Er saß in einem Sessel und bearbeitete die Notizen von Milis
Geschichte. Im Eck des sonst leeren Bereichs stand ein Radio. Plötzlich hörte
er einen lauten Knall, so laut, dass ihn die Ohren schmerzten und noch einen. Er
vermutete, dass es im Radio geknallt hatte. Und tatsächlich, es krachte weiter
und bei jedem Knall sah er Funken aus der Vorderseite des Geräts sprühen. Er
hielt sich ein Kissen vors Gesicht, für den Fall, dass das Radio explodierte und
Splitter durch die Luft fliegen sollten.
Dies widerfuhr ihm im Aufenthaltsraum des Kulturzentrums von
Eschenbach, in das er sich zuweilen begab, wenn er des mobilen Zimmers aus
Blech überdrüssig war. Im selben Komplex gab es auch eine Bibliothek, einen
Kindergarten und viele Einrichtungen mehr. Außerdem weitläufige Flure, in denen
es im Sommer kühl und im Winter warm war. An den Komplex angrenzend führten
breite Stufen zum Universitätsgelände hoch.
Hinter der Stellwand, die den Bereich, in dem Toni sich aufhielt,
abtrennte, war es leise geworden – davor hatte er Stimmen gehört. Er machte
sich Sorgen, dass den andern im Raum etwas zugestoßen sein könnte. Als das
Gerät verstummt war, legte er das Kissen weg, stand auf und ging in den
angrenzenden Bereich. Hier traf er auf zwei Männer, die auf sein Kommen
gewartet zu haben schienen. Ihre Kleidung war unauffällig, Chinohose und Hemd
mit offenem Kragen. Das einzig Besondere an Ihnen war, dass sie sich so ähnlich
sahen. Nicht gerade wie Zwillinge, aber von der Größe und von der Haltung doch
eng verwandt.
„Haben Sie das gehört?“, stammelte Toni. „Es hat im Radio
geknallt.“
Kein Zweifel, dass sie’s gehört hatten. Sie gingen jedoch nicht darauf
ein, sondern luden ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen. Er folgte ihrer Einladung
und setzte sich - vielleicht wussten sie ja den Grund für diese Knaller. Sie
nahmen ihm gegenüber Platz. Er blickte sie an und wartete auf eine Auskunft. Doch
statt auch nur mit einem Wort auf den Vorfall einzugehen, konfrontierten sie
ihn mit Fragen, auf die er völlig unvorbereitet war.
„Gott – was soll das? Zu was soll der gut sein? Wie stellst du
dir den eigentlich vor?“, fragte derjenige, der ihm direkt gegenüber saß und im
Sitzen etwas größer war als sein Partner. Der unterstützte ihn mit winzigen
Bewegungen seiner Augen.
Toni war platt. Wie kamen sie auf Gott? Hatte er ein Wort in diese
Richtung gesagt? Nicht dass er wusste. Er war so verblüfft, dass ihm
buchstäblich der Mund offen blieb und er kein Wort hervorbrachte. Ihm war klar,
dass die jedes Wort, das er sagte, durch den Dreck ziehen würden. Aber das war
ihm egal. Er würde nicht verbergen, dass ‚Gott‘ ihm etwas bedeutete, dass
‚Gott‘ Sinn machte. Er fühlte sich sonderbar erstarken und glaubte gleichsam zu
spüren, dass er am Wachsen sei. Vielleicht birgt diese Auseinandersetzung die
Chance, dem was Gott bedeutet, näher zu kommen, sagte er sich.
Die beiden Männer warteten mit gehobenen Brauen auf seine
Antwort. Doch dann schien ihnen die Antwort zu langen zu dauern. Sie standen
auf. Der andere, der vorher geschwiegen hatte, sagte.
„Sie müssen diese Fragen nicht gleich beantworten. Doch wir
würden uns freuen, wenn Sie sich Gedanken machen und uns diese bei … Er schaute
auf seinen Begleiter. Da dieser sich nicht äußerte, fuhr er fort. … bei der
nächsten Gelegenheit mitteilen könnten.“ Dann gingen sie auf die Tür zu und
schickten sich an, den Aufenthaltsraum zu verlassen.
„Ja und das Radio?“, rief ihnen Toni nach. Doch seine Frage kam
zu spät. Sie hatten schon die Tür hinter sich zugezogen und waren weg.
Nach diesen beiden Zwischenfällen, dem Defekt des Radios und die
ihm unverständlichen Fragen, war die Voraussetzung für ein ruhiges Arbeiten
nicht mehr gegeben. Vorsichtig ging er zum Sessel, steckte Papier und
Schreibzeug in die Tasche und schlich sich am Radio vorbei nach draußen.
Es gab zum Glück noch andere Bereiche in dieser
Gebäudeansammlung, in denen man ruhig arbeiten konnte. Allen voran die Bibliothek.
Er schlenderte durch den Flur, von dem man in den begrünten Hof sah. Was sind
das für Leute?, fragte er sich. Was wollen die von mir? Weil er sich einfach
keinen Reim machen konnte, warum sie ihm diese sehr persönliche Frage gestellt
hatten. Vielleicht waren sie Mitarbeiter einer humanistischen Vereinigung, die der
Entmündigung durch religiöses Denken entgegenwirken wollte. Immerhin hatten sie
ihn nicht gleich mit ihren doktrinären Gedanken überfallen, sondern ihm Zeit
gegeben, sich auf ein Zwiegespräch vorzubereiten. Schon seltsam, dass er in
dieser überraschenden Situation pro Gott reagiert hatte. Wäre die Frage im
Laufe einer Diskussion über Gott und die Welt gestellt worden, so hätte er
vielleicht gegenteilig reagiert und sich gegen den Gottesbegriff ausgesprochen.
Es gibt keine sinnvolle Vorstellung von einem Fokus, von einer Einheit für den
Menschen. Besser wir lassen’s und versuchen ohne diesen Begriff auszukommen.
Aber im Moment der Überraschung hatte er spontan geglaubt, dass es etwas gebe,
das – wenn auch nicht der ganzen Welt – so doch den Menschen oder sagen wir den
willigen Menschen einen Halt und eine Richtung gibt.
Der Weg zur Bibliothek führte am Kindergarten vorbei. Er mied
diesen, indem er einen Gang früher abbog und so einen Bogen um diesen unruhigen
Ort schlug. Toni hatte gerade seine Jacke an die Garderobe gehängt, als ein
Mann auf ihn zutrat, der auf ihn gewartet zu haben schien. Toni stellte fest,
er war gar nicht mehr überrascht. Das Ungewöhnliche war für ihn schon zur
Normalität geworden. Äußerlich zeigte dieser Mann eine unattraktive Figur. Ein
Pykniker mit Hängeschultern und Bauchansatz – das glatte Gegenteil von einem
Athleten. Beeindruckend war dagegen sein Kopf. Aus dem hintern Schädel wuchs
der Kopf nochmal kräftig in die Höhe. Die Erhöhung sah aus wie ein zu Kopfmasse
gewordener Turban. Er ging Toni voran in einen separaten Bibliotheksraum und
schloss hinter ihnen die Tür. Toni war gespannt, womit ihn dieser hochköpfige
Mann konfrontieren würde.
Der Mann begab sich in die Mitte des Raumes und kniete nieder –
und zwar genau über dem Schachtdeckel – und fing an zu beten. Toni lehnte sich
an ein Regal und hörte gebannt zu. Der Betende erhob sich mehrmals, kniete
nieder, verbeugte sich und richtete sich wieder auf. Leider betete der Mann in
einer fremden Sprache, so dass er ihn nicht verstehen konnte. Einzig die Zahl ‚zweiunddreißigtausend‘
hörte er aus dem Strom der Worte heraus. Er glaubte zu beobachten, wie die
Gestalt des Knieenden sichtlich kleiner wurde während des Betens.
Nach dem Gebet stand der Mann auf, öffnete die Tür und
verabschiedete sich von Toni.
Da er ihm keinerlei Erklärungen gegeben hatte, machte sich Toni
Gedanken, wie es zu dieser Vorführung gekommen war. Er konnte sich nicht anders
vorstellen, als dass dieser Hochköpfige in einem anderen Bereich des
Aufenthaltsraums gesessen hatte und die Fragen am Tisch mitbekommen hatte. Anders
konnte er sich diese gezielte Darbietung nicht vorstellen.
Noch jemand ging ihn an, an diesem Morgen. Das war allerdings ein
Typ, den er schon oft in die Bibliothek hatte gehen sehen und dessen Leben aus
Lesen zu bestehen schien. Äußerlich war er ziemlich verwahrlost, so dass Toni
ihn anfänglich für einen Penner gehalten hatte und dann feststellte, dass er
wohl eher so etwas wie ein ewiger Student war, jedenfalls ein Vielleser. Er war
dünn, hatte aber im Gesicht etwas Schwammiges. Der näherte sich Toni im
weitläufigen Flur. Er versuchte ihm auszuweichen, aber der Vielleser kam direkt
auf ihn zu. Er wollte ihm etwas überbringen. Er streckte Toni einen prall
gefüllten Rucksack entgegen. Toni erwartete, dass es ausgelesene Bücher seien
und dachte, dass er das eine oder andere im Transit lesen könnte. Also nahm er
den Packen an und versprach den Sack in den Bibliothekseingang zu legen. Worauf
der Vielleser nickte und weiterging.
Toni warf sich den Rucksack über die Schulter und wollte zu
seinem Wohnmobil gehen. Doch er wunderte sich, wie leicht der Rucksack war. Da
stellte er ihn auf das Mäuerchen und öffnete den graugrünen Sack. Der Rucksack enthielt
Zwieback. Der ganze Sack war prall gefüllt mit in Zellophantüten verpacktem
Zwieback in unterschiedlichen, ausschließlich blassen Farben, vorwiegend gelb. Der
Fettgeruch, fand er, war angenehm. Ansonsten reizten ihn diese Gebäcke
überhaupt nicht.
Mit dem Rucksack hatte er nicht darauf geachtet, wo im Flur er
sich aufhielt und war unweit vom Kindergarten stehen geblieben. Während er über
den Rucksack gebeugt sich fragte, ob er eine Packung aufmachen solle oder
nicht, spürte er plötzlich einen Stich an seinem Hintern und zwar genau dort wo
der After war. Er drehte sich um und sah einen vorwitzigen Bengel, der ihm
herausfordernd ins Gesicht sah.
Toni reagierte schnell, er fasste die Hand des Jungen und presste
sie gegen ein Metallgerüst, das für Sanierungsarbeiten aufgestellt war. Er
drückte nicht übermäßig fest, aber doch so, dass sich der Bengel erinnern würde,
dass man sowas nicht macht. Etwas salopp sagte er, damit der Junge auch wusste,
wofür er bestraft wurde. „Nicht so arg fleischig, das mag ich nicht.“
Der kleine Kerl war auch nicht auf den Mund gefallen. Bevor er
wegrannte, drehte er sich um und sagte. „Nüsse essen ist gut für … - Sie wissen
schon was.“ AS
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