Donnerstag, 28. Juni 2012

76 Eusophie und Wildtiere


Die Tür stand angelehnt. Wie er in den erhellten Raum trat, wunderte er sich über die Einrichtungsgegenstände. Die Garderobe, der Rahmen der Durchgangstüre, sogar die Möbel waren in einem eigenwilligen Stil gestaltet, in kantiger Weise. Dadurch war ihm klar, wo er hingeraten war – in ein eusophisches Zentrum. Er spürte einen Stich in der Brust und fragte sich, muss ich mich auch von diesen ernsthaften und engagierten Menschen trennen? Sie förderten in vielen Bereichen eine sorgfältige Lebensweise, predigten nicht, sondern legten kräftig Hand an. Am meisten legten sie Wert auf ein gedankliches Leben.
Ein eher kleiner Mann mittleren Alters, mit dunklem Haar trat zu ihm und hieß ihn willkommen.
„Bitte kommen Sie rein“, sagte er einladend.
Das musste der Leiter des Hauses sein, dem Tonfall nach ein Spanier oder Südamerikaner. Für einen Südländer war er blass. Das kam wohl von den intensiven geistigen Übungen, die man sich in diesen Kreisen auferlegte.
„Sie sind Toni, nicht wahr? Mein Name ist Alfonso“, sagte er als perfekter Gastgeber.
Sie können sich hier gerne für ein paar Tage zum Arbeiten niederlassen. Ein eigenes Zimmer kann ich ihnen leider nicht anbieten. Sie sind von ausländischen Gästen belegt. Aber wenn Sie mit diesem Sekretär hier vorlieb nehmen und ihnen dieses provisorische Bett genügt, sind sie ein gern gesehener Gast.“ Er wies auf ein Feldbett, das ans Pult anschließend der Wand entlang aufgebaut war.
Als Toni gesehen hatte, dass er seine Wohnung nicht würde halten können, hatte er sich in dem Zentrum beworben, und man hatte ihm einladend geantwortet. Alfonso zog sich zurück.
Toni nutzte die Gelegenheit und machte sich gleich an die Arbeit. Sogar ein PC stand ihm zur Verfügung. Die Notizen von Milis letzten Geschichten galt es in Gedrucktes umzuwandeln. Er mochte etwa eine Stunde geschrieben haben, als Alfonso kam und ihm einen Tee anbot.
Toni nahm dankend an. Sie setzten sich an den großen Tisch, auch dieser und die Stühle waren besonders gestaltet. Nur das Klavier, das zwischen Tisch und Tonis Arbeitsbereich stand, war von gewöhnlicher Form.
Toni sagte im Lauf des Gesprächs. „Ich schätze an der eusophischen Bewegung, dass sie keine sexuellen Regeln in den Kodex der Organisation aufgenommen hat.“
„Sexualität liegt in der Gestaltungsfreiheit des Individuums“, stimmte der Leiter ihm zu.
Alfonso fragte ihn, ob er als Künstler ein Projekt an der Astoria-Schule übernehmen könnte.
Toni wollte einwenden, dass er Sanitärinstallateur und nicht Künstler sei. Und nur durch die Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau auf ein quasi-künstlerisches Terrain geraten sei. Aber er verschwieg dies und zeigte Bereitschaft sich dieser Aufgabe zu stellen.
Die Augen Alfonsos glänzten. „Dann werde ich Sie morgen in unsere Schule führen.“
Toni wusch sich am Waschbecken des Gästeklos und legte sich auf das Feldbett. Sofort fiel er in einen tiefen Schlaf. Mili teilte ihm auch in dieser Nacht eine Geschichte mit. Er kam aber erst am Abend dazu sie aufzuschreiben. Da sollte er schon wieder im Bus sitzen. Aufgrund der Vorfälle dieses Tages, würde er sich aus dem eusophischen Zentrum zurückziehen. Und in Marks Gefährt arbeiten.

Als sie auf die Astoria-Schule zugingen, trat ihnen ein Lehrer dieser Schule freudig entgegen.
„Wir möchten ein Theaterstück schaffen, in dem wir unsere Schule künstlerisch vorstellen“, sagte er mit großem Eifer.
Toni zeigte sich interessiert. Wenn er auch etwas betreten war, durch die großen Hoffnungen, die sie in ihn setzten. Sie gelangten in einen großen Aufenthaltsbereich, der als ein riesiger Wintergarten mit viel Grün und ganzen Bäumen gestaltet war. Jugendliche, die auf ihn einen sehr freien, selbstbewussten Eindruck machten, saßen einzeln oder in kleinen Gruppen an den Tischen.
Der Lehrer wollte noch jemanden dazu holen und schickte Toni durch eine Tür einige Stufen hinab in einen schmalen Tanzraum mit Garderobeplätzen an der Seite. Eine Tanzlehrerin übte mit einer Mädchengruppe seltsam fließende Bewegungsformen. Die Bewegungen, die sie machten, kamen Toni zwar etwas komisch vor, aber als ein Aspekt des Stückes wäre das ja durchaus in Ordnung, fand er. Um zu wissen, wie sich dieser Tanz anfühlte, stellte er sich zu den Mädchen und machte bei den Übungen mit. Die Tanzlehrerin war davon nicht begeistert. Mit giftigen Blicken brachte sie ihn zum Einhalten. Betroffen schlich er sich zur Seite und wartete.
Da kam schon der begeisterte Lehrer zurück, mit einem Artistenclown an seiner Seite. Dieser stellte sich auf die Hände und kam mit in der Luft schwankenden Beinen die Treppe hinunter. Auf der letzen Stufe überschlug es ihn und er fiel unsanft gegen die Garderobenabtrennung. Aber er sprang sogleich auf die Füße und lachte lauthals.
Toni war schon ziemlich verunsichert. Er fragte sich, ob das nicht alles dazu angetan war, ihm die Lösung von der eusophischen Bewegung und der Astoria-Schule zu erleichtern. Aber er nahm dann doch eine Einladung an für den Nachmittag. Eine Festlichkeit, die man im Freien begehen wollte.

Als er dort ankam, stieß er auf viele geschundene Wildtiere. Marder, Dachse, Waschbären, nur Füchse fielen ihm keine auf. Auch Großvögel, Enten, Wildgänse und Raubvögel waren dabei. Zum Teil lebten die Tiere noch. Es war schrecklich, sie in diesem Zustand zu sehen. Auch ein Arzt würde sie nicht retten können. Eine Wildgans schien noch heil zu sein. Er glaubte, sie sei durch einen Schrecken kurzzeitig betäubt geworden. Also nahm er das Tier behutsam an sich und ging mit ihm in Richtung des Waldes. Er sprach ihm aufmunternd zu und spürte wie sich sein wild pochendes Herz beruhigte. Doch als er es loslassen wollte, fiel es zu Boden. Erst da sah er, dass unter den Deckfedern die feinen Federn fehlten. Das Tier hatte doch eine Verletzung erlitten.
Enttäuscht kehrte er zum Platz zurück, wo im großen Stil gefeiert wurde. Die Tiere waren alle entsorgt worden und er wusste nicht, wo er die Wildgans hintun sollte. Als Engagierter an der Schule, wurde ihm ein großer Teller mit Erdbeer-Nachtisch gereicht. Doch just im Moment, da er den Löffel ansetzte, hauchte die versehrte Wildgans ihr Leben aus. Sie fiel hin und landete mit dem Kopf in seinem Erdbeerteller und blieb dort liegen. Müßig zu sagen, dass ihm der Appetit dabei verging.
Loslassen, sagte er sich. Er ging zum eusophischen Zentrum zurück, räumte den ihm dankenswert eingeräumten Platz, entschuldigte sich, dass er beim Theaterprojekt nicht mitmachen könne und setzte sich in Marks Transit, der ihm jetzt noch mehr bedeutete als zuvor. AS

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