Montag, 18. Juni 2012

68 Befreiung aus dem Wasser

Als Toni das Haus verließ, fühlte er sich hungrig. Er lief stadteinwärts und schaute sich nach einem Imbiss oder einem Laden um. Jasmus hatte ihn eingeladen, bei Ruben vorbeizugehen, aber aus einem Grund, der ihm selber nicht klar war, hatte er abgesagt. Hatte jedoch Interesse für später bekundet. Er würde sich melden. Tatsächlich hatte er das Gefühl, an diesem Tag noch etwas leisten zu müssen, obgleich er nicht wusste, was ihm bevorstand. Jasmus war auch beschäftigt. Der Fall mit dem abgebrannten Karree von Häusern war sicher nicht leicht zu lösen. Er beneidete ihn nicht um diese Aufgabe. Die Spurensicherung nach einem Brand war besonders schwierig. Er würde auf die Redebereitschaft der Geschädigten angewiesen sein. Ob die mitmachten, war fraglich. Toni kam an eine Wurstbude. Die roch aber wenig vertrauenswürdig. Also ging er weiter. Wie weit der Künstler Jasmus dabei mit seinen Grabungen behilflich sein würde, konnte Toni nicht abschätzen. Es war ihm nicht möglich einen Zusammenhang zwischen einem aktuellen Vorfall wie einem Großbrand und einer Substanz im Boden herzustellen. Der Boden bestand doch aus Ablagerungen, jüngeren wie Humus und Älteren wie Gesteine und Fossilien. Fleisch im Boden? Das war ihm neu. Er schüttelte den Kopf, diese Künstler lebten wirklich in einer anderen Welt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er einen Supermarkt. Ob es der war, den Jasmus besucht hatte, bevor er zur Veranstaltung mit den Muschelbäumchen gegangen war? Toni trat ein. Er nahm eine Dose Sardinen aus dem Regal, zwei Brötchen aus dem Bäckerkorb und von der Gemüseauslage zwei Tomaten und zahlte an der Kasse. Mit der Tüte in der Hand schlenderte er durch die Straße, auf der Suche nach einem ruhigen Platz. Er gelangte in einen Stadtteil, dessen Sträßchen sehr eng waren. Er fühlte sich wie im Urlaub, in einer idyllischen Stadt, die sich über die Jahrhunderte nicht verändert hatte. Zum Hinsitzen waren ihm die Straßen an den Kanälen aber zu unruhig. Auf einem Querweg gelangte er nach draußen und nahm schließlich Platz auf einer Parkbank, die etwas abseits vom Weg hinter Büschen stand. Die Sonne sandte ihm ein paar Strahlen und er blinzelte ihr zu. Dicht daneben machte sich eine dunkle Wolke breit, von der er nicht wusste, wann sie ihn von seinem Sitz im Freien vertreiben würde. Toni brach eines der Brötchen in zwei Hälften und zog die Kartonumhüllung von der Sardinendose ab, als er eine unfreundliche, finstere Stimme hörte.
„Von mir aus können Sie ewig hier angebunden bleiben!“
Als Antwort glaubte er ein Stöhnen zu hören. Er sah, dass eine Person auf dem Weg hinter den Büschen weiterlief, aber nur eine. Wo war die andere Person, deren Stimme er undeutlich vernommen hatte? Er steckte Brot und Dose nochmal in die Tüte und ging vor zum Weg. Den älteren Mann, der bei ihm vorbeigegangen war, sah er in der Ferne verschwinden, aber keine zweite Person. Man versteht nicht alles, sagte er sich und setzte sich wieder auf die Bank. Wie er nach der Dose griff, hörte er eine Schar Kinder plaudernd und schreiend näher kommen. Er schenkte ihnen keine Beachtung, bis er wieder die gleiche gepresste Stimme hörte.
„Kommt, helft mir!“
Als Antwort rannten die Kinder davon. Toni stand sofort auf und ging auf den Weg. Er konnte aber niemanden sehen. Gewiss war der Betreffende noch in der Nähe. Vielleicht ein Mann, vor dem die Eltern ihre Kinder warnten. Sie sagten nicht, das ist ein Pädophiler, der versucht euch zu begrapschen und auszuziehen, sondern, der will euch wehtun, nehmt euch vor ihm in Acht.
„Hallo, ist da jemand?“, rief Toni.
Da hörte er die schwache Stimme wieder, sah aber niemanden. Er ging einige Schritte in Richtung der Laute und rief. „Hallo, wo sind Sie?“
„Hier bin ich, hier!“, antwortete eine männliche Stimme leise.
Noch ein Schritt und Toni sah ein ganz unglaubliches Bild. Neben dem Weg war ein Kanal, am Ufer stand ein großer Baum und hinter diesem Baum im Wasser sah er einen Kopf – nichts als einen Kopf. Wie ein Stromschlag traf es ihn. Die Geschichte von Mili kam ihm im selben Moment in Erinnerung, ‚Die Räte im Glasschrank‘. Konnte es sein, dass er den Mann vor sich hatte, den vier Männer der Bürgerwehr Kleinengingens in einem Kanal außerhalb an die Wurzeln eines Baumes gefesselt hatten? Aber in der Geschichte war Mark doch ganz optimistisch gewesen. Er hatte geglaubt, sich selber befreien zu können. Wenn er es tatsächlich war, dann hatte er sich geirrt. Toni sah ein kräftiges, gebräuntes, aber blasses Gesicht, krause Haare, die mal sehr dunkel gewesen sein mussten, jetzt aber von silbernen Haaren durchwirkt und aufgehellt waren. Toni brachte kein Wort hervor. Er kniete nieder. Da erkannte er, dass dies kein Verrückter war, sondern dass seine ausgestreckten Arme festgebunden waren. Bei näherem Hinschauen sah er Lederschnüre, womit ihn jemand an einer kräftigen Wurzel festgebunden hatte. Die Anzeichen bestätigten, dass es sich tatsächlich um jenen mutigen Fahrenden handelte, der früher die verborgene Siedlung im Wald aufgespürt hatte. Da er nicht wusste, wie er den Gefesselten ansprechen sollte, wandte er sich dem Band am rechten Handgelenk zu. Die Lederschnüre waren so gut verknotet, dass sie von Hand nicht zu lösen waren. Er wollte nach einem scharfen Stein schauen, aber der Gebundene versuchte ihm etwas mitzuteilen. „Tasche“, stieß er mit schwacher Stimme hervor und bewegte den Kopf nach unten.
„Haben Sie ein Messer in der Tasche?“, fragte Toni.
Er nickte.
Toni schaute sich um, ob es eine andere Lösung gab. Aber ihm fiel nichts ein. Wohl oder übel ließ er sich ins Wasser gleiten. Mit Mühe konnte er stehen, so dass gerade sein Kopf aus dem Wasser ragte. Er tastete die Taschen ab. Tatsächlich steckte in der rechten Hosentasche ein harter Gegenstand von der Form eines Taschenmessers. Er legte die Hand flach an die Taille und schob seine Finger Stück für Stück in die gespannte Tasche. Es gelang ihm das Messer an einem Schlüsselbund vorbei herauszuholen. In dem Moment hörte er Stimmen. Durch den Gefangenen ging ein Zucken. Toni presste seinen Kopf nah an die Böschung. Wenn jemand ihn sah, würden sie gewiss die Bürgerwehr allarmieren. Den Stimmen nach war es ein älteres Paar. Sie schienen nichts von ihnen wahrzunehmen. Ohne dass sich ihr Redefluss veränderte, gingen sie vorbei. Kaum dass sie weg waren, machte er sich an die Arbeit. Es war ein rotes Offiziersmesser mit einem silbernen Kreuz. Mit der großen Klinge durchtrennte er mit wenigen Bewegungen das Leder. Der Arm sank kraftlos ins Wasser. Der Gefangene schien jetzt, kurz vor der Befreiung, alle Kraft zu verlieren. Wenn er ihn losband, würde er ins Wasser fallen und womöglich ertrinken. Deshalb nahm er den befreiten Arm und legte sich diesen von hinten über die rechte Schulter.
„Halte dich an mir fest!“, drängte er den Erschöpften. Erst als dieser sich an seinen Rücken lehnte und er auf der Schulter Druck spürte, streckte er die linke Hand aus und durchtrennte die anderen Lederschnüre. Der linke Arm fiel nach unten.
„Wir müssen raus, bevor neue Leute kommen“, sagte er nach hinten. Er horchte und schaute sich um. So weit er sehen konnte, war der Moment günstig. Er drehte sich mit dem Erschöpften der Wiese zu, legte dessen Arme aufs Gras. Bückte sich unter ihm weg und drückte ihn gegen die Böschung. Dann ging er runter ins Wasser, umschloss die Oberschenkel mit den Armen und schob ihn langsam nach oben. Toni gab das eine Bein frei und setzte dessen Fuß auf eine Wurzel. Dann schob er an seinem Gesäß. Sobald der Erschöpfte mit dem Oberkörper auf dem Trockenen war, kletterte er selber hoch. Der Erschöpfte lag regungslos auf der Wiese. Toni schaute sich unruhig um. Wenn jetzt jemand kommt, sind wir verloren, fürchtete er.
„Kannst du ein paar Schritte gehen oder soll ich dich ziehen?“, fragte er leise.
Langsam richtete sich der Mann auf und drehte sich gegen den Baum, so dass er den Oberkörper anlehnen konnte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet wie bei einem Nachtwandler. Toni ging in die Knie, legte jetzt dessen linken Arm über seine Schulter und wartete bis der Erschöpfte langsam mit ihm hochging. Sie schafften die zwanzig Meter bis zur Parkbank hinter den Büschen. Kaum hatte er den Erschöpften auf die Parkbank gelegt, schlief dieser schon. Toni nahm das Handgelenk und suchte nach dem Puls. Seine Angst wich, als er ein deutliches Pochen spürte. Er setzte sich und atmete tief durch. Ein Blick nach oben, zeigte ihm, dass die dunkle Wolke verschwunden war. Da fiel ihm der Schlüssel ein. Er griff in die Tasche und holte einen Autoschlüssel mit zwei weiteren Schlüsseln am Ring heraus. Toni hegte keine Zweifel mehr, dass es sich um Mark handelte. Irgendwo musste er ein Fahrzeug abgestellt haben. Vom Chef beauftragt war er nach Kleinengingen gefahren. Wenn die Geschichte Milis stimmte, war er von Eschenbach her gekommen und hatte das Wohnmobil auf einem Parkplatz an der Einfallstraße abgestellt. Dieses Fahrzeug ist zu finden. Eine andere Chance haben wir nicht, sagte er sich. Er richtete Mark auf, um ihm seinen Entschluss mitzuteilen. Er hielt ihm den Schlüssel vors Gesicht.
„Ich hole dein Wohnmobil. Bleib hier, entferne dich nicht!“ Der Erschöpfte nickte und sank sofort wieder zurück.
„Ich komme bald, warte hier!“, schärfte ihm Toni nochmal ein. Dann hastete er los, zur anderen Seite des Stadtteils. AS

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