Dienstag, 12. Juni 2012

65 Die Räte im Glasschrank

Auf der Sitzbank im Eschenbacher Schwimmbad ruhten sie sich von ihren Runden aus. Da erteilte ihm der Chef einen neuen Auftrag.
„Schau mal in Kleinengingen vorbei. Die Wasserkanäle sind dort so schmal, dass sie – sollte wieder ein Winter wie in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts kommen – einfrieren werden. Sieh dich um, was du tun kannst. Aber sei vorsichtig, der letzte, den ich hingeschickt habe, hat sich an den scharfen Kanten dieser Stadt verletzt.“ Nach einer Weile sagte er nochmal. „Nimm dich in Acht. Sie haben eine gut funktionierende Bürgerwehr. Wenn sie dich erkennen, bist du schneller wieder draußen, als du reingekommen bist.“
Mark wunderte sich, als er ins Städtchen kam, es war noch viel kleinflächiger, als er vermutet hatte. Im Innenbereich waren die Wege so eng, dass kaum zwei Menschen aneinander vorbeigehen konnten. Würde mich nicht wundern, wenn die Kanäle einfrören, sagte er sich. Wegen der Warnung des Chefs, versuchte er zielstrebig zum zentralen Gebäude der Stadt zu gelangen. Bei den gleichförmigen Gebäudereihen ein ziemliches Unterfangen. Aber schließlich stand er vor dem Rathaus – ein Gebäude, modern a la Disney, eine neue Variante des Zuckerbäckerstils. Er trat ein, stieg in den ersten Stock. Am Sekretariat legte die Frau ihren Finger auf die Lippen. „Die Herren sind in Beratung.“
„Ich werde erwartet“, flüsterte er zurück. Ihrem zweifelnden Blick schenkte er keine Beachtung und schritt auf die Tür zu, öffnete sie und trat ein. Mitten im Raum stand ein großer gläserner Schrank. Die Wände, die Türe, die Böden, alles aus Glas. Auf dem mittleren Boden standen zwischen zehn und zwanzig Räte und debattierten.
Sie schienen sein Eintreten nicht erwartet zu haben. Erst als er vor dem Schrank stand, entdeckten ihn welche. Man sah sich an und starrte auf ihn. Mark war klar, er musste schnell handeln. Wenn sie erkannten, wo er herkam, wäre er verloren. Er hatte schon die Schwachstelle erkannt. Wenn es ihm gelang einen der Bodenträger zu lösen, konnte er womöglich den Glasboden zum Kippen bringen. Er ging zur linken Ecke, stellte sich darunter und stemmt seine Schulter mit aller Kraft gegen das Glas. Der Bodenträger löste sich, er zog daran, ließ ihn fallen und sprang zurück.
Die Räte, neugierig, was er getan hatte, kamen nach vorne … dadurch neigte sich der Glasfläche und sie purzelten alle übereinander wie Schildbürger zu Boden.
Von dem Donnern aufgeschreckt kamen die Sekretärin, der Hausmeister und noch zwei weitere Personen angerannt. Mark stellte sich vor die feste Türhälfte. Als sie hineinrannten, schlüpfte er nach draußen. Er hörte einen der Räte rufen: „Haltet ihn!“ Aber kurz darauf hatte er das Gebäude schon verlassen.
Dass ihm der Streich so gut gelungen war, machte ihn übermütig. Statt fluchtartig Kleinengingen zu verlassen, setzte er sich auf eine Parkbank im Außenbereich und wartete ab, wie die Einwohner reagieren würden. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass Bürger die Abschaffung des Glasschranks forderten.
Aber eines hatte er vergessen. Die Warnung des Chefs vor der Bürgerwehr. Zwei Stunden nach seinem Blitzstreich umzingelten ihn am frühen Nachmittag plötzlich vier kräftige Burschen. Er wehrte sich nicht. Sie schleppten ihn noch weiter aus der Stadt hinaus zu einem der äußeren Kanäle. Dort banden sie ihn mit Lederriemen an das Wurzelwerk eines Baumes, der im Wasser stand. Nur sein Kopf ragte heraus. Dann verschwanden sie. Trotz dieser misslichen Lage wirkte in ihm noch die Freude über den gelungenen Streich.
Langsam jedoch wurde ihm seine Lage bewusst. Im Randbereich des Ortes, wo kein Mensch vorbeikam. In einem Kanal, der nicht gut roch. Ob der Chef ihn suchen werde? Dessen war er sich nicht so sicher. Er zog an den Wurzeln, zu prüfen, wie weit sie sich dehnen ließen. Wenn er mit dem Kopf zu den Riemen käme, könnte er sie durchbeißen. Er musste allerdings den Kopf unter Wasser stecken, um die Zähne ins Leder schlagen zu können. Aber er war guter Dinge, dass ihm das früher oder später gelingen würde. MLF

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