Montag, 2. Juli 2012

78 Knaller aus dem Radio


Er saß in einem Sessel und bearbeitete die Notizen von Milis Geschichte. Im Eck des sonst leeren Bereichs stand ein Radio. Plötzlich hörte er einen lauten Knall, so laut, dass ihn die Ohren schmerzten und noch einen. Er vermutete, dass es im Radio geknallt hatte. Und tatsächlich, es krachte weiter und bei jedem Knall sah er Funken aus der Vorderseite des Geräts sprühen. Er hielt sich ein Kissen vors Gesicht, für den Fall, dass das Radio explodierte und Splitter durch die Luft fliegen sollten.
Dies widerfuhr ihm im Aufenthaltsraum des Kulturzentrums von Eschenbach, in das er sich zuweilen begab, wenn er des mobilen Zimmers aus Blech überdrüssig war. Im selben Komplex gab es auch eine Bibliothek, einen Kindergarten und viele Einrichtungen mehr. Außerdem weitläufige Flure, in denen es im Sommer kühl und im Winter warm war. An den Komplex angrenzend führten breite Stufen zum Universitätsgelände hoch.
Hinter der Stellwand, die den Bereich, in dem Toni sich aufhielt, abtrennte, war es leise geworden – davor hatte er Stimmen gehört. Er machte sich Sorgen, dass den andern im Raum etwas zugestoßen sein könnte. Als das Gerät verstummt war, legte er das Kissen weg, stand auf und ging in den angrenzenden Bereich. Hier traf er auf zwei Männer, die auf sein Kommen gewartet zu haben schienen. Ihre Kleidung war unauffällig, Chinohose und Hemd mit offenem Kragen. Das einzig Besondere an Ihnen war, dass sie sich so ähnlich sahen. Nicht gerade wie Zwillinge, aber von der Größe und von der Haltung doch eng verwandt.
„Haben Sie das gehört?“, stammelte Toni. „Es hat im Radio geknallt.“
Kein Zweifel, dass sie’s gehört hatten. Sie gingen jedoch nicht darauf ein, sondern luden ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen. Er folgte ihrer Einladung und setzte sich - vielleicht wussten sie ja den Grund für diese Knaller. Sie nahmen ihm gegenüber Platz. Er blickte sie an und wartete auf eine Auskunft. Doch statt auch nur mit einem Wort auf den Vorfall einzugehen, konfrontierten sie ihn mit Fragen, auf die er völlig unvorbereitet war.
„Gott – was soll das? Zu was soll der gut sein? Wie stellst du dir den eigentlich vor?“, fragte derjenige, der ihm direkt gegenüber saß und im Sitzen etwas größer war als sein Partner. Der unterstützte ihn mit winzigen Bewegungen seiner Augen.
Toni war platt. Wie kamen sie auf Gott? Hatte er ein Wort in diese Richtung gesagt? Nicht dass er wusste. Er war so verblüfft, dass ihm buchstäblich der Mund offen blieb und er kein Wort hervorbrachte. Ihm war klar, dass die jedes Wort, das er sagte, durch den Dreck ziehen würden. Aber das war ihm egal. Er würde nicht verbergen, dass ‚Gott‘ ihm etwas bedeutete, dass ‚Gott‘ Sinn machte. Er fühlte sich sonderbar erstarken und glaubte gleichsam zu spüren, dass er am Wachsen sei. Vielleicht birgt diese Auseinandersetzung die Chance, dem was Gott bedeutet, näher zu kommen, sagte er sich.
Die beiden Männer warteten mit gehobenen Brauen auf seine Antwort. Doch dann schien ihnen die Antwort zu langen zu dauern. Sie standen auf. Der andere, der vorher geschwiegen hatte, sagte.
„Sie müssen diese Fragen nicht gleich beantworten. Doch wir würden uns freuen, wenn Sie sich Gedanken machen und uns diese bei … Er schaute auf seinen Begleiter. Da dieser sich nicht äußerte, fuhr er fort. … bei der nächsten Gelegenheit mitteilen könnten.“ Dann gingen sie auf die Tür zu und schickten sich an, den Aufenthaltsraum zu verlassen.
„Ja und das Radio?“, rief ihnen Toni nach. Doch seine Frage kam zu spät. Sie hatten schon die Tür hinter sich zugezogen und waren weg.
Nach diesen beiden Zwischenfällen, dem Defekt des Radios und die ihm unverständlichen Fragen, war die Voraussetzung für ein ruhiges Arbeiten nicht mehr gegeben. Vorsichtig ging er zum Sessel, steckte Papier und Schreibzeug in die Tasche und schlich sich am Radio vorbei nach draußen.

Es gab zum Glück noch andere Bereiche in dieser Gebäudeansammlung, in denen man ruhig arbeiten konnte. Allen voran die Bibliothek. Er schlenderte durch den Flur, von dem man in den begrünten Hof sah. Was sind das für Leute?, fragte er sich. Was wollen die von mir? Weil er sich einfach keinen Reim machen konnte, warum sie ihm diese sehr persönliche Frage gestellt hatten. Vielleicht waren sie Mitarbeiter einer humanistischen Vereinigung, die der Entmündigung durch religiöses Denken entgegenwirken wollte. Immerhin hatten sie ihn nicht gleich mit ihren doktrinären Gedanken überfallen, sondern ihm Zeit gegeben, sich auf ein Zwiegespräch vorzubereiten. Schon seltsam, dass er in dieser überraschenden Situation pro Gott reagiert hatte. Wäre die Frage im Laufe einer Diskussion über Gott und die Welt gestellt worden, so hätte er vielleicht gegenteilig reagiert und sich gegen den Gottesbegriff ausgesprochen. Es gibt keine sinnvolle Vorstellung von einem Fokus, von einer Einheit für den Menschen. Besser wir lassen’s und versuchen ohne diesen Begriff auszukommen. Aber im Moment der Überraschung hatte er spontan geglaubt, dass es etwas gebe, das – wenn auch nicht der ganzen Welt – so doch den Menschen oder sagen wir den willigen Menschen einen Halt und eine Richtung gibt.
Der Weg zur Bibliothek führte am Kindergarten vorbei. Er mied diesen, indem er einen Gang früher abbog und so einen Bogen um diesen unruhigen Ort schlug. Toni hatte gerade seine Jacke an die Garderobe gehängt, als ein Mann auf ihn zutrat, der auf ihn gewartet zu haben schien. Toni stellte fest, er war gar nicht mehr überrascht. Das Ungewöhnliche war für ihn schon zur Normalität geworden. Äußerlich zeigte dieser Mann eine unattraktive Figur. Ein Pykniker mit Hängeschultern und Bauchansatz – das glatte Gegenteil von einem Athleten. Beeindruckend war dagegen sein Kopf. Aus dem hintern Schädel wuchs der Kopf nochmal kräftig in die Höhe. Die Erhöhung sah aus wie ein zu Kopfmasse gewordener Turban. Er ging Toni voran in einen separaten Bibliotheksraum und schloss hinter ihnen die Tür. Toni war gespannt, womit ihn dieser hochköpfige Mann konfrontieren würde.
Der Mann begab sich in die Mitte des Raumes und kniete nieder – und zwar genau über dem Schachtdeckel – und fing an zu beten. Toni lehnte sich an ein Regal und hörte gebannt zu. Der Betende erhob sich mehrmals, kniete nieder, verbeugte sich und richtete sich wieder auf. Leider betete der Mann in einer fremden Sprache, so dass er ihn nicht verstehen konnte. Einzig die Zahl ‚zweiunddreißigtausend‘ hörte er aus dem Strom der Worte heraus. Er glaubte zu beobachten, wie die Gestalt des Knieenden sichtlich kleiner wurde während des Betens.
Nach dem Gebet stand der Mann auf, öffnete die Tür und verabschiedete sich von Toni.
Da er ihm keinerlei Erklärungen gegeben hatte, machte sich Toni Gedanken, wie es zu dieser Vorführung gekommen war. Er konnte sich nicht anders vorstellen, als dass dieser Hochköpfige in einem anderen Bereich des Aufenthaltsraums gesessen hatte und die Fragen am Tisch mitbekommen hatte. Anders konnte er sich diese gezielte Darbietung nicht vorstellen.

Noch jemand ging ihn an, an diesem Morgen. Das war allerdings ein Typ, den er schon oft in die Bibliothek hatte gehen sehen und dessen Leben aus Lesen zu bestehen schien. Äußerlich war er ziemlich verwahrlost, so dass Toni ihn anfänglich für einen Penner gehalten hatte und dann feststellte, dass er wohl eher so etwas wie ein ewiger Student war, jedenfalls ein Vielleser. Er war dünn, hatte aber im Gesicht etwas Schwammiges. Der näherte sich Toni im weitläufigen Flur. Er versuchte ihm auszuweichen, aber der Vielleser kam direkt auf ihn zu. Er wollte ihm etwas überbringen. Er streckte Toni einen prall gefüllten Rucksack entgegen. Toni erwartete, dass es ausgelesene Bücher seien und dachte, dass er das eine oder andere im Transit lesen könnte. Also nahm er den Packen an und versprach den Sack in den Bibliothekseingang zu legen. Worauf der Vielleser nickte und weiterging.
Toni warf sich den Rucksack über die Schulter und wollte zu seinem Wohnmobil gehen. Doch er wunderte sich, wie leicht der Rucksack war. Da stellte er ihn auf das Mäuerchen und öffnete den graugrünen Sack. Der Rucksack enthielt Zwieback. Der ganze Sack war prall gefüllt mit in Zellophantüten verpacktem Zwieback in unterschiedlichen, ausschließlich blassen Farben, vorwiegend gelb. Der Fettgeruch, fand er, war angenehm. Ansonsten reizten ihn diese Gebäcke überhaupt nicht.
Mit dem Rucksack hatte er nicht darauf geachtet, wo im Flur er sich aufhielt und war unweit vom Kindergarten stehen geblieben. Während er über den Rucksack gebeugt sich fragte, ob er eine Packung aufmachen solle oder nicht, spürte er plötzlich einen Stich an seinem Hintern und zwar genau dort wo der After war. Er drehte sich um und sah einen vorwitzigen Bengel, der ihm herausfordernd ins Gesicht sah.
Toni reagierte schnell, er fasste die Hand des Jungen und presste sie gegen ein Metallgerüst, das für Sanierungsarbeiten aufgestellt war. Er drückte nicht übermäßig fest, aber doch so, dass sich der Bengel erinnern würde, dass man sowas nicht macht. Etwas salopp sagte er, damit der Junge auch wusste, wofür er bestraft wurde. „Nicht so arg fleischig, das mag ich nicht.“
Der kleine Kerl war auch nicht auf den Mund gefallen. Bevor er wegrannte, drehte er sich um und sagte. „Nüsse essen ist gut für … - Sie wissen schon was.“ AS

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