Mittwoch, 20. Juni 2012

70 Fahrt nach Eschenbach

Als Toni aufwachte, war heller Tag. Er fand sich am Boden eines Wohnmobils. Die Seitenfenster waren verdunkelt, aber durch die Frontscheibe drang ungehindert das Tageslicht. Er drehte sich auf den Bauch und steckte den Kopf ins Kissen. Milis Erzählung hatte ihn verwirrt. Es war, als hätte sich ein Tag dazwischen geschoben, an der Seite Erduans. Die ungerechte Behandlung der Bolschoias durch den Prüfer Reinert hatte ihn aufgewühlt, nicht weniger der Umstand, dass dieser Prüfer krank war, schwer krank sogar. Danach war er zwar nochmal eingeschlafen, aber die Geschichte beschäftigte ihn noch immer.
Die Situation, in der er sich eigentlich befand, war nicht weniger aufregend. Er hörte den ruhigen Atemzug des Schlafenden und gelegentlich ein Stöhnen. Toni erinnerte sich, wie er am Abend die Parkplätze auf der andern Seite des Stadtteils abgesucht hatte. Auf dem ersten Parkplatz hatten zwei Wohnmobile gestanden, aber beide nicht von der Marke Ford, von der der Schlüssel stammte. Auf den nächsten beiden Plätzen gab es nur PKWs und Lieferwagen. Kurz vor dem Dunkelwerden fragte er einen jungen Mann, der gerade sein Auto abstellt hatte.
„Gibt es noch andere Parkplätze weiter draußen?“
Der Angesprochene sah ihn befremdet an und antwortete nicht.
Toni eilte weiter. Auf einem kleinen Parkplatz, der hinten von Büschen begrenzt war, stand ein Ford-Wohnmobil. Der spannende Augenblick, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Was, wenn es doch das falsche Fahrzeug war und er das richtige nicht finden würde? Dann müsste er mit Mark eine Nacht im Park verbringen. Würde er am folgenden Tag kräftig genug sein, um selber nach dem Wagen zu suchen? Noch während er sich alle Widrigkeiten überlegte, ertönte auf eine leichte Rechtsbewegung ein mehrfaches Schnurren der Zentralverriegelung. Das Fahrzeug war offen, es war das richtige.
Bis an zweihundert Meter konnte er an die Bank ranfahren, auf der Mark schlief. Der Liegende wirkte wie betäubt. Toni machte mehrere Versuche ihn aufzurichten, bis er soweit war, dass er mit seiner Unterstützung gehen konnte. Im Bus half er ihm aus den Kleidern. Mark war robust gebaut mit schweren Knochen. Ein anderer Mensch hätte so eine Strapaze vielleicht gar nicht ausgehalten. Mark legte sich hin und Toni deckte ihn zu. Er reichte ihm eine Flasche mit Sprudel, aus der er gierig trank. Dann ließ er sich wieder in seinen Betäubungszustand fallen. Toni fand eine Schaumstoffmatratze, die in den schmalen Gang passte. Bevor er sich schlafen legte, öffnete er die Tüte vom Mittag und verzehrte nach langer Verzögerung Brot, Sardinen und Tomaten. Erschöpft, aber sehr zufrieden legte er sich auf die dünne Matratze und schlief sofort ein.

Er drehte sich. Wie spät mochte es sein? Er richtete sich auf. Mark lag mit dem Gesicht zur Wand und schien noch immer zu schlafen. Toni stand auf und schaute über die Sitze aufs Armaturenbrett, halb zehn. Da Mark sich nicht rührte, entschloss er sich, ein Stück zu fahren und in einem anderen Stadtteil zu halten, weg von Kleinengingen. Er suchte in den Schränken und fand trockene Hosen und Hemden. Für ihn viel zu groß, aber besser als in die nassen Kleider zu schlüpfen. Um die Schiebetür nicht zu öffnen, kletterte er zwischen den Sitzen vor und setzte sich hinters Steuer. Er startete den Motor und horchte. Mark reagierte nicht. Er verließ das Gelände mit den Büschen, bog in eine größere Straße ein, die in den südlichen Teil der Stadt führte. Auf dem großen Parkplatz eines Einkaufszentrums hielt er an. Dabei stellte er das Wohnmobil so, dass die Schiebetür zur Wiese zeigte. Im Eingangsbereich des Supermarktes war eine Bäckerei. Er kaufte ein halbes Brot. Sorgfältig schob er die seitliche Tür auf. Von den nassen Kleidern hing ein unangenehmer Geruch in der Luft. Erst jetzt schaute er auf die Kochecke. Der Gasherd stand offen. Es gab auch einen Kühlschrank. Aus den Schränken, die mit versenkten Druckverschlüssen zu öffnen waren, holte er eine Pfanne, füllte diese halbvoll mit Mineralwasser und entzündete das Gas. Beim Öffnen der Kaffedose verbreitete sich ein angenehmer Geruch. Er übergoss das Pulver und drückte den Stab mit dem Sieb nach unten. Als er zum Bett schaute, sah er, dass Mark sich aufgerichtet hatte. Er schien aber nicht ansprechbar. Toni klappte den Tisch um, aus dem Kühlschrank holte er alles was man für ein gutes Frühstück brauchte, Butter, Marmelade, Käse und Wurst. Er goss eine Tasse Kaffee ein und streckte sie Mark hin. Dieser nahm sie entgegen. Er reichte ihm auch einen Teller mit einem belegten Brot, aber den Teller legte er auf das Bett. Toni hatte richtig Hunger und schnitt sich eine Scheibe nach der anderen runter. Mark nahm gelegentlich einen Schluck Kaffee, das Brot rührte er nicht an. Er räusperte sich. Mit schwacher, fast nur gehauchter Stimme fragte er:
„Können Sie mich zu meinem Freund in Eschenbach fahren?“
„Gerne, erwiderte Toni und nach einer Pause. Wie geht’s denn? Soll ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus fahren?“
Mark bewegte heftig den Kopf, womit er den Vorschlag von der ärztlichen Untersuchung ablehnte. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand über die Unterseite des linken Arms und das gleiche mit dem rechten Arm. „Die Unterseiten der Arme sind taub. Aber da können die auch nichts ändern. Das wird sich wieder geben.“
„Wie lange warst du eigentlich im Kanal?“
Mark hob den Kopf. Er schien zu überlegen. „Ich weiß es nicht. Eher zwei Tage, als nur einer, vielleicht sogar drei. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit.“
Toni räumte den Tisch ab und verstaute alles, inklusive dem Brot, das Mark nicht gegessen hatte. Mark zog die trockenen Kleider an, blieb aber auf dem Bett liegen. Erst als sie nach Eschenbach kamen, richtete er sich auf und wies Toni den Weg zu einem umzäunten Gebiet. Sie fuhren durch ein Tor, durchquerten den unteren Bereich und stiegen dann zu einer Siedlung, die höher lag. An einer Straße mit neuen Häusern zeigte er auf ein Gebäude oberhalb der Straße. Toni parkte den Wagen auf der gepflasterten Fläche davor.

Sie hatten kaum gehalten, als über die Steinstufen in einem frisch angelegten Garten ein Mann herabkam, mit rundem, rosigem Gesicht und deutlichem Bauchansatz.
„Wo ist Mark?“, fragte Heinrich, als Toni ihm die Hand entgegenstreckte.
„Mark ist hinten drin, er ist geschwächt“, erklärte Toni.
„Wieso, was ist passiert?“, fragte Heinrich besorgt.
„Man hat ihn in Kleinengingen gefesselt. Ich habe ihn zufällig gefunden.“
Die Gesichtsfarbe Heinrichs wechselte von rosa zu weiß. Als sie die Seitentür öffneten, saß Mark auf der Liege – völlig apathisch, zu keiner Regung fähig. Aber ein leichtes, irgendwie verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht und weckte die Hoffnung, dass er sich bald erholen würde. Sein Freund schien zu spüren, dass für drängende Fragen keine Zeit war. Er und Toni halfen Mark, die Stufen hochzusteigen.
Durch einen Eingangsraum mit Garderobe betraten sie ein geräumiges Wohnzimmer. Es wurde von einer Glaswand, die bis zum Boden ging, beleuchtet. Schöne frei kombinierte Holzschränke an den Wänden bestimmten den Raum. Eine moderne Sofaecke mit breiter Rückenpolstern und schrägen Seiten, lud zum Entspannen ein. Heinrich vertraute ihm Mark an und holte ein Betttuch, das er auf das gepflegte, gelblich weiße Sofa breitete. Er schien ein reinlicher Mensch zu sein. Sie führten Mark zur Sofaecke, wo dieser sich halb aufgerichtet ausstreckte. Da Mark noch immer nichts sagte, wandte sich Heinrich Toni zu.
„Wo haben Sie ihn denn gefunden? Wer hat ihn gefesselt?“
Toni entschloss sich, den Bericht etwas zu vereinfachen. „Außerhalb Kleinengingens. Ich wollte auf einer Parkbank vespern, als ich jemanden um Hilfe rufen hörte. Ich bin den Rufen gefolgt und habe ihn am Kanal an einen Baum gefesselt gefunden. – Wer ihn gefesselt hat, weiß ich nicht. Ich habe so meine Vermutungen, aber sicher bin ich nicht. Kleinengingen soll eine sehr effiziente Bürgerwehr haben. Ich vermute, dass er gegen eine ihrer Regeln verstoßen hat und geächtet wurde. – Sie wissen nicht, was er in Kleinengingen vorhatte?“
Heinrichs Gesicht zeigte eine Spur von Unmut. „Er teilt mir nie mit, wohin seine Fahrten ihn führen. Ich habe nicht mal gewusst, dass er nach Kleinengingen wollte.“ Er warf Mark einen verärgerten Blick zu.
Toni überlegte, dass es doch besser war, wenn Heinrich das mit dem Wasser wusste. „Ich hätte Ihnen gerne ein Detail erspart. Aber für den Fall, dass sich Marks Zustand nicht bessert und sie zu einem Arzt oder Psychologen müssen, sollten Sie folgendes wissen...“
Heinrich starrte ihn fragend an.
„…Man hat ihn im Kanal an die Wurzeln des Baumes gefesselt. Nur den Kopf haben sie raus ragen lassen.“
Heinrich verfiel für einen Moment in einen Zustand wie Mark. Seine Augen öffneten sich weit. Entgeistert drehte er sich Mark zu, dem nicht anzusehen war, ob er ihrem Gespräch gefolgt war. Dann wandte er sich wieder Toni zu.
„Haben Sie etwas gehört in der Stadt? Irgendein Hinweis auf eine Bestrafung?“
Toni zögerte. Er konnte ja nicht verraten, dass er Marks Erlebnis von Milis Bericht kannte, einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. Es schien ihm nicht wichtig, dass Heinrich von Marks Auftritt im Rathaus wusste. Alles was er zu wissen brauchte, hatte er ihm gesagt. „Tut mir leid, bemerkte er, da müssen Sie wohl warten, bis Mark seine Apathie überwindet. – Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ruhe und Ihre Nähe werden ihm guttun.“
Mark legte den Schlüssel des Wohnmobils auf den Sofatisch und stand auf. „Fährt von hier in der Nähe ein Bus ins Zentrum von Eschenbach?“, fragte er.
Bevor Heinrich antworten konnte, richtete sich Mark vom Sofa auf, beugte sich vor und griff nach dem Schlüssel. Er streckte ihn Toni entgegen und sagte mit gehauchter Stimme. „Nimm den Bus mit. In den nächsten Tagen brauche ich ihn nicht.“
Toni schaute verwundert zu ihm und dann zu Heinrich. Dieser nickte. Er schien sogar erleichtert zu sein.
„Ja, nehmen Sie ihn mit“, sagte Heinrich.
Toni drückte Mark die Hand. Heinrich begleitete ihn zur Tür. Dort bot er ihm das Du an.
Er werde morgen oder übermorgen vorbeikommen, sagte Toni und stieg die Außenstufen hinab. AS

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