Dienstag, 3. Juli 2012

79 Im Schatten der Universitätstreppe


Beim überdachten Spielplatz draußen hängte er die Wäsche auf. Was in der Maschine gewesen, passte genau auf den klappbaren Ständer, den seine Freunde sonst im Haus einsetzten. Es ging ein leichter Luftzug, ideal zum Wäschetrocknen. Er beschwerte den Ständer mit zwei Steinen.
Diese Nacht hatte Toni auf dem Platz vor Othmar und Utes kleinem Haus geschlafen und am Abend ihre Waschmaschine befüllt.
Drüben im Park der angrenzenden Villa, sah er Reichmuth. Er ging auf dem schön angelegten Weg und begrüßte ihn bei der Hintertreppe. Toni war früher ein gern gesehener Gast bei Reichmuth und seiner Frau gewesen. Aber seit ihm die Bedürftigkeit ins Gesicht geschrieben stand, zeigten sie sich skeptisch ihm gegenüber.
„Hallo Reichmuth, wie geht’s?“, fragte Toni.
Dieser schaute verstohlen an ihm vorbei. Seine Frau hatte ihm untersagt, sich noch auf Toni einzulassen. Er schaute, wo sie steckte. Der Carport war leer, sie war einkaufen gefahren. Der Privatier entspannte sich und fragte:
„Und selber?“
„Gestern habe ich was ganz Absonderliches erlebt“, berichtete Toni. „Ich war im Aufenthaltsraum des Kulturzentrums – du weißt, da rechts, wenn man reinkommt – wie ich da sitze und über meinen Notizen brüte, kracht es plötzlich aus dem Radio. Zwei Knaller hat’s getan. Ich habe mir ein Kissen vors Gesicht gehalten.“
„Wieso ein Kissen?“, fragte Reichmuth.
„Wegen möglichen Splittern.“
In dem Moment fuhr die Frau zu. Sie mussten Schluss machen. Da fiel Toni auf, dass Reichmuth am Unterbauch etwas rausstehen hatte. Er bückte sich, und entdeckte statt eines Pimmels einen Zapfen. Der war wie bei einem Fass etwa eine halbe Spanne lang und am Ende knubbelig.
Reichmuth musste Tonis Befremden gespürt haben, denn er sagte in beleidigtem Ton. „Ihr mit eurem Gschiss um euren Pimmel!“ Er fühlte sich sichtlich hintergangen.
„Nein, so ist es nicht gemeint“, entgegnete Toni ehrlich. „Ich dachte nur, du hättest was am Bauch.“
Als Reichmuths Frau mit ihren Einkaufstüten im Haus verschwand, kehrte Toni zum Transit zurück. Er wollte nicht, dass sein Freund – sie waren ja Freunde gewesen – Ärger bekommen würde.
Im Bus klappte er die Tischplatte hinunter, rückte das Papier zurecht und wollte anfangen zu schreiben. Aber so richtig war er nicht bei der Sache. Komisch, fragte er sich. Hat nur Reichmuth einen Zapfen? Oder haben das vielleicht alle Begüterten? Er hatte den Stöpsel bei Reichmuth nur zufällig gesehen, weil er so leicht bekleidet war. Er kannte noch andere Reiche und hatte bei allen die gleiche Reaktion auf seine Bedürftigkeit erfahren. Könnte es sein, dass die stete Sorge, alles, was man angesammelt hatte, zusammenzuhalten, auf Dauer zu einer organischen Umbildung führte? Ein Stöpsel, damit einem nichts verloren ging? Er nahm sich vor in Zukunft auf ihren Unterleib zu schauen. Aber nicht nochmal so, dass es auffiel.  
Er schüttelte diese Gedanken ab und wandte sich seinen Notizen zu. Mili hatte von einer breiten Treppe gesprochen. Die jemand nicht geschafft hatte hinaufzukommen. Im Laufe von Milis Geschichte war ihm die Vermutung gekommen, dass dieser jemand Erduan sein könnte, der Holzspezialist, von dem sie ihm schon viel berichtet hatte. ‚Angrenzend ans Kulturzentrum eine breite Treppe…‘ damit konnten eigentlich nur die Stufen zur Universität hoch gemeint sein.
Das Mittagessen nahm er bei seinen Freunden ein. Toni traf die Vorbereitungen, er schälte die Kartoffeln und schnitt sie in Stängel, rüstete den Salat und machte Wasser für die Würste heiß. Als Ute kam, erhitzte sie Öl im Wok und frittierte die Kartoffeln zu hausgemachten Pommes, die Lieblingsspeise ihrer drei Kinder.
Nach dem Mittag ging Toni wieder zum Spielplatz. Dort stieß er auf die Vertiefung eines zugeschütteten Brunnens. Er fand darin Kleider. Er verdächtigte die Kinder und pfiff sie her. Die ließen sich aber nicht so leicht von ihrem Spiel ablenken. Beim Wäscheständer sah er, dass alle seine Kleider noch dranhingen. Es musste sich also um alte, abgelegte Kleider von ihm oder von Othmar handeln.  Gegen drei war alles trocken. Er hängte die Wäsche ab, faltete sie und verstaute sie in Marks Schränken im Bus. Den Ständer brachte er ins Haus zurück. Er schrieb einen Zettel an Ute und Othmar, mit Gruß und Dankeschön.

Toni parkte etwas weiter drüben als am Vortag. Er empfand eine leise Scheu vor dem Kulturzentrum. Die Erlebnisse vom Vortag mussten sich erst setzen, bevor er wieder dorthin konnte. Der zur Hochschule gehörige Parkplatz war immer noch voll. Er hatte zu warten, bis ein größeres Auto einen Platz freigab. Auf eine Stelle am Rand, mit der Schiebetür zum Grün, hätte er lange warten müssen. Deshalb fuhr er in die erste Lücke, die sich bot.
Er konnte sich einen Handwerksbetrieb in der Umgebung der Universität und des Kulturzentrums schlecht vorstellen. Der Lärm der Maschinen würde doch störend sein. Als er vor den breiten Stufen stand, entsprachen diese genau dem Eindruck, den er von Milis Beschreibung gehabt hatte. Er ging die Stufen hoch, vorbei an Studenten, die auf den Stufen saßen und sich unterhielten. Entweder waren sie nach ihrem Seminar noch nicht nachhause gegangen oder warteten auf eine frühabendliche Veranstaltung. Es herrschte eine entspannte Stimmung. Nichts von dem Stress und Druck, den er mit einem Hochschulstudium verband. Bei dem einem die Professoren und Assistenten immer eine Nase voraus waren und einem bis zur Erschöpfung fordern konnten. Pensum erfüllt, Feierabend, Verabredungen für den Abend treffen. Von einer Handwerker-Abteilung war nichts zu sehen. An den hiesigen Universitäten gab es nicht mal Creative-Writing, wie sollte da Woodcraft ein Studienfach sein. Er ging die Stufen wieder hinunter. Seitlich der Treppe, um einige Meter zurückversetzt, sah er ein Fenster. Neugierig, was das sein könnte, ging er näher und sah durchs Fensterglas einen Menschen an der Arbeit. Da steckte tatsächlich in einem Souterrain-Bau ein Schreiner. Der Mann hatte etwas Konzentriertes, schon fast Penibles an sich. Spontan empfand er keine Sympathie für ihn. Konnte das Erduan sein? Er hatte sich den weitgereisten Holzspezialisten ganz anders vorgestellt. Groß, kräftig, souverän. Der Mann, den er hier am Arbeiten sah, dagegen schien ein zäher Handwerker zu sein. Tonis Blick fiel auf seine Finger. Sie waren nur halb so dick wie die seinen. Zierlich, aber anscheinend doch sehr kräftig. Was er da in Arbeit hatte, erregte sofort Tonis Interesse. Als der Schreiner Toni bemerkte, öffnete er das Fenster. Er drehte das Möbel auf der Werkbank ihm zu. Ein Schrank aus warmem, rötlichem Holz. Die eine Tür war schon angeschlagen. Der Schreiner öffnete sie und schloss sie wieder. Innen hatte sie einen Spiegel. Außen war sie gewölbt und war aus wertvollem Maserholz geschaffen. Ohne Zweifel ein Wunder der Schreinerkunst.
Toni hätte gerne gewusst, ob er tatsächlich Erduan vor sich hatte. Er überlegte, wie er ihn ansprechen könnte. Er konnte ja nicht sagen, dass eine Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte, ihm von seiner Zeit in Sibirien, China, Frankreich und Japan berichtet hatte. Stattdessem stellte er sich vor.
„Ich bin Toni, freut mich Sie kennen zu lernen.“ Und fügte hinzu. „Sie sind wirklich ein großer Künstler.“
Der Schreiner freute sich sichtlich über das Lob. Mit „Erduan“ stellte er sich vor.
Also doch. Eine leichte Gänsehaut zog sich Toni über den Rücken, da hatte er soeben einen weiteren Helden aus Milis Geschichten als reale Person kennengelernt.
„Sie fertigen das Möbel bestimmt auf Bestellung?“, fragte er interessiert.
Erduan sah ihn fragend an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte betreten. „Wurzelmaser ist heutzutage nicht gefragt. Der Wiederverkäufer hat mir mitgeteilt: <Mit Wurzelmaser hat man vor zweihundert Jahren gearbeitet.> Und die anderen haben durchwegs gefordert, dass das Innere aus weißem Resopal sein müsse. Was für mich nicht in Frage kommt. Meine Hoffnung bleibt Japan. Meine Förderin will Bilder machen, wenn das Möbel fertig ist und in Japan nach einem Käufer suchen.“
„Da wünsche ich Ihnen viel Glück“, sagte Toni und verabschiedete sich.

Dass Maserholz nicht zeitgemäß sei, wollte Toni nicht in den Kopf. Gibt es etwas Wundervolleres, als diese wuchernden, von der Natur geschaffenen Bilder?, fragte er sich auf dem Weg zurück zum Parkplatz. Er verließ den noch immer vollen Parkplatz, um einen geschickteren Platz zu finden, auf dem er die Nacht verbringen konnte. AS

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