Freitag, 20. Juli 2012

86 Elisabeths Sohn


Es war noch gar nicht viel Zeit seit der Hochzeit vergangen, da rief ihn Sally, seine Tochter, an und teilte ihm mit, dass Elisabeth einen Jungen geboren habe. Sally drängte ihn, mit ihr die Freundin zu besuchen. „Oder lässt dich dein hombscher Freund nicht gehen?“, fügte sie provozierend hinzu.
„An welchen Tag denkst du?“, fragte Wendy, ohne auf die Spitze einzugehen.
„An heute Abend.“
„Ach so – heute Abend“, sagte er und überlegte, ob er etwas vorhatte.
„Erst spät“, fügte Sally hinzu, „Elisabeth sagt, ihr sei lieber, wenn wir in der Nacht kämen.“
Der Junge war erstaunlich reif. Er wirkte gar nicht wie ein Säugling, eher wie ein Kleinkind. Aber etwas anderes erstaunte Wendy noch mehr. Der Junge hatte einen besonderen Hinterkopf. Im hinteren Teil des Kopfes hob sich der Schädel nochmal in die Höhe, als trüge er einen flachen Turban. Er erschrak, denn er glaubte, es handle sich um eine Missbildung, um einen Geburtsfehler. Aber dann fiel ihm der Betende in der Bibliothek ein, der genau diese Kopfform gehabt hatte. Wie lange mochte es her sein, dass er ihn getroffen hatte? Etwa zwei Wochen vor der Hochzeit. Da hatte jemand Wendy am Eingang der Bibliothek abgefangen und ihm in einem der Räume eine Zeremonie vorgeführt, während er daneben gestanden und zugeschaut hatte. Dieser Betende hatte genau die gleiche Kopfform gehabt. Das beruhigte Wendy. Anscheinend gab es Menschen mit so geformtem Kopf, wie es Menschen mit flachem oder gewölbtem Hinterkopf gab. Der Junge war in seinem Verhalten nicht auffällig. Nur dass er so reif war, verwunderte. Sally reichte ihm ihre Zeigefinger. Er konnte sich daran aufrichten.
Es war deutlich nach Mitternacht, als Elisabeth den Tisch deckte und sie gemeinsam aßen – mitten in der Nacht, wie man sonst zu Mittag isst.
Wendy war erleichtert, dass von ihrer Auseinandersetzung bei der Hochzeit nichts mehr zu spüren war. Das hat also doch, wie ich vermutet habe, an ihrem schwangeren Zustand gelegen, sagte er sich. Doch beim Abschied zeigte sich, dass noch nicht alle Wolken verzogen waren.
Beat Amwald hatte sich am Rand aufgehalten und hatte auch nicht mit ihnen gegessen. Wendy hatte ihn gar nicht im Bewusstsein getragen, während Elisabeth, Sally und er sich mit dem Kind beschäftigten. Erst am Schluss beim Gehen sah er ihn im Flur und wandte sich ihm zu. Da sah er, dass Beats rechter Mittelfinger mit einem dicken weißen Verband umwickelt war.
„Was hast du denn angestellt?“, fragte er.
Er habe mit dem Hammer daneben getroffen, gestand Beat und streckte ihm die Hand mit dem weiß umwickelten Finger entgegen.
Elisabeth überreichte Beat den Jungen und begleitete sie zur Tür. Beim Abschied machte sie ihm dann doch noch einen Vorwurf, der Wendy hart traf.
„In deiner Werkstatt wird’s nie so weit kommen, dass du einen Keim auszudrucken hast“, sagte sie. Ihre sonst so schönen, gerundeten Züge nahmen dabei einen harten Ausdruck an. Sally schaute ihn verwundert an. Wendy ließ sich aber nichts anmerken. Er küsste Elisabeth auf die Wangen und wünschte ihr gutes Gedeihen für ihren Sohn.

„Was hat sie dir vorgeworfen?“, fragte die Tochter, als er sich neben ihr auf dem Beifahrersitz anschnallte.
Er glaube, er wisse, worauf sie anspielte, sagte er und berichtete Sally davon. Vor noch nicht langer Zeit, ein Monat oder zwei, war er im Eschenbacher Kulturzentrum gewesen. Dort hatte er jemanden getroffen, der ihm einen Ritus vorgeführt hatte. Aber er hatte die Sache nicht weiter verfolgt. Er vermute, das sei’s, was sie ihm vorwerfe. MLF

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