Freitag, 22. Juni 2012

72 Den trockenen Flusslauf hoch

Als René ins Ärztehaus kam, war die Klappe über dem Eingangsbereich zu. Wieso, fragte er sich verärgert. Er hatte doch verlangt, dass sie immer offen stand. Drinnen hörte er den Staubsauger, die Putzfrau war da. Sie musste sein Eintreten bemerkt haben, arbeitete aber unbeirrt weiter. Doch als er stehen blieb, schaltete sie das Gerät aus und richtete sich auf. Sie schien seine ungute Stimmung zu spüren.
„Die Stoffe im Verschlag sind brüchig geworden“, rechtfertigte sie sich, „ich musste sie wegmachen. Ich habe Heu hochgetan.“
René nickte betroffen. Deswegen hatte sie also die Luke geschlossen, damit kein Heu nach unten rieselte. Er spürte ein Stechen in der Brust. Dass doch alles so schwierig war. Doch dann gab er sich einen Stoß. Das liegt nur an deiner Feigheit, sagte er sich. Zieh einen Roch an und geh nach draußen, dann fühlst du dich gleich besser.
Das Auto war noch zu tanken. Er ging in den Eingang zurück. In der Ecke lehnten zwei Holmen mit vereinzelten Sprossen. Er klopfte mit dem einen Teil an den Lukendeckel. Dieser wurde von oben geöffnet.
„Ich geh tanken. Komm doch mit, damit du eine Weile rauskommst.“
„Und der Junge?“, fragte sie.
„Ich habe einen Kindersitz besorgt. Du kannst ihn mitnehmen.“
René steckte die beiden Leiterteile ineinander und stellte sich hinter die Leiter. Während sie mit dem Jungen hinunterstieg, presste er die beiden Holme gegeneinander. Dann ging er nach drinnen und zog sich statt der Hose einen Rock an. Sie befestigte so lange den Kindersessel auf dem Beifahrersitz. René setzte sich auf die Rückbank.
An der Tankstelle nahm René die Zapfpistole und öffnete den Deckel. Etwas stimmte nicht. Unter dem Deckel kam keine Öffnung, sondern ein Drehverschluss zum Vorschein. René war verwirrt. Was hatten die in der Werkstatt mit seinem Wagen gemacht?
„Ich muss mal rein, da stimmt was nicht“, rief er der Fahrerin zu. „Es fehlt die Öffnung für die Pistole.“
Mit einem unförmig großen, aber hilfsbereiten Angestellten an seiner Seite kehrte er zurück. Der Große warf einen Blick auf die Tanköffnung und sagte:
„Sie müssen Gas tanken – dort drüben.“
„Wie? Verstehe ich nicht“, entgegnete René,
Der Angestellte sah auf seine Kleidung. Einen Mann in Rock schien er noch nie gesehen zu haben. Entsprechend unwohl schien er sich zu fühlen. Er gab sich aber Mühe und sagte. „Sie haben einen Gastank, Sie müssen Gas tanken.“ Dann trottete er kopfschüttelnd davon.
Sie startete den Motor und fuhr den Wagen nach hinten zur Gassäule. Er drehte die beiden Ventilverschlüsse ineinander. Der Gaszähler fing an sich zu drehen. Warum an seinem Auto plötzlich ein anderer Tank war, begriff er nicht. Die Vermutung lag nahe, dass die Bündner ihre Hand im Spiel hatten. Seit die junge Bündner Frau bei ihm war, hatte er schon allerlei Ungewöhnliches erlebt. Als der Zähler stoppte, trennte er die Ventile und ging in den Shop zum Bezahlen. Er kaufte ihr eine Tüte mit scharfen mexikanischen Bohnen und dem Jungen eine Milchschnitte.
Zuhause ließ ihm die Überraschung, die er mit dem Wagen erlebt hatte, keine Ruhe. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es besser war, auf die Bündner zuzugehen, als abzuwarten, bis sie aktiv wurden. Mit der Veränderung seines Kraftstoffes mussten sie etwas bezweckt haben. Er wünschte zu wissen, wieso.

Der kürzeste Weg vom Ärztehaus zum Bündner Sitz im Gebirge führte durch einen trockenen Flusslauf hoch. Das war ein schöner Weg. René mochte ihn sehr und verstand nicht, warum dieser so selten genutzt wurde. Das erste Stück war etwas steil, aber die Felsen waren blank gerundet, es war ein Vergnügen, sich darauf zu bewegen. Je länger er über die Steine ging, umso geschmeidiger wurde er.
Als er in den flacheren Abschnitt des Hochtals kam und in der Ferne schon das Gebäude der Bündner erahnen konnte, spürte er jemanden an seiner Seite. Er kannte dieses Gefühl und wartete, was sein Begleiter ihm sagen würde. Auf Grund der Luftveränderung war seine Sehleistung geschwächt. Er sprach aufs Geratewohl.
„Man hat an meinem Fahrzeug den Tank getauscht. Als ich die Pistole reinstecken wollte, fand ich ein Ventil. Können Sie mir sagen, warum dieser Eingriff vorgenommen wurde?“
Die Antwort kam nicht gleich. Es dauerte eine Weile bis er vom Begleiter zu hören bekam. „Man verdächtigt dich des Schnüffelns.“
„Des Schnüffelns von was?“, fragte René verblüfft.
Er konnte jetzt sehen, dass jemand neben ihm ging. Die Antwort lautete. „Der Rat vermutet eine Kohlenmonoxid-Sucht bei dir.“
„Wie kommen die denn da drauf?“, fragte er verärgert und schüttelte den Kopf. „Kohlenmonoxid schnüffeln, ich wüsste nicht mal, wie man das anstellt.“
„Ist das Gastanken von Nachteil?“, fragte der Begleiter.
René überlegte. Ihm fiel kein Argument dagegen ein. Außer, dass das Parken mit Gastank in manchen Tiefgaragen untersagt war. Mit Gas zu fahren war sogar günstiger. „Nein, eigentlich nicht, es ist eher ein Vorteil“, gab er zu.
Ohne sich zu verabschieden verschwand der Begleiter.
René näherte sich nun dem Gebäude, das er als Sitz der Bündner kannte. Von weitem war es kaum von den Felsen zu unterscheiden gewesen. In der Nähe, bewunderte er die kühne Verbindung von Stein und Glas. Der Bau wirkte archaisch und futuristisch zugleich. In Analogie zu den Bauten des Künstlers Hundertwasser hätte man es Hundertsteine nennen können, weil es in den Felsen lag oder Hundertlüfte, weil es so exponiert war. Beim Gebäude angekommen setzte er sich draußen auf die Stufen. Er wünschte, dass einer von den Bündnern zu ihm kam und er nicht vor den Rat treten musste. Die Vorstellung mit mehreren von ihnen konfrontiert zu werden, stimmte ihn ziemlich verlegen.
Nach einer Weile trat tatsächlich einer von ihnen zu ihm. Er reichte ihm ein Glas Wasser und setzte sich zu ihm auf die Stufe. René schlürfte das kalte Wasser und fühlte sich sofort erfrischt. Das Gebirgswasser schmeckte hervorragend. Der Mann sah nicht anders aus, als sonst ein hagerer Bergler. Aber René wusste, dass er es mit einem ungewöhnlichen Menschen zu tun hatte. Bevor er die Frage nach dem Tank nochmal stellen konnte, sagte der Bündner.
 „Eine von uns befindet sich bei dir. Sie steckt in einer finsteren Kammer über dem Eingang. Das gefällt uns nicht.“
René war überrascht. Sie kannten also das Provisorium. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte sagen, dass ihm diese Notlösung auch nicht gefalle. Aber bevor er die richtigen Worte fand, fuhr der Bündner fort.
„Stell dir vor, du würdest in unserem Gebäude hier übernachten und wir würden dich wie eine Fledermaus in eine der Nischen hängen“, sagte er. „Das wäre eine vergleichbare Behandlung.“
René fand den Vergleich ziemlich komisch und musste ein Lachen unterdrücken. Aber er wusste, dass der Vorwurf ernst war. Deshalb begründete er seine Entschuldigung mit einer allgemeinen Beobachtung. „Die Menschen halten es mit ihren Gewohnheiten wie mit den universellen Rechten. Wer gegen sie verstößt, wird bestraft. Wenn ein Mann sich als Frau kleidet, wird er geächtet.“
„Hast du’s denn überhaupt probiert?“, hakte der Bündner nach. „Ich meine außerhalb des geschützten Rahmens der Schule? Du lebst doch in einer freien Gesellschaft.“
„Zwei Schritte außerhalb, auf dem Spielplatz, war’s schon ein Spießrutenlaufen“, sagte René.
„Ach ja, die Kinder, die sind der ehrlichste Spiegel der Gesellschaft“, bemerkte der Bündner.
„Lasst mir etwas Zeit“, bat René. „Wenn ich nicht vorsichtig bin, werde ich das Gegenteil erreichen, von dem, was Sie wünschen. Man wird mich ausgrenzen und mit mir die Bündnerin.“
Der Bergler lächelte ihm aufmunternd zu. Er sagte nichts weiter. Der Auftrag war klar.
René trank das restliche Wasser und stand auf. Er tue, was möglich sei, sagte er.
Er solle sie von ihnen grüßen, bat ihn der Bündner zum Abschied.
René nickte und begab sich auf den Heimweg. Abwärts ging es noch leichter. Er fühlte sich wie frisches Wasser, das über Steine springt. MLF

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