Montag, 25. Juni 2012

73 Die trennende Plane

Nach der Geschichte von Mili war er wieder eingeschlafen.
Er wachte mit einem großen Bedürfnis nach Ordnung schaffen und Reinemachen auf. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Entsprechend war die Temperatur in Bus. Er zog die Schiebetür zurück und ließ frische Luft einströmen. Unter der Spüle, die im Wohnmobil gleichzeitig als Waschbecken diente, fand er einen Mülleimer mit Deckelheber, der aber winzig klein war. Damit konnte er sein Bedürfnis, sich vieler Dinge zu entledigen, wohl nicht befriedigen. Zuerst einmal bereitet er sich ein Frühstück. Der Kaffeegeruch, fand er, roch im Wagen noch besser als zuhause. Er hatte den Transit am Rand eines Freizeit- und Sportareals geparkt. Während er frühstückte, füllte sich langsam der Parkplatz und Gruppen von Sportbegeisterten kamen zu Fuß von einer nahen Haltestelle des öffentlichen Verkehrsnetzes. In Vorfreude auf das bevorstehende Spiel sangen sie und wiederholten lautstark den Namen ihrer Mannschaft. Aus der großen Beteiligung schloss er, dass es sich um ein wichtiges Spiel handelte. Er beendigte sein Frühstück und schloss sich dem Zustrom an. Das Stimmengewirr, die Hörnertöne und schrillen Pfiffe erhöhten die Spannung und rissen ihn mit. Aber dieses Gefühl, sich von etwas befreien zu müssen, verließ ihn nicht.
Das Spielfeld war rings von Fußballbegeisterten umringt. Um den Ball auf dem Feld zu halten, wurde von den Zuschauern eine Plane hochgehalten, die, je nachdem wo der Ball sich gerade befand, angehoben oder gesenkt wurde. In einer Ecke fand Toni noch einen Platz nahe dran und ergriff auch die Plane, um das Spielfeld vom Publikum zu trennen. Direkt am Feld dran, schoss ihm die ganze Wucht dieses Spiels ins Blut. Die Spieler waren richtige Profis. Es wurde mit großem Talent und vollem Einsatz gespielt. Er stand auf der Seite der Kickers und stimmte mit den ihn Umgebenden in die Freudenrufe und Klagen ein, je nach Erfolg oder Verlust der Spieler. Vom Lärm und vom eigenen Rufen geriet er in einen Rausch. Doch störte ihn auf Dauer die Trennung zwischen Spielenden und Zuschauern. Durch die Plane, die man zur Abgrenzung nutzte, wurde diese Erfahrung noch verstärkt – auch wenn sie durchsichtig war. An die Stelle, wo er stand, kam nur selten ein Ball hin. Nach und nach wurde Toni das Halten der Plane und die ganze Aufregung zu viel.
Die hintere Längsseite des Feldes grenzte an einen steil ansteigenden Hügel. Sein Platz war an der Ecke zu diesem. Auf dem Gipfel sah er Beobachter. Die Möglichkeit, das Spiel von oben zu sehen, reizte ihn. Bis zur Halbzeit hielt er durch. Dann übergab er seinen Posten an den nächsten, der von hinten Drängenden und begab sich auf den Fußpfad zur Erhebung hoch.
Von oben konnte er nicht nur das Spielfeld, sondern auch die ganze Menge der Zuschauer überblicken. Die Trennung zwischen Spielenden und Zuschauern fiel von hier noch stärker ins Auge. Obwohl er jetzt jeden Einsatz und jeden Pass genau verfolgen konnte, interessierte ihn der Spielverlauf plötzlich nicht weiter. Das Spiel hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Ihm wurde klar, dass es nur die Bedrohung, die von den Spielern ausgegangen war, gewesen war, die ihn gefesselt hatte. Jetzt, da diese weg war, schaute er nicht mal mehr hin. Er legte sich ins Gras und dachte an Mark, wie es ihm wohl ging? Ob er sich dank der guten Pflege durch Heinrich schon etwas erholt hatte. von den Strapazen der Fesselung in einem Wasserkanal Kleinengingens?
In den Bus zurückgekehrt schaute er sich in den Schränken um. Er fand einige Vorräte und kochte sich ein einfaches Mahl. Spiralnudeln mit Tomatensauce. Im Kühlschrank entdeckte er Möhren, von denen rieb er sich einen Salat und schmeckte diesen mit wenig Essig und Öl ab.
Da ihm in der Mittagszeit seine Zeitung fehlte, geriet er mit seinen Gedanken wieder in die Welt von Mili. Er hatte bisher zwei ihrer Helden kennengelernt, Jasmus und Mark. Und bei René, dem dritten, war er im Haus gewesen. Es bestand also kein Zweifel mehr, dass Mili nicht von erfundenen Figuren, sondern von wirklichen Personen berichtet hatte. Erduan, der in verschiedenen Holzfirmen arbeitete und Tommy, der schwer mit der Existenznot zu ringen hatte, würde er sicher auch begegnen. Dann waren da noch Bodo und Kermit gewesen, von deren Erlebnissen sie auch berichtet hatte. Wenn er mit ihnen allen Kontakt pflegen wollte, würde er auf vieles verzichten müssen. Darin hatte er sich schon fleißig geübt, in der Zeit, da er für Mili jeden Tag eine Geschichte in einen Blog umgewandelt hatte. Vielleicht verspürte er deswegen dieses drängende Gefühl, sich verschiedener Dinge entledigen zu müssen.
Auf dem Hügel war ihm klar geworden, dass er diese Spiele, die so klar zwischen Agierenden und Zuschauern trennten, nicht mehr brauchte. Die Aufregung, die sie verursachten, würde er nicht vermissen. Sie hatten für ihn keine Bedeutung mehr. Aber da war noch immer das Gefühl, sich erleichtern zu müssen.  MLF

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen