Dienstag, 26. Juni 2012

74 Spiel mit großen Karten


Der Wunsch, sich eine Zeitung zu besorgen, trieb ihn nach draußen. Durch einen breiten, flachen Tunneleingang geriet Toni in einen großen Raum. Gemessen an der Weite der Fläche war die Decke sehr niedrig. Wie ein horizontaler Schnitt im Berg, so kam ihm der Raum vor. Er dachte an die Ausgrabungen alter Städte, bei denen mit jeder Schicht eine andere Zeit zum Vorschein kam. Dieser Raum hier entspricht unserer Zeit, sagte er sich. Er sah keinen Menschen, bis ihm ein Zeitungsverkäufer entgegenkam.
Die Tatzen-Zeitung abonnieren, die Zeitung für Studenten, sehr günstig, rief ihm der Händler zu.
‚Tatz‘, das ist doch meine Zeitung, dachte Toni und trat näher. Die Zeitung hatte eine seltsame Form. Es sah aus, als hätte ein großes Tier die vier Ecken abgebissen – ein Bär zum Beispiel, was zur Form eines Tatzenkreuzes geführt hatte.
„Wie viel?“, wollte Toni wissen.
„Nur hundertfünfzig im Monat.“
Toni glaubte nicht richtig zu hören. Dann brächte er für diese Zeitung nicht nur viel Zeit, sondern auch noch viel Geld.
Der Verkäufer schien seine Bestürzung zu bemerken. „Für Studenten und Minderbetuchte nur hundertzehn“, verbesserte er das Angebot.
Toni nahm ein Exemplar entgegen und sagte, er werde es sich überlegen. In Wirklichkeit fand er den Preis unannehmbar.
In der Nähe ragte ein großer, silberglänzender Pfosten aus dem Boden. Er lehnte sich an diesen und fing an in der Zeitung zu blättern. Auf den ersten Blick schien sie bloß Inserate zu enthalten. Der typische Eindruck, den das Vielerlei einer Zeitung weckt. Er war nahe dran sie wegzuwerfen. Aber er fasste sich. Als er sie innen umwandte, stieß er auf einen großen Artikel und fand, von innen nach außen lesend, noch weitere solche Artikel mit Bildern illustriert. Aber so richtig befriedigten ihn die Artikel, die er überflog, auch nicht. Ich bin wohl nicht in der richtigen Stimmung, sagte er sich.
Am silbernen Pfosten war ein Pfeil angebracht, Toni folgte der Richtung, in die dieser wies. Aus dem flachen Bau im Berg gelangte er auf ein Feld und in diesem an ein ummauertes, rechteckiges Gelände von der Größe mehrerer Fußballplätze. Er ging bis zur Mauer. Von dieser sah er in einen weitläufigen Hof hinab, der einen burgähnlichen Komplex umschloss, von dem aber nur das Erdgeschoss stand. Wie ihm schien, war dieses einzige Geschoss eine Ruine. Von hinten auf das Gelände gestoßen, folgte er nun der Mauer in Richtung zum Eingang an der Stirnseite gegenüber. Zwischendurch hielt er an und schaute hinunter auf die Anlage. Sie wirkte verschlungen wie ein Labyrinth. Dann entdeckte er etwas, das sein Interesse besonders weckte. An den Wegen waren Karten aufgestellt, Spielkarten, und zwar mannshohe. Anscheinend handelte es sich bei diesem Terrain um ein raffiniertes Spielfeld. Toni hegte die Vermutung, dass es das Spiel war, von dem die Zeitungen berichteten und die Figuren auf den Karten eine wichtige Rolle spielten. Die Welt der Politik und der Gesellschaft als ein Labyrinth in Ruinen – eine nicht gerade schmeichelhafte Darstellung der Gesellschaft, dachte er. Und doch nicht ganz unpassend, am deutlichsten wohl zu sehen, wie sich Realpolitik von den Wahlprogrammen unterschied. Aber auch andere an der Gesellschaft Beteiligte mussten sich damit abfinden, dass ihre guten Vorsätze sich nur bruchstückhaft umsetzen ließen. Was hilft es mir, wenn ich all diese Figuren auf den Karten kenne, wenn sie doch immer nur das gleiche Spiel treiben. Das war der Eindruck, der sich ihm hier einprägte. Er hegte den Verdacht, dass ihm jemand seine Zeitung abspenstig machen wollte, ihn drängte darauf zu verzichten.
Er war nicht der einzige Neugierige, der von der Mauer auf die Anlage hinabsah. Einen Mann sprach er an. „Ist ja interessant, ein Spiel, nicht wahr?“
„Ja, wenn es nur alle als ein Spiel sehen würden“, gab der Angesprochene zur Antwort. Er schien sich über den Kontakt zur freuen und stellte sich mit Namen vor. „Ich heiße Oppermann.“
Toni zuckte kurz zusammen. Oppermann, ob das der Oppermann war, der Mark beraten hatte? „Toni ist mein Name“, sagte er mit Verzögerung. Er sah sich den Mann genau an, um ihn beschreiben zu können, wenn er Mark fragte. Nicht sehr groß, kräftig, ein runder Kopf, fast kahl, wie Gorbatschow, dachte er.
„Viele nehmen dieses Spiel viel zu ernst“, bemerkte Oppermann. Er wies Toni auf etwas hin, das er von seinem Standpunkt aus nicht sehen konnte. „Sehn Sie dort vorne das Tor, Toni?“
Von der Burganlage bis zum Eingang war noch ein langes Stück begrünter Hof. Das Tor vorne war ihm aber schon aufgefallen. Er nickte.
„Wer von dort reinkommt, sieht die Figuren anfangs nicht klar. Sie erscheinen verschwommen wie auf einem Polizeibild. Erst nach und nach – auf die Burg zulaufend – schärfen sich die Bilder auf den Karten. Wer von außen reinkommt, muss sich erst eingewöhnen. Und dann führte ihn der Weg in ein labyrinthisches Ruinenfeld. Was halten Sie davon, Toni?“
Er zögerte, schließlich folgerte er, dass das Zeitungslesen, so betrachtet, als ein Verwirrspiel erscheine.
Oppermann stimmte zu, indem er nüchtern bemerkte, ihm gehe nichts verloren, wenn er dieses Spiel nicht allzu genau verfolge. MLF

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