Als Toni aufwachte, war heller Tag. Er fand sich am Boden eines
Wohnmobils. Die Seitenfenster waren verdunkelt, aber durch die Frontscheibe
drang ungehindert das Tageslicht. Er drehte sich auf den Bauch und steckte den
Kopf ins Kissen. Milis Erzählung hatte ihn verwirrt. Es war, als hätte sich ein
Tag dazwischen geschoben, an der Seite Erduans. Die ungerechte Behandlung der
Bolschoias durch den Prüfer Reinert hatte ihn aufgewühlt, nicht weniger der
Umstand, dass dieser Prüfer krank war, schwer krank sogar. Danach war er zwar
nochmal eingeschlafen, aber die Geschichte beschäftigte ihn noch immer.
Die Situation, in der er sich eigentlich befand, war nicht
weniger aufregend. Er hörte den ruhigen Atemzug des Schlafenden und gelegentlich
ein Stöhnen. Toni erinnerte sich, wie er am Abend die Parkplätze auf der andern
Seite des Stadtteils abgesucht hatte. Auf dem ersten Parkplatz hatten zwei
Wohnmobile gestanden, aber beide nicht von der Marke Ford, von der der
Schlüssel stammte. Auf den nächsten beiden Plätzen gab es nur PKWs und
Lieferwagen. Kurz vor dem Dunkelwerden fragte er einen jungen Mann, der gerade
sein Auto abstellt hatte.
„Gibt es noch andere Parkplätze weiter draußen?“
Der Angesprochene sah ihn befremdet an und antwortete nicht.
Toni eilte weiter. Auf einem kleinen Parkplatz, der hinten von
Büschen begrenzt war, stand ein Ford-Wohnmobil. Der spannende Augenblick, als
er den Schlüssel ins Schloss steckte. Was, wenn es doch das falsche Fahrzeug
war und er das richtige nicht finden würde? Dann müsste er mit Mark eine Nacht
im Park verbringen. Würde er am folgenden Tag kräftig genug sein, um selber
nach dem Wagen zu suchen? Noch während er sich alle Widrigkeiten überlegte,
ertönte auf eine leichte Rechtsbewegung ein mehrfaches Schnurren der
Zentralverriegelung. Das Fahrzeug war offen, es war das richtige.
Bis an zweihundert Meter konnte er an die Bank ranfahren, auf der
Mark schlief. Der Liegende wirkte wie betäubt. Toni machte mehrere Versuche ihn
aufzurichten, bis er soweit war, dass er mit seiner Unterstützung gehen konnte.
Im Bus half er ihm aus den Kleidern. Mark war robust gebaut mit schweren
Knochen. Ein anderer Mensch hätte so eine Strapaze vielleicht gar nicht
ausgehalten. Mark legte sich hin und Toni deckte ihn zu. Er reichte ihm eine
Flasche mit Sprudel, aus der er gierig trank. Dann ließ er sich wieder in
seinen Betäubungszustand fallen. Toni fand eine Schaumstoffmatratze, die in den
schmalen Gang passte. Bevor er sich schlafen legte, öffnete er die Tüte vom
Mittag und verzehrte nach langer Verzögerung Brot, Sardinen und Tomaten.
Erschöpft, aber sehr zufrieden legte er sich auf die dünne Matratze und schlief
sofort ein.
Er drehte sich. Wie spät mochte es sein? Er richtete sich auf.
Mark lag mit dem Gesicht zur Wand und schien noch immer zu schlafen. Toni stand
auf und schaute über die Sitze aufs Armaturenbrett, halb zehn. Da Mark sich
nicht rührte, entschloss er sich, ein Stück zu fahren und in einem anderen
Stadtteil zu halten, weg von Kleinengingen. Er suchte in den Schränken und fand
trockene Hosen und Hemden. Für ihn viel zu groß, aber besser als in die nassen
Kleider zu schlüpfen. Um die Schiebetür nicht zu öffnen, kletterte er zwischen
den Sitzen vor und setzte sich hinters Steuer. Er startete den Motor und
horchte. Mark reagierte nicht. Er verließ das Gelände mit den Büschen, bog in
eine größere Straße ein, die in den südlichen Teil der Stadt führte. Auf dem
großen Parkplatz eines Einkaufszentrums hielt er an. Dabei stellte er das
Wohnmobil so, dass die Schiebetür zur Wiese zeigte. Im Eingangsbereich des
Supermarktes war eine Bäckerei. Er kaufte ein halbes Brot. Sorgfältig schob er
die seitliche Tür auf. Von den nassen Kleidern hing ein unangenehmer Geruch in
der Luft. Erst jetzt schaute er auf die Kochecke. Der Gasherd stand offen. Es
gab auch einen Kühlschrank. Aus den Schränken, die mit versenkten
Druckverschlüssen zu öffnen waren, holte er eine Pfanne, füllte diese halbvoll
mit Mineralwasser und entzündete das Gas. Beim Öffnen der Kaffedose verbreitete
sich ein angenehmer Geruch. Er übergoss das Pulver und drückte den Stab mit dem
Sieb nach unten. Als er zum Bett schaute, sah er, dass Mark sich aufgerichtet
hatte. Er schien aber nicht ansprechbar. Toni klappte den Tisch um, aus dem
Kühlschrank holte er alles was man für ein gutes Frühstück brauchte, Butter,
Marmelade, Käse und Wurst. Er goss eine Tasse Kaffee ein und streckte sie Mark
hin. Dieser nahm sie entgegen. Er reichte ihm auch einen Teller mit einem
belegten Brot, aber den Teller legte er auf das Bett. Toni hatte richtig Hunger
und schnitt sich eine Scheibe nach der anderen runter. Mark nahm gelegentlich
einen Schluck Kaffee, das Brot rührte er nicht an. Er räusperte sich. Mit
schwacher, fast nur gehauchter Stimme fragte er:
„Können Sie mich zu meinem Freund in Eschenbach fahren?“
„Gerne, erwiderte Toni und nach einer Pause. Wie geht’s denn? Soll
ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus fahren?“
Mark bewegte heftig den Kopf, womit er den Vorschlag von der
ärztlichen Untersuchung ablehnte. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand über
die Unterseite des linken Arms und das gleiche mit dem rechten Arm. „Die
Unterseiten der Arme sind taub. Aber da können die auch nichts ändern. Das wird
sich wieder geben.“
„Wie lange warst du eigentlich im Kanal?“
Mark hob den Kopf. Er schien zu überlegen. „Ich weiß es nicht.
Eher zwei Tage, als nur einer, vielleicht sogar drei. Es kam mir vor wie eine
Ewigkeit.“
Toni räumte den Tisch ab und verstaute alles, inklusive dem Brot,
das Mark nicht gegessen hatte. Mark zog die trockenen Kleider an, blieb aber
auf dem Bett liegen. Erst als sie nach Eschenbach kamen, richtete er sich auf
und wies Toni den Weg zu einem umzäunten Gebiet. Sie fuhren durch ein Tor,
durchquerten den unteren Bereich und stiegen dann zu einer Siedlung, die höher
lag. An einer Straße mit neuen Häusern zeigte er auf ein Gebäude oberhalb der
Straße. Toni parkte den Wagen auf der gepflasterten Fläche davor.
Sie hatten kaum gehalten, als über die Steinstufen in einem
frisch angelegten Garten ein Mann herabkam, mit rundem, rosigem Gesicht und
deutlichem Bauchansatz.
„Wo ist Mark?“, fragte Heinrich, als Toni ihm die Hand
entgegenstreckte.
„Mark ist hinten drin, er ist geschwächt“, erklärte Toni.
„Wieso, was ist passiert?“, fragte Heinrich besorgt.
„Man hat ihn in Kleinengingen gefesselt. Ich habe ihn zufällig
gefunden.“
Die Gesichtsfarbe Heinrichs wechselte von rosa zu weiß. Als sie
die Seitentür öffneten, saß Mark auf der Liege – völlig apathisch, zu keiner
Regung fähig. Aber ein leichtes, irgendwie verlegenes Lächeln huschte über sein
Gesicht und weckte die Hoffnung, dass er sich bald erholen würde. Sein Freund
schien zu spüren, dass für drängende Fragen keine Zeit war. Er und Toni halfen
Mark, die Stufen hochzusteigen.
Durch einen Eingangsraum mit Garderobe betraten sie ein
geräumiges Wohnzimmer. Es wurde von einer Glaswand, die bis zum Boden ging,
beleuchtet. Schöne frei kombinierte Holzschränke an den Wänden bestimmten den
Raum. Eine moderne Sofaecke mit breiter Rückenpolstern und schrägen Seiten, lud
zum Entspannen ein. Heinrich vertraute ihm Mark an und holte ein Betttuch, das
er auf das gepflegte, gelblich weiße Sofa breitete. Er schien ein reinlicher
Mensch zu sein. Sie führten Mark zur Sofaecke, wo dieser sich halb aufgerichtet
ausstreckte. Da Mark noch immer nichts sagte, wandte sich Heinrich Toni zu.
„Wo haben Sie ihn denn gefunden? Wer hat ihn gefesselt?“
Toni entschloss sich, den Bericht etwas zu vereinfachen.
„Außerhalb Kleinengingens. Ich wollte auf einer Parkbank vespern, als ich
jemanden um Hilfe rufen hörte. Ich bin den Rufen gefolgt und habe ihn am Kanal
an einen Baum gefesselt gefunden. – Wer ihn gefesselt hat, weiß ich nicht. Ich
habe so meine Vermutungen, aber sicher bin ich nicht. Kleinengingen soll eine
sehr effiziente Bürgerwehr haben. Ich vermute, dass er gegen eine ihrer Regeln
verstoßen hat und geächtet wurde. – Sie wissen nicht, was er in Kleinengingen
vorhatte?“
Heinrichs Gesicht zeigte eine Spur von Unmut. „Er teilt mir nie
mit, wohin seine Fahrten ihn führen. Ich habe nicht mal gewusst, dass er nach
Kleinengingen wollte.“ Er warf Mark einen verärgerten Blick zu.
Toni überlegte, dass es doch besser war, wenn Heinrich das mit
dem Wasser wusste. „Ich hätte Ihnen gerne ein Detail erspart. Aber für den
Fall, dass sich Marks Zustand nicht bessert und sie zu einem Arzt oder
Psychologen müssen, sollten Sie folgendes wissen...“
Heinrich starrte ihn fragend an.
„…Man hat ihn im Kanal an die Wurzeln des Baumes gefesselt. Nur
den Kopf haben sie raus ragen lassen.“
Heinrich verfiel für einen Moment in einen Zustand wie Mark.
Seine Augen öffneten sich weit. Entgeistert drehte er sich Mark zu, dem nicht
anzusehen war, ob er ihrem Gespräch gefolgt war. Dann wandte er sich wieder
Toni zu.
„Haben Sie etwas gehört in der Stadt? Irgendein Hinweis auf eine
Bestrafung?“
Toni zögerte. Er konnte ja nicht verraten, dass er Marks Erlebnis
von Milis Bericht kannte, einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines
stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. Es
schien ihm nicht wichtig, dass Heinrich von Marks Auftritt im Rathaus wusste.
Alles was er zu wissen brauchte, hatte er ihm gesagt. „Tut mir leid, bemerkte
er, da müssen Sie wohl warten, bis Mark seine Apathie überwindet. – Ich denke,
es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ruhe und Ihre Nähe werden ihm guttun.“
Mark legte den Schlüssel des Wohnmobils auf den Sofatisch und
stand auf. „Fährt von hier in der Nähe ein Bus ins Zentrum von Eschenbach?“,
fragte er.
Bevor Heinrich antworten konnte, richtete sich Mark vom Sofa auf,
beugte sich vor und griff nach dem Schlüssel. Er streckte ihn Toni entgegen und
sagte mit gehauchter Stimme. „Nimm den Bus mit. In den nächsten Tagen brauche
ich ihn nicht.“
Toni schaute verwundert zu ihm und dann zu Heinrich. Dieser
nickte. Er schien sogar erleichtert zu sein.
„Ja, nehmen Sie ihn mit“, sagte Heinrich.
Toni drückte Mark die Hand. Heinrich begleitete ihn zur Tür. Dort
bot er ihm das Du an.
Er werde morgen oder übermorgen vorbeikommen, sagte Toni und
stieg die Außenstufen hinab. AS
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