Freitag, 6. Juli 2012

82 Erwartungshaltung des Chors


In der Werkstatt hoch oben gab es viele Arbeitsplätze wie in einer Bildhauerschule. Die Plätze waren in Kammern, die rechtwinklig vom ansteigenden Flur abgingen, voneinander abgetrennt.
Er war ein geachteter Arbeiter. Das Problem war, dass da niemand war, der ihn unterstützte. Er konnte nicht an allen Arbeitsplätzen gleichzeitig wirken, sondern immer nur an einem.
Durch eine Tür im Flur gelangte man in einen oberen Teil der Werkstatt. Auch hier gab es mehrere Arbeitsplätze, die waren aber nicht so deutlich von einander getrennt. Hier war tatsächlich noch einer am Arbeiten außer ihm. Er nahm ihn aber nicht für voll, weil er deutlich kleiner war als er. Doch was ihn beeindruckte, waren seinen feinen Finger und die Werkzeuge, die er benutzte. Sie waren auf viel detailliertere Arbeit ausgelegt, als die seinen. Er überlegte kurz, ob er auch hier arbeiten solle, spürte aber sofort eine Ungeduld, die ihn zum Umkehren bewegte.

Sie machten zeitig Feierabend. Er hätte gerne noch auf den Mitarbeiter von oben gewartet, aber als der nicht kam, gingen sie ohne ihn los. Was er im Flur vor zum Zentrum sah, war beängstigend. Es lag nicht daran, dass der Bau so exponiert war, sondern weil alles was herumstand am Zerbröseln war. Obwohl die Lage so hoch war, erinnerte ihn dieser Ort an ein Schattenreich.
Ganz anders dagegen im belebten Kern, im Zentrum, in das sie jetzt gelangten. Etwas erhöht standen zwei Chöre zum Singen bereit. Er spürte eine Erwartungshaltung: Begrüßt uns singend. Die Chöre warteten auf einen Vorsinger, den sie echoen konnten, beziehungsweise auf eine Einzelstimme, die ihren Gesang verdichtete und diesem zum konzentrierten Ausdruck verhalf. Er räusperte sich, setzte an zu einem Sprechgesang. Aber bevor der erste Ton über die Lippen kam, verlor er das Selbstvertrauen. Das sind doch alles Sänger und Sängerinnen, die nichts anderes machen, als zu singen. Wie sollte er da mit ihnen in Austausch treten können. Er schlich sich mit den andern an ihnen vorbei. Es war eine seltsame Welt, vorherrschend pechschwarz und glühend rot, Farben, die er wo ganz anders erwartet hätte.
Sie legten sich weiter hinten, im Steilhang unterhalb ins trockene Gras. Seine Begleiterin lag neben ihm mit dem Kopf auf seinem Arm. Ringsum war einiges geboten. Er sah zum zweiten Mal, wie eine Frau mit einer Fülle von lockigen, offenen Haaren sich auf die Kante hinstellte und – als sie sicher war, dass aller Blicke auf ihr ruhten – sich den Steilhang hinabrollen ließ.
„Habt ihr das gesehen? Ist ja fantastisch!“, rief er in echter Begeisterung.
Da stand seine Begleiterin auf. Sie war gereizt. „Ich habe jetzt genug davon, hier herumzuhängen“, sagte sie.
Er distanzierte sich von ihr. Zeit zum Aufbrechen.
Im Weggehen spürte er noch, wie sich ihr volles, aber burschikos kurzes Haar in seiner Hand angefühlt hatte. Irgendwie beunruhigte ihn schon die ganze Zeit, dass er nicht auf den Kollegen mit den feinen Händen aus der oberen Hälfte der Werkstatt gewartet hatte. Ich muss zurück, obwohl… Es hieß man solle an diesem Ort nie zurückgehen. Er tat es trotzdem. Das Gebrösel hatte er schon auf dem Hinweg gesehen. Das konnte auf dem Rückweg nicht schlimmer werden.
Der mit den feinen Fingern war längst nach Hause gegangen. Er suchte nach Decken. Irgendetwas musste doch zur Decke taugen, damit er schlafen konnte. Etwas, das nicht bröselte. MLF

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