Mittwoch, 13. Juni 2012

66 Toni auf eigenen Beinen

Er war nachts nicht aufgewacht. Zwar spürte er am Morgen, dass sie bei ihm gelegen hatte, aber sie hatte ihn nicht geweckt.
„Du bist angekommen in dem ovalen Raum“
 Das musste sie als letztes in sein Ohr geflüstert haben. Diese Worte waren ihm so präsent, als stünden sie in Leuchtschrift mitten im Raum. Er wälzte sich im Bett und war in großer Versuchung, sich die nächtliche Vereinigung, die stattgefunden haben musste, in allen Details vorzustellen. Aber dann fasste er sich. Wenn sie mich nicht geweckt hat, dann gibt es dafür einen Grund. Sie will, dass ich mich löse – keinen Zweifel. Die Betonung auf der ‚Ankunft im ovalen Raum‘ verdeutlichte dies. Hatte sie nicht schon früher darauf hingewiesen, dass er selbstständig werden müsse? – Hatte sie das? – Womöglich – Wahrscheinlich! Er war nur zu beschäftigt gewesen damit, ihren Geschichten zu lauschen und sie auszuformulieren und hatte solche Winke übersehen. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er eines Tages selber Geschichten zu erzählen habe.
Eine Vermutung kam im mit einem Mal, die er bis dahin noch nicht erwogen hatte. Vielleicht hatte sie ja von Anfang an das Ziel verfolgt, ihn zum Geschichten-Schreiben anzuregen und hatte gar nicht wirklich einen eigenen Blog gewünscht.
Wenn sie angestrebt hatte, ihn zum Schreiben zu verleiten, so war ihr das wohl gelungen. Ja, er musste weitermachen. Er konnte gar nicht sein, ohne täglich eine Geschichte zu erleben. Doch was sollte er berichten, wenn er von ihr keine Erzählung mehr erhielt? Er spürte, dass er völlig leer war, weiß wie ein leeres Blatt, nicht ein Wölkchen irgendwo am Himmel, das er hätte beschreiben können. Ihre Geschichten dagegen, die waren ihm mehr als gegenwärtig. Ständig fragte er sich, was wohl aus Jasmus geworden sei? Wo steckte René? Wie ging es Bodo mit seinem Enrico?
Hauptsächlich aber war er mit seinen Gedanken bei Jasmus und Ruben. Zuletzt hatte er von dem nächtlichen Treffen bei Jasmus erfahren. Tamura hatte ihnen die Arbeitsweise eines japanischen Komponisten anhand seines Werkes ‚Der Norwegerin Lächeln‘ vorgestellt. Er hatte ihnen erklärte, dass der Komponist einem Rätsel zu folgen versuchte, so entstünden seine Werke. Wie ein Detektiv einen Mordfall aufdeckt. Ruben hatte sich beeindruckt gezeigt. Ob er aber die Kraft gehabt hatte, dadurch seine Arbeit in eine neue Phase zu leiten?, das wusste Toni nicht. Die zwei andern Beteiligten in der Gaststätte, Amwald und Holzstock, hatten sich ja skeptisch gezeigt. Nicht ganz zu unrecht, wie Toni schien. Die Methode eines anderen Künstlers zu übernehmen, konnte in die Irre führen. Sich einen großen Künstler zum Vorbild zu nehmen, konnte sogar gefährlich werden. Weil man am eigenen Wert zu zweifeln begann. Wie mochte das ausgegangen sein?
Mili hatte ihm viel berichtet. Aber für sein Gefühl waren die Mitteilungen nie vollständig genug gewesen. Vielleicht waren ihr die Sachverhalte klar und nur er begriff sie nicht oder es interessierte sie manche Details nicht wie ihn. Toni gestand sich ein, so fasziniert er von ihren Geschichten gewesen war, sie hatten ihn doch immer latent unzufrieden gelassen.
Aus dieser Unzufriedenheit spürte er jetzt einen Vorsatz wachsen: Ich muss selber mit diesen Menschen in Berührung kommen.
Da war sofort die Frage. Sie hatte sie doch nicht nur erfunden? – Nein, das konnte nicht sein!
Es kam auf eine Probe an. Doch wo anfangen? –
Bei Ruben und Jasmus! Naheliegend war zur Halle von Ruben zu gehen. Ein hundertzehn Meter langes Ding, irgendwo am Rand der Stadt musste doch leicht zu finden sein. Aber er wusste noch einen leichteren Weg. Von der Beschreibung von Jasmus‘ Haus hatte er ein ziemlich genaues Bild. Er meinte sogar den Transporter gesehen zu haben, der für einige Tage zwischen lauter PKWs vor einem mehrstöckigen Haus nicht weit vom Stadtzentrum gestanden hatte.
Toni raffte sich auf. Er wickelte seinen Schlafsack ein und ging durch den schmalen Schiffsflur zum Waschraum. Man hatte ihn angewiesen, Wasser zu sparen. Also wusch er sich mit dem Lappen von der Stirn und den Ohren, bis zur Fußsohle und den Zehenspitzen. Pfeiffend verließ er das Schiffsdeck und steuerte auf ein Stehcafé zu.

Er betrachtete das Gebäude hinter dem Parkplatz näher, auf dem er damals den Transporter gesehen hatte. Die Luft war mild, mal schien die Sonne, dann versteckte sie sich wieder hinter luftigen Wolken. Nach Milis Beschreibung hatte der Buchhändler sich verpflichtet, den Laster vor das Haus zu stellen. Und Jasmus hatte den LKW vom Fenster aus gesehen. Nach diesen Aussagen kam nur das Gebäude direkt dahinter in Frage. Es war ein moderner, fünfstöckiger Wohnblock, in einem angenehmen Beigeton, allerdings von senkrechten Wasserspuren versehrt. Er durchquerte den Grasstreifen und ging zur Tür und prüfte die Klingelschilder. Tatsächlich, im dritten Feld von unten stand Jasmus … und zwei darüber, ganz oben, Gila …. Sein Herz pochte laut.
Dann waren das also keine Fantasiefiguren, sondern leibhaftige Personen. Zumindest im Fall Jasmus. Aber woher wusste Mili von ihnen? Sie war für ihn noch immer ein großes Rätsel, obwohl er das Glück gehabt hatte, ihr fünfundsechzig Tage lang beizuwohnen. Er fasste sich und drückte auf die Klingel. Sekunden, die nicht enden wollten, bis eine helle, ziemlich elegante Stimme,
„Ja, bitte?“, sagte.
Jetzt stand Toni vor einem Problem. Wie sollte er sich vorstellen? Dass er sich das nicht vorher gefragt und sich entsprechend vorbereitet hatte! Er kannte Jasmus auf geheimnisvollem Weg. Jasmus konnte ihn unmöglich kennen. Er musste doch misstrauisch werden, wenn er von einer Mili anfinge, einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. In seiner Verlegenheit sagte er.
„Sie arbeiten doch mit dem Künstler Ruben zusammen? Ich hätte Ihnen gerne ein paar Fragen gestellt.“
Der Summton erklang. Toni drückte gegen die Tür. Diese sprang mit einem metallischen Geräusch auf und er trat in ein kühles Treppenhaus. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als könnte er nicht richtig unterscheiden, zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Er wagte nicht in den Aufzug einzusteigen, aus Angst in eine irreale Ebene zu geraten, aus der er nicht mehr herausfinden würde. Auf jede Stufe trat er kräftig auf. Jasmus, falls er oben vor der Tür wartete, musste ihn für einen Trampel halten.
Ein Mann Mitte Dreißig, schmales Gesicht, krause, kastanienbraune Haare, lächelte ihm zu und bat ihn herein. Von hinten wirkte er groß. Er war elegant gekleidet, leichte Sachen, Jeans, farbiges Hemd. Beim Umdrehen fiel ihm eine schön geschwungene, glänzende Schnalle am Gurt auf.
„Nehmen sie doch bitte Platz“, lud ihn Jasmus ein und wies aufs Sofa.
Die Wohnung war nicht klein, für eine einzelne Person. Polstergarnitur. Im Hintergrund eine Küchenecke mit Theke. Zwei Türen, die abgingen, wohl das Bad und das Schlafzimmer. Dem Fenster gegenüber an der Wand, Bücherregale und ein Schreibtisch mit Computer.
Toni wies zum Fenster und fragte, „darf ich?“
Der Gastgeber nickte.
Er sah nach unten. Dort in der Reihe der PKWs musste der Laster gestanden haben. Genauso hatte er sich den Blick vorgestellt. Davon aber durfte er Jasmus nichts sagen. Sonst würde der Verdacht aufkommen, er sei beschattet worden. Die Arbeit von Ruben, darauf musste er sich beschränken. Er setzte sich und ließ sich ein Glas Wasser einschenken.
„Sie interessieren sich für die Arbeit des Künstlers Ruben?“, fragte Jasmus.
Toni nickte.
„Das freut mich“, bemerkte Jasmus, aber seine Stimme klang gespannt. „Vorab würde mich interessieren, wie es kommt, dass Sie mich privat aufsuchen. Soweit ich mich erinnere habe ich als Kontaktadresse ausschließlich das Büro in der Halle angegeben. Alles was Rubens Arbeit betrifft, läuft über die Werkstraße.“
Toni checkte, dass er einen Fehler begangen hatte. Er hätte die Halle suchen, notfalls Jasmus vom Haus aus folgen müssen. Aber das war nicht so leicht ohne Wagen. Jetzt war er schon hier. Er könnte sich auf einen Bekannten berufen, der ihn persönlich kannte. Aber das war ihm zu wenig, er wollte Jasmus wissen lassen, dass er Einblick in die aktuelle Situation hatte. Er räusperte sich.
„Man hört, dass Ruben vor einer neuen Phase steht und sich dabei womöglich an dem japanischen Künstler, der ‚Jimmy ging zum Regenbogen‘ komponiert hat, orientieren will. Der, wie es heißt in seinen Arbeiten einer ungelösten Frage folgt. Hat unser Künstler vor, einen ähnlichen Weg einzuschlagen? Wenn ja, welche Frage hat er sich gestellt?“
Jasmus Gesicht verriet deutlich die Überraschung. Es kam Toni so vor, als würde er ihn jetzt ganz anders ansehen. Auf diese Frage war er jedenfalls nicht vorbereitet.
Aber er fasste sich und begann mit dem Wohlklang eines Radiosprechers.
„Ja, tatsächlich, er hat diesen Weg eingeschlagen, aber es traten unerwartete Hindernisse auf…“ AS

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