Als Toni das Haus verließ, fühlte er sich hungrig. Er lief
stadteinwärts und schaute sich nach einem Imbiss oder einem Laden um. Jasmus
hatte ihn eingeladen, bei Ruben vorbeizugehen, aber aus einem Grund, der ihm
selber nicht klar war, hatte er abgesagt. Hatte jedoch Interesse für später
bekundet. Er würde sich melden. Tatsächlich hatte er das Gefühl, an diesem Tag
noch etwas leisten zu müssen, obgleich er nicht wusste, was ihm bevorstand.
Jasmus war auch beschäftigt. Der Fall mit dem abgebrannten Karree von Häusern
war sicher nicht leicht zu lösen. Er beneidete ihn nicht um diese Aufgabe. Die
Spurensicherung nach einem Brand war besonders schwierig. Er würde auf die
Redebereitschaft der Geschädigten angewiesen sein. Ob die mitmachten, war
fraglich. Toni kam an eine Wurstbude. Die roch aber wenig vertrauenswürdig.
Also ging er weiter. Wie weit der Künstler Jasmus dabei mit seinen Grabungen
behilflich sein würde, konnte Toni nicht abschätzen. Es war ihm nicht möglich
einen Zusammenhang zwischen einem aktuellen Vorfall wie einem Großbrand und
einer Substanz im Boden herzustellen. Der Boden bestand doch aus Ablagerungen,
jüngeren wie Humus und Älteren wie Gesteine und Fossilien. Fleisch im Boden?
Das war ihm neu. Er schüttelte den Kopf, diese Künstler lebten wirklich in
einer anderen Welt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er einen Supermarkt.
Ob es der war, den Jasmus besucht hatte, bevor er zur Veranstaltung mit den
Muschelbäumchen gegangen war? Toni trat ein. Er nahm eine Dose Sardinen aus dem
Regal, zwei Brötchen aus dem Bäckerkorb und von der Gemüseauslage zwei Tomaten
und zahlte an der Kasse. Mit der Tüte in der Hand schlenderte er durch die
Straße, auf der Suche nach einem ruhigen Platz. Er gelangte in einen Stadtteil,
dessen Sträßchen sehr eng waren. Er fühlte sich wie im Urlaub, in einer
idyllischen Stadt, die sich über die Jahrhunderte nicht verändert hatte. Zum
Hinsitzen waren ihm die Straßen an den Kanälen aber zu unruhig. Auf einem
Querweg gelangte er nach draußen und nahm schließlich Platz auf einer Parkbank,
die etwas abseits vom Weg hinter Büschen stand. Die Sonne sandte ihm ein paar
Strahlen und er blinzelte ihr zu. Dicht daneben machte sich eine dunkle Wolke
breit, von der er nicht wusste, wann sie ihn von seinem Sitz im Freien
vertreiben würde. Toni brach eines der Brötchen in zwei Hälften und zog die
Kartonumhüllung von der Sardinendose ab, als er eine unfreundliche, finstere
Stimme hörte.
„Von mir aus können Sie ewig hier angebunden bleiben!“
Als Antwort glaubte er ein Stöhnen zu hören. Er sah, dass eine
Person auf dem Weg hinter den Büschen weiterlief, aber nur eine. Wo war die
andere Person, deren Stimme er undeutlich vernommen hatte? Er steckte Brot und
Dose nochmal in die Tüte und ging vor zum Weg. Den älteren Mann, der bei ihm
vorbeigegangen war, sah er in der Ferne verschwinden, aber keine zweite Person.
Man versteht nicht alles, sagte er sich und setzte sich wieder auf die Bank.
Wie er nach der Dose griff, hörte er eine Schar Kinder plaudernd und schreiend
näher kommen. Er schenkte ihnen keine Beachtung, bis er wieder die gleiche
gepresste Stimme hörte.
„Kommt, helft mir!“
Als Antwort rannten die Kinder davon. Toni stand sofort auf und
ging auf den Weg. Er konnte aber niemanden sehen. Gewiss war der Betreffende
noch in der Nähe. Vielleicht ein Mann, vor dem die Eltern ihre Kinder warnten.
Sie sagten nicht, das ist ein Pädophiler, der versucht euch zu begrapschen und auszuziehen,
sondern, der will euch wehtun, nehmt euch vor ihm in Acht.
„Hallo, ist da jemand?“, rief Toni.
Da hörte er die schwache Stimme wieder, sah aber niemanden. Er
ging einige Schritte in Richtung der Laute und rief. „Hallo, wo sind Sie?“
„Hier bin ich, hier!“, antwortete eine männliche Stimme leise.
Noch ein Schritt und Toni sah ein ganz unglaubliches Bild. Neben
dem Weg war ein Kanal, am Ufer stand ein großer Baum und hinter diesem Baum im
Wasser sah er einen Kopf – nichts als einen Kopf. Wie ein Stromschlag traf es
ihn. Die Geschichte von Mili kam ihm im selben Moment in Erinnerung, ‚Die Räte
im Glasschrank‘. Konnte es sein, dass er den Mann vor sich hatte, den vier
Männer der Bürgerwehr Kleinengingens in einem Kanal außerhalb an die Wurzeln
eines Baumes gefesselt hatten? Aber in der Geschichte war Mark doch ganz
optimistisch gewesen. Er hatte geglaubt, sich selber befreien zu können. Wenn
er es tatsächlich war, dann hatte er sich geirrt. Toni sah ein kräftiges,
gebräuntes, aber blasses Gesicht, krause Haare, die mal sehr dunkel gewesen
sein mussten, jetzt aber von silbernen Haaren durchwirkt und aufgehellt waren.
Toni brachte kein Wort hervor. Er kniete nieder. Da erkannte er, dass dies kein
Verrückter war, sondern dass seine ausgestreckten Arme festgebunden waren. Bei
näherem Hinschauen sah er Lederschnüre, womit ihn jemand an einer kräftigen
Wurzel festgebunden hatte. Die Anzeichen bestätigten, dass es sich tatsächlich
um jenen mutigen Fahrenden handelte, der früher die verborgene Siedlung im Wald
aufgespürt hatte. Da er nicht wusste, wie er den Gefesselten ansprechen sollte,
wandte er sich dem Band am rechten Handgelenk zu. Die Lederschnüre waren so gut
verknotet, dass sie von Hand nicht zu lösen waren. Er wollte nach einem
scharfen Stein schauen, aber der Gebundene versuchte ihm etwas mitzuteilen.
„Tasche“, stieß er mit schwacher Stimme hervor und bewegte den Kopf nach unten.
„Haben Sie ein Messer in der Tasche?“, fragte Toni.
Er nickte.
Toni schaute sich um, ob es eine andere Lösung gab. Aber ihm fiel
nichts ein. Wohl oder übel ließ er sich ins Wasser gleiten. Mit Mühe konnte er
stehen, so dass gerade sein Kopf aus dem Wasser ragte. Er tastete die Taschen
ab. Tatsächlich steckte in der rechten Hosentasche ein harter Gegenstand von
der Form eines Taschenmessers. Er legte die Hand flach an die Taille und schob
seine Finger Stück für Stück in die gespannte Tasche. Es gelang ihm das Messer
an einem Schlüsselbund vorbei herauszuholen. In dem Moment hörte er Stimmen.
Durch den Gefangenen ging ein Zucken. Toni presste seinen Kopf nah an die
Böschung. Wenn jemand ihn sah, würden sie gewiss die Bürgerwehr allarmieren.
Den Stimmen nach war es ein älteres Paar. Sie schienen nichts von ihnen
wahrzunehmen. Ohne dass sich ihr Redefluss veränderte, gingen sie vorbei. Kaum
dass sie weg waren, machte er sich an die Arbeit. Es war ein rotes Offiziersmesser
mit einem silbernen Kreuz. Mit der großen Klinge durchtrennte er mit wenigen
Bewegungen das Leder. Der Arm sank kraftlos ins Wasser. Der Gefangene schien
jetzt, kurz vor der Befreiung, alle Kraft zu verlieren. Wenn er ihn losband,
würde er ins Wasser fallen und womöglich ertrinken. Deshalb nahm er den
befreiten Arm und legte sich diesen von hinten über die rechte Schulter.
„Halte dich an mir fest!“, drängte er den Erschöpften. Erst als
dieser sich an seinen Rücken lehnte und er auf der Schulter Druck spürte, streckte
er die linke Hand aus und durchtrennte die anderen Lederschnüre. Der linke Arm fiel
nach unten.
„Wir müssen raus, bevor neue Leute kommen“, sagte er nach hinten.
Er horchte und schaute sich um. So weit er sehen konnte, war der Moment
günstig. Er drehte sich mit dem Erschöpften der Wiese zu, legte dessen Arme aufs
Gras. Bückte sich unter ihm weg und drückte ihn gegen die Böschung. Dann ging
er runter ins Wasser, umschloss die Oberschenkel mit den Armen und schob ihn
langsam nach oben. Toni gab das eine Bein frei und setzte dessen Fuß auf eine
Wurzel. Dann schob er an seinem Gesäß. Sobald der Erschöpfte mit dem Oberkörper
auf dem Trockenen war, kletterte er selber hoch. Der Erschöpfte lag regungslos
auf der Wiese. Toni schaute sich unruhig um. Wenn jetzt jemand kommt, sind wir
verloren, fürchtete er.
„Kannst du ein paar Schritte gehen oder soll ich dich ziehen?“,
fragte er leise.
Langsam richtete sich der Mann auf und drehte sich gegen den
Baum, so dass er den Oberkörper anlehnen konnte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet wie bei
einem Nachtwandler. Toni ging in die Knie, legte jetzt dessen linken Arm über
seine Schulter und wartete bis der Erschöpfte langsam mit ihm hochging. Sie
schafften die zwanzig Meter bis zur Parkbank hinter den Büschen. Kaum hatte er
den Erschöpften auf die Parkbank gelegt, schlief dieser schon. Toni nahm das
Handgelenk und suchte nach dem Puls. Seine Angst wich, als er ein deutliches
Pochen spürte. Er setzte sich und atmete tief durch. Ein Blick nach oben,
zeigte ihm, dass die dunkle Wolke verschwunden war. Da fiel ihm der Schlüssel
ein. Er griff in die Tasche und holte einen Autoschlüssel mit zwei weiteren
Schlüsseln am Ring heraus. Toni hegte keine Zweifel mehr, dass es sich um Mark
handelte. Irgendwo musste er ein Fahrzeug abgestellt haben. Vom Chef beauftragt
war er nach Kleinengingen gefahren. Wenn die Geschichte Milis stimmte, war er
von Eschenbach her gekommen und hatte das Wohnmobil auf einem Parkplatz an der
Einfallstraße abgestellt. Dieses Fahrzeug ist zu finden. Eine andere Chance haben
wir nicht, sagte er sich. Er richtete Mark auf, um ihm seinen Entschluss
mitzuteilen. Er hielt ihm den Schlüssel vors Gesicht.
„Ich hole dein Wohnmobil. Bleib hier, entferne dich nicht!“ Der
Erschöpfte nickte und sank sofort wieder zurück.
„Ich komme bald, warte hier!“, schärfte ihm Toni nochmal ein.
Dann hastete er los, zur anderen Seite des Stadtteils. AS
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