Mittwoch, 27. Juni 2012

75 Pause beim Loslassen


Er spürte, er musste noch mehr loslassen. Aber den ganzen Tag nur in flüchtiger Berührung mit Menschen, erst mit Begeisterten von Mannschaftsspielen, dann mit einem Zeitungsverkäufer und seinem Gegenspieler, fehlte Toni die zwischenmenschliche Nähe. Deshalb entschloss er sich, Mark und Heinrich aufzusuchen, bevor er sich einem neuen Erlebnis stellte.
Als er zum Bus zurückkam, verstaute er alle beweglichen Gegenstände und setzte sich hinters Steuer. Schon während er der burgähnlichen Anlage entlang geschritten war, hatte der Wind die Wolken über den Himmel getrieben. Dadurch wechselten die Lichtverhältnisse ständig. Die Stimmung war irgendwie unruhig. Er schaltete das Licht ein, für den Fall, dass er unter eine dunkle Wolke geraten sollte.
Ein Blick beim Fahren auf den leeren Beifahrersitz rief etwas ins Bewusstsein, das unterschwellig in ihm wirkte, seit Mili sich zurückgezogen hatte. Er hatte niemanden, der ihm Gesellschaft leistete, niemand, dessen Nähe er spürte. Er hatte, seit sie sich nicht mehr zeigte, keine intensive körperliche Berührung mehr erlebt. Zwar wusste er, dass Mili noch immer bei ihm war – sie hatte ihm ja weiter jede Nacht eine Geschichte erzählt - da lief auch noch sexuell etwas zwischen ihnen. Das spürte er, wenn er aufwachte, an seiner Gestimmtheit. Aber was beim Schlafen sich abspielte, zählte nicht am Tag. Nur was im Wachzustand erlebt wurde, ließ das Tagesbewusstsein gelten. Deshalb hatte er das Bedürfnis nach der Nähe zu einem Menschen, ein intensives Begehren, das einem Hungergefühl ähnlich kam.
Er hatte jetzt die Pforte des abgegrenzten Eschenbacher Industriegebiets erreicht und passierte sie. Während er durch die untere Siedlung, den Hang hoch und durch den inneren Bezirk oben zu ihrem Haus fuhr, beschäftigte ihn die Frage, wen er sich denn auf dem Nebensitz –
oder deutlicher gesagt – neben sich im Bett wünschen würde? Da war ihm sofort klar, eine andere Frau hatte neben Mili nicht Platz. Mili würde das nicht zulassen. Mit einem Mal stand ihm der Rahmen ihrer Geschichten viel deutlicher vor Augen. Sie hatte ihn in die Welt der Männer eingeführt, die ähnliche Erfahrungen machten wie er. Bodo, René, Mark, … sie waren auch nicht von der Pubertät an hombsch gewesen, sondern hatten erst nach und nach zum gleichen Geschlecht gefunden. René von Nathalie dazu verleitet, Frauenkleider zu tragen, Bodo von Anna mit dem Schlüssel beschenkt, Mark, den Heinrich nach der Zeit mit der Familie in diese neue Welt eingeführt hatte. In ihren Geschichten hatte sie ihm diese Menschen nahe gebracht. Und indem sie sich jetzt zurückzog, forderte sie ihn auf, sie zu treffen, um unter ihnen jemanden zu finden, mit dem er eine hombsche Beziehung eingehen konnte. Er war, als er den Wagen auf dem Parkplatz unter ihrem Haus abstellte, guter Dinge, dass er in dem Kreis, den Mili ihm mit ihren Geschichten geöffnet hatte, einen Geliebten finden werde.

Mark öffnete die Tür, er bat ihn herein und drückte ihn an seine kräftige Brust.
„Wie geht’s?“, fragte Toni und schaute ihn prüfend an.
„Viel besser“, antwortete Mark. Er drehte seine Arme. „Das Taubheitsgefühl ist noch da, aber ansonsten habe ich kaum noch Probleme. Gelegentlicher Schwindel und eine Abwehr gegen alles, was mit Wasser zu tun hat.“
Wo Heinrich stecke, fragte Toni.
Er sei von der Arbeit direkt zu Freunden gegangen, die seinen Beistand brauchten , antwortete Mark und fragte, ob er ihm etwas zu essen anbieten dürfe. „Und ein Bier?“
Toni nickte. „Gerne.“
„Brot und was drauf?“
„Sehr gerne.“
Während sich Mark in die Küchennische begab, ging Toni durch die Stube zur Wand aus Glas. Er sah am Abendhimmel rötlich gefärbte Wolkenbahnen wie Landbänke im Meer des hellen Blaus treiben. Ihm schien, die Luft sei ruhiger geworden.
Mark deckte den Tisch mit Wurst, Käse und Brot. Er sagte, dass er sonst abends gerne geräucherten Fisch esse. Aber derzeit möge er nichts, was mit Wasser in Verbindung stehe. Er goss für sie beide ein Bier ein und sie stießen an. In der Küche klingelte der Eierkocher. „Ich habe sie hart gekocht, abends Frühstücksei passt nicht, finde ich.“ Salz und Mayonnaise standen dazu auf dem Tisch.
Während Toni sein Brot strich, erkundigte er sich nach Heinrichs Beruf und erfuhr, dass Heinrich Drucker war, in einem großen Druckereizentrum, das viele Zeitungen druckte. „Den Freunden, die er besucht, ist ein großes Missgeschick zugestoßen“, berichtete Mark. „Genauer gesagt, ihre Not hat eine Neuauflage bekommen.“
„Wie, was genau?“, wollte Toni wissen.
„Das Gericht hat ihnen vorgeworfen, sie hätten sich zusammengetan, um Steuern zu sparen. Der eine, der nach Meinung der Staatsanwaltschaft der eigentliche Nutznießer war, bekam eine Gefängnisstrafe aufgebrummt.“
„Ist ja nicht möglich“, rief Toni aus.
„Doch, das war vor sechs Jahren. Diese Tage wäre er freikommen, zu seinem Vierundsechzigsten…“
„Warum ‚wäre‘?“, unterbrach Toni.
„Der Staatsanwalt fand, das könnte Schule machen, wenn er jetzt noch eine schöne Alterszeit genoss. Deshalb haben sie seine Strafe nachträglich verlängert. Er muss jetzt bis siebzig, in Haft bleiben.“
„Unglaublich, wie man das Leben der Hombschen stört“, klagte Toni betroffen.
Mark klang erstaunlich optimistisch. „Heinrich wird’s hinkriegen, sie aufzumuntern“, fand er. „Er hat Erfahrung darin.“
„Wie meinst du?“, fragte Toni.
„ Wenn ich länger hier bin, beklage ich mich oft, dass ich mich wie in einem Gefängnis fühle.“
„Und wie reagiert er dann?“
„Er verwöhnt mich auf alle möglichen Weisen. Aber letzten Endes hilft mir doch nur, in den Transit zu steigen und für eine Weile auf Fahrt zu gehen.“
„Dann lass ich den Wagen wieder hier?“, tastete Toni ab.
„Nein, nein, nimm ihn mit. Noch fühle ich mich sehr glücklich bei Heinrich. Ich weiß gar nicht, ob mein Abenteuersinn nach dem letzten Erlebnis wieder erwachen wird. – Du kannst aber auch hier übernachten, wir haben zwei Gästezimmer zur Wahl.“
„Danke“, wehrte Toni ab und erklärte, er habe das Gefühl, sich noch von etwas weiterem trennen zu müssen. Toni erzählte Mark, von seinem Erlebnis mit dem Spielfeld, wie ihn die Plane gestört hatte und wie er auf dem Hügel jedes Interesse für dieses Spiel verloren habe.
Mark bekundete sein Einverständnis. Er habe ähnliche Erfahrungen gemacht.
Toni berichtete ihm auch von der Tatzenzeitung, einem Tagesjournal ohne die üblichen vier Ecken und von der labyrinthischen Anlage mit menschengroßen Karten, von der er vermute, dass sie die Gesellschaft versinnbildliche. - Da fiel ihm der Mann wieder ein, der die Skepsis gegen die Zeitungen verstärkt hatte. Er beschrieb ihn, kräftig, runde Visage, beinahe kahl, eine ruhige etwas tonlose Stimme…
„Oppermann“, sagte Mark.
„Siehste, dachte ich mir doch“, entfuhr es Toni.
„Oppermann ist mein Berater“, teilte Mark ihm mit. „Eine wichtige Person für mich. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich nicht auf Fahrt gegangen und säße hier in einem Gefängnis, ohne darum zu wissen. – Aber sag, woher kennst du ihn?“
Toni wurde verlegen. Er konnte ja nicht sagen, vom Bericht einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. Er flüchtete sich in eine allgemeine Bemerkung. „Oppermann ist eine wichtige Figur“, sagte er. „Ich glaube den kennen viele. Wenn du etwas loslassen willst, wird er dich gerne beraten.“
„So kenne ich ihn auch“, bestätigte Mark.
Toni stand auf. Er bedankte sich. Mark begleitete ihn zur Tür. „Übrigens“, sagte Mark, „wenn du Tanken musst oder sonst was brauchst, greife …“ Er beschrieb das Geheimfach, wo die Fahrtkasse versteckt war. Toni konnte nicht verbergen, wie gelegen ihm das kam.

Für diese Nacht brauchte Toni den Bus nur als Fahrzeug. Er hatte vor, bei jemandem um Unterkunft zu bitten. AS

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