Donnerstag, 16. August 2012

88 Das Gericht

Er fand sich in einem großen Gebäude in einem Flur, von dem breite Treppen nach oben und nach unten in andere Bereiche führten. Die dicken Mauern weckten in ihm das beklemmende Gefühl, in eine Burg geraten zu sein, in der alle Räume wie Kerker anmuteten. René schaute in den großen Raum darunter und sah, wie über Einzelne vor einer großen Menschenmenge Gericht gehalten wurde und wie man über sie herzog. Offensichtlich war er in ein Gerichtsgebäude geraten. Er stieg die Stufen hinab und blieb über der Menge, die gebannt einem Prozess folgte, stehen. Mindestens die Hälfte der Anwesenden schienen Presseleute zu sein. Gegenüber, an der Wand, saß der Angeklagte auf der Bank. Renés erster Eindruck war der von einem älteren, väterlichen Mann. Es schien ihm, dass er Reife und Güte ausstrahlte. Er sah einen Menschen dort sitzen, dem man sich in einer schwierigen Situation anvertrauen würde, von dem man Rat und Beistand erwartete. Das pure Gegenteil von einem Verbrecher. Aber unter den Angriffen schien sich sein Gesicht zu verändern. Irgendwie erinnerte ihn der Angeklagte nun an Rainman (gespielt von Dustin Hofmann), ein Mensch mit vielen Macken, aber mit herausragender Begabung und unfähig einem anderen Menschen Böses anzutun. Blätter wurden herumgereicht. Die Anwesenden zerrissen sich den Mund darüber. „So eine Schweinerei“, „ist ja scheußlich“, „so einer gehört weggesperrt“, hörte René rufen. Er wurde neugierig. Als eines der Blätter in seine Nähe kam, drängte er sich durch die Leute und ergriff es. Um es im Gedränge anschauen zu können, musste er es nach oben halten. Abgebildet war der Arsch – vermutlich der des Angeklagten - und zwar mit weit geöffnetem Arschloch. Das war es, was die Anwesenden so schockierend fanden. Sein erster Gedanke war, da habe ich ja Glück, dass ich mich auf dieser Seite befinde und nicht dort auf der Anklagebank sitze.
Doch dann stieg eine Wut in ihm hoch. Was sind das für Sitten, einen Angeklagten auf solche Art zu demütigen. Er drängte durch die Menge und riss alle Blätter, derer er habhaft werden konnte, an sich. Sie zeigten alle das gleiche Bild. Dann hob er das Bündel hoch und zerriss es demonstrativ über seinem Kopf und setzte diese Performance fort, bis er lauter Schnipsel in den Händen hielt. Diese warf er hoch in die Luft und ließ die Fetzen wie Schneeflocken auf die Menge niederschneien.
Alle Blicke richteten sich auf ihn. Die Journalisten waren verwirrt und riefen sich hektische Sätze zu.  Pepi fiel ihm auf, sein Jugendfreund, Ritter des alternativen, rebellischen Zeitgeists und Mitarbeiter von Renés geliebter Tatzen-Zeitung. René spürte, dass etwas im Gange war. Er hörte einzelne gellende Schreie. Erst nur vereinzelt, hier und dort, dann mehrere zusammen. Noch war er sich keiner Gefahr bewusst. Vor Menschen, die den Regeln der Rudeltiere folgten, fürchtete er sich nicht. Doch als sich eine Gruppe auf ihn zubewegte und die gellenden Schreie anschwollen, spürte er doch die Gefahr. Noch glaubte er, ein lauter Schrei von ihm würde sie vertreiben. Doch dann kamen ihm Zweifel. Bin ich denn überhaupt ein Wolf?, fragte er sich. Wird ein Heulen von mir, sie zum Kuschen bringen? Probeweise versuchte er einen Schrei. Doch nicht mal ein Laut entrang sich seiner Kehle. Er fühlte sich vielmehr äußerst sanft. Die Männer, die auf ihn eindrangen, fand er hübsch und er versuchte, während er die Stufen nach oben auswich, mit ihnen zu flirten. Doch dazu waren diese nicht aufgelegt. Sie stießen ihn vielmehr und zerrten an seinen Kleidern. Eine Reporterin griff ihm ins Haar und riss ihm ein ganzes Büschel Haare aus. Er spürte Stiche am ganzen Körper, während er durch den Gang zurückwich, durch den er gekommen war. Einer schlug ihn mit der Kamera. Auf der Schwelle gab ihm jemand einen Tritt. Er fiel, strauchelte und landete schließlich flach auf dem Kies. Die Türe wurde zugezogen. Um ihn wurde es still.
Er war nicht ohnmächtig. Aber er war so frustriert, dass er sich nicht erheben konnte. An den Armen, unter dem Hemd, überall schmerzte ihn, von den Piksern, die man ihm bereitet hatte. Schließlich zwang ihn der harte Untergrund, sich aufzurichten. Neben den Beulen waren es vor allem die Stiche, die ihn schmerzten. Im Tageslicht sah er an diesen Stellen blaue und schwarze Punkte und Striche. Anscheinend hatten die Angreifer und Angreiferinnen die nächst greifbaren Werkzeuge – ihre Kugelschreiber – gepackt und ihn damit traktiert. Für René, der so viel für seine reine Haut tat, war es entsetzlich, sich so entstellt zu sehen. Als er sich zuhause vor dem Spiegel sah, hätte er am liebsten geheult. Denen mache ich den Prozess, sagte er sich und holte die Kamera, um Beweismittel zu schaffen. Doch bei dem Gedanken, dass er zwanzig Journalisten wegen Verletzung seiner Haut anzeigen sollte, kam er sich doch etwas komisch vor. Zudem mochte er sich, so hässlich wie er aussah, nicht ablichten. Er zog es vor sich in die Badewanne zu legen. Nach einer Stunde, während der er mit Seife und Schwamm sich rot gerieben hatte und das Wasser schon kalt war, fühlte er sich endlich wieder rein. MLF

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