, die ihm bei der Hochzeit so bittere Vorwürfe gemacht hatte, würde diesen Monat Geburtstag feiern. Tommy dachte daran, wie kalt es üblicherweise in ihrer Küche war. Und er fragte sich, was man dagegen unternehmen könnte. Dieses Problem zu besprechen, fuhr er auf die Hochfläche, wo er mit Bess gemeinsame Freunde hatte.
Er traf sie im Hof vor ihrem Haus.
„Hallo Maren, hallo Reichhold“, begrüßte er sie.
Nachdem sie ein paar Neuigkeiten ausgetauscht hatten, kam er auf sein Anliegen zu sprechen.  
„Habt ihr daran gedacht, dass Bess diesen Monat Geburtstag hat?“
Die beiden sahen ihn verwundert an. Reichhold antwortete. „Ach so, ja, aber das ist doch noch eine Weile hin.“
„Trotzdem mache ich mir Gedanken“, sagte Tommy. „Erinnert ihr euch, wie kalt es die letzten Jahre bei ihr war?“
„Hm, fandest du?“, fragte Reichhold. Er schien sich nicht zu erinnern.
„Doch, schrecklich kalt“, beharrte Tommy. „Deshalb wollte ich euch fragen, ob ihr nicht von eurem Brennholz etwas abgeben könntet und sie bittet an dem betreffenden Morgen tüchtig einzuheizen oder schon ein paar Tage davor?
Reichhold und Maren sahen sich verblüfft an. Erst zeigten sie sich skeptisch, wie immer, wenn jemand an ihrem Reichtum nagen wollte. Aber schließlich stimmten sie doch zu.
„Wenn du meinst“, sagte Maren und Reichhold fügte hinzu. „Wir wollen sehen, was sich machen lässt.“
Ob er schon gefrühstückt habe, fragte Maren daraufhin.
Tommy schüttelte den Kopf.
Er solle sich zu ihnen setzen, forderte sie ihn auf. Sie seien auch etwas spät dran.
In dem Moment stakste ganz nah bei ihnen ein prächtiger Greif-Vogel hin und her. So groß wie ein kleiner Mensch, mit prächtigem Federkleid. Unter dem Vordach stehend betrachteten sie das außerordentliche Tier. Dass er sich so nah bei ihnen aufhielt, war ungewöhnlich. Vom Nacken herab über den Rücken fielen senkrechte Federn. Sie waren zu einem Umhang verbunden, der das halbe Federkleid bedeckte. Jede der Federn hatte drei bis vier verschiedene Farbsegmente, die mit den Farben der nebenliegenden Federn abwechselten, wodurch eine Farbenfülle entstand, wie sie Tommy noch selten gesehen hatte.
„Schau, der fliegt nicht weg“, sagte Maren und rannte auf den Vogel zu. Der hüpfte einige Schritte vor und flog tatsächlich nicht auf. Da erst sah Tommy dahinter einen zweiten, noch größeren Greif-Vogel mit einem Federkleid, das aussah, als hätte er sich wertvolle Decken aus Federn übergeworfen. Der Saum von jeder von diesen war mit einer strahlend weißen Bordüre verziert, wie kostbare Seidenspitzen.
Tommy erkannte sofort den Zusammenhang. Der bunte Vogel durfte nicht fliegen, solange der mit den weißen Bordüren nicht aufflog.
„Lass ihn“, sagte er zu Maren. „Er kann nicht, solange der vordere nicht fliegt. Es ist ihm nicht erlaubt.“
Leicht brüskiert drehte sich Maren um. „Kommt, wir gehen frühstücken, sagte sie und ging nach drinnen voran. Reichhold folgte ihr.
Tommy wurde von einer Entdeckung zurückgehalten. Unter dem Federkleid des Vogels dahinter sah er menschliche Beine. Die Federn verbargen eindeutig eine menschliche Gestalt. So ungewöhnlich fand er das nicht. Er hatte schon anderswo Menschen gesehen, die sich in einen Greif verwandelt hatten und es war auch nicht das erste Mal, dass er unter einem großen Vogel einen Menschen wahrnahm. Darum schien ihm auch vernünftig, als eine Stimme laut und deutlich sagte:
„Der hintere muss den vorderen zum Fliegen animieren.“
Während dem Frühstück mit den beiden beschloss er Bess aufzusuchen. Sie hatte ja immerhin einen Sohn von ihm. Nachdem er gut gegessen und reichlich Kaffee getrunken hatte, verabschiedete er sich von dem gastfreundlichen Paar. Er legte ihnen nochmal nahe, das mit dem Brennholz nicht zu vergessen.

Tommy fuhr zum Laden, um ein kleines Geschenk für den Jungen zu kaufen. Überraschenderweise traf er sie draußen auf dem Parkplatz an. Bess hatte das Söhnchen dabei. Der hatte sich total verändert. Durch die Haare sah man seine spezielle Kopfform nicht mehr und weil sie kraus waren und der Kopf rund und das Gesicht gebräunt, wirkte er fast negroid. Tommy begrüßte ihn durch die offene Wagentür. Aber der Junge wies seine Hand weg und taxierte ihn abwertend.
„Er mag keine Jacketts“, sagte Bess. „Du bist viel zu vornehm gekleidet.“
„Geht ihr jetzt nach Hause?“, fragte er.  „Darf ich auf einen Sprung vorbeikommen?“
Sie antwortete nicht gleich. Nach kurzem Überlegen sagte sie. „Um fünf kommt Beat von der Bank. Komm lieber dann. Du hast doch versprochen für uns zu arbeiten.“
Ihm war ihr Vorschlag gar nicht unpassend, denn er hatte noch einen Termin am frühen Nachmittag.
Es sei ihm recht so, sagte er. Er hoffe, er werde pünktlich sein.
Er winkte dem Jungen. Aber dieser behielt seine Abwehrhaltung bei.
Wenn er für sie arbeiten würde, brauchte er ja kein Geschenk, sagte er sich. Statt in den Laden zu gehen, fuhr er gleich nach Hause.

Ich vermute, sie ist Polin
Am Nachmittag fand in der Landeshauptstadt ein Kongress statt. In dessen Rahmen war ein Treffen mit Leuten verabredet, die eine engere Zusammenarbeit mit der Firma, in der er arbeitete, anstrebten. Tommy war beauftragt, die Interessierten zu treffen. In einem der weitläufigen Flure des Kongresszentrums traf er auf die Delegation. Sie bestand aus zwei Frauen. Mit der einen hatte er schon telefoniert, er erkannte sie sogleich an der Stimme. Sie hieß Yvette und war eine fesche Frau mit blonden Haaren. Sie stellte ihm ihre Kollegin vor, Marya, eine Dunkelhaarige, zurückhaltender als Ivette, aber nicht weniger ansprechend. Für Yvette war die Zusammenarbeit schon besprochene Sache. Sie kamen überein, dass sie nacheinander in der Firma mitarbeiten würden. Die erste würde gleich mit ihm in seine Stadt fahren. Tommy war etwas überrascht. Wenn er das gewusst hätte, wäre er mit Verabredungen zurückhaltender gewesen. Er hatte sich mit Enzo am Bahnhof verabredet und vor allem hätte er nicht noch einen Besuch bei Bess vereinbart. Sie gingen an die Theke und bestellten Kaffee. Tommy seilte sich kurz ab und rief seinen Chef an.
Ja, er habe die Delegation getroffen, es seien zwei Frauen „und denken Sie, die eine kommt gleich mit mir mit.“
„Ist doch gut so“, fand der Chef, „so wollen wir’s doch.“
Tommy wandte ein, dass er am Abend verabredet sei.
Er solle sie in die Firma bringen. Er werde sich um sie kümmern, sagte der Chef und fügte hinzu. „Aber schauen Sie, dass Sie sich in der nächsten Tagen Zeit für sie freihalten.“
Tommy zögerte, bevor er versprach, sich um sie zu bemühen.
Die Frauen gingen noch zu ihrem Wagen. Tommy lief voraus zum Bahnhof, wo er mit Enzo verabredet war. Sie warteten am Gleis auf die neue Kollegin. Er schickte Enzo nach drinnen, um Plätze zu reservieren. Selber wartete er auf Ivette. Aber wer kam, war die dunkle Marya. Sie folgte ihm in den Wagen und setzte sich auf den Platz, den Enzo für ihn reserviert hatte.
Enzo, der am Fenster stand, starrte sie entgeistert an. Tommy bemerkte seine Verlegenheit und neckte ihn.
„Ich finde, sie macht sich sehr gut neben dir.“
Auf dem Kongress war Englisch gesprochen worden. Es konnte aber gut sein, dass Marya Deutsch verstand. Trotzdem konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
„Man könnte sie für eine Italienerin halten“, sagte er zu Enzo, „aber ich vermute, sie ist Polin.“

Fürs Studium ‚Horgone‘
Mit einer halben Stunde Verspätung traf Tommy beim Haus von Bess zwischen Urach ein. Marya hatte er in die Firma gebracht. Als er sie dem Chef vorgestellt hatte, war ihm an dessen Gesichtsausdruck nochmal bewusst geworden, was für eine frappierend schöne Frau sie war. Etwas abgehetzt betrat er das stattliche Haus, in dem Bess mit ihrem Mann und dem Söhnchen wohnte. Beat, der ein gut verdienender Bankier war, hatte vorgeschlagen, Tommy solle für sie etwas tun, damit sich seine wirtschaftliche Situation verbesserte.
Bei der Garderobe hing ein Schlauch. Tommy fing gleich an, das Glas der Tür, das leicht fleckig war, zu bespritzen und abzureiben. Beat schien dies für die falsche Arbeit zu halten.
„So ist das aber nicht gedacht“, sagte er und nahm ihm den Schlauch und den Lappen aus der Hand.
Er führte Tommy in das großzügige Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Ungetüm von einem Drehspielzeug aufgestellt war, von der Art wie man sie auf Spielplätzen findet. Das Söhnchen saß gelangweilt daneben. Die Mutter stand auf, begrüßte Tommy und setzte sich wieder an die Wand, von wo aus sie das Kind im Auge behielt.
Dieses Mal freute sich der Junge und lachte ihn an. Sein Gesicht hatte sich deutlich geändert. Er wirkte jetzt viel geformter.
„Du musst dich mit dem Jungen beschäftigen, ihm etwas erzählen“, sagte Beat und Bess nickte.
Zum Studium braucht man Horgone“, sagte er.
„Was sind Horgone“, fragte Tommy verwundert. Er ahnte zwar, dass sie von ihm eine Art Früherziehung erwarteten, aber unter Horgonen konnte er sich nichts vorstellen.
„Aber du weißt, was Hormone sind?“, fragte Bess.
„Ich denke schon“, gab er zur Antwort. „Diese Wirkstoffe, die Drüsen ans Blut abgeben, zu vielseitiger Stimulation.“
„Siehst du“, antwortete sie. „Das Gleiche braucht auch der Geist. Er braucht auch Wirkstoffe, das sind die Horgone.“
Tommy setzte sich in einigem Abstand von diesem schrecklichen Drehteil hin und bat den Jungen, sich zu ihm zu setzen.
„Ich will dir etwas erzählen“, sagte er. „Sollen wir von den kleinen Dingen zu den Großen kommen oder lieber von den Großen zu den Kleinen?“
„Von den Großen zu den Kleinen“, antwortete der Junge prompt.
„Also, dann will ich dir etwas von der Welt, die man nicht sieht, erzählen, denn von der, die wir sehen, wirst du in der Schule noch genug erfahren.“ … MLF

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