Donnerstag, 14. Juni 2012

67 Das Rätsel

Das Rätsel, das Ruben ausgesucht hatte, war ein Vorfall, der sich vor kurzem in einem Arbeiterviertel ereignet hatte, im Einflussgebiet der Firma Scheffler. Ein Brand, der auf einer quadratischen Fläche mehrere Dutzend Häuser zerstört hatte. Inzwischen ging man davon aus, dass nach exakter Planung ein Karree von sieben mal sieben Häusern abgebrannt worden war. Als die Feuerwehr kam, konnte sie nicht mehr ins Innere dieses Karrees eindringen. Bei der Summe an Hausbränden hatte sich eine solche Hitze entwickelt, dass selbst die Schutzanzüge nicht standhielten. Bei einem Löschfahrzeug, dessen Fahrer es dennoch versucht hatte, schmolzen die Schläuche und die Reifen. Es war danach unbrauchbar. Alles was die Schutzleute tun konnten, war zu verhindern, dass das Flammenmeer sich auf den weiteren Umkreis der Siedlung ausdehnte. Außer den Tollkühnen in dem einen Löschfahrzeug, die leichte Brandverletzungen erlitten hatten, waren keine Menschen zu Schaden gekommen. Das wurde als großes Glück gesehen. Dieser Umstand hat die Behörden aber auch misstrauisch gestimmt. Handelte es sich um einen unfasslichen Zufall, verursacht zum Beispiel durch beschädigte Gasleitungen? Oder war es eine geplante Brandstiftung? Eines einzelnen? Von mehreren? Oder gar vom Kollektiv der dort Wohnenden? Dieser Fall fand Ruben, könnte Rätsels genug sein, um als Frage seine Arbeit auf eine neue Ebene zu heben. Er glaubte, diesem Vorfall nachgehen zu müssen, um seinen Grabungen eine Richtung zu geben. Im Laufe seiner Arbeit war er auf verschiedene Hinweise gestoßen.
Toni hatte staunend der Mitteilung von Jasmus zugehört, der wie Mili mit halbgeschlossenen Augen berichtete und den Eindruck machte, als würden sich Bilder vor seinem inneren Auge abspielen, von dem Viertel im Vorzustand, während des Brandes und danach mit den verkohlten Überresten.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche“, meldete sich Toni zu Wort.
Jasmus schaute ihn verwundert an, als sei er aus wichtigen Überlegungen aufgeschreckt worden.
„Haben Sie gerade gesagt, dass Ruben bei seinen Grabungen Hinweise auf den Brand fand?“
Jasmus schaute ihn an und nickte.
„Wie soll ich mir das erklären?“, fragte Toni ungläubig.
„Rubens Grabungen stehen in Beziehung zu verschiedenen Vorfällen, die im näheren oder weiteren Umfeld stattfinden“, erklärte er.
„Außerhalb des Grabungsortes?“, fragte Toni.
„Sie müssen bedenken, dass viele Künstler durch Grabungen zu ihren Ergebnissen kommen“, betonte Jasmus. „Denken sie nur an den berühmten Stefan König, der die Entstehung seiner schockierenden Geschichten, als das Freilegen eines Fossils beschreibt. Wenn ich es ganz befreit habe, ist mein Werk fertig, sagt er sinngemäß. Im Unterschied zu ihm gräbt unser Künstler nach Fleisch, nach lebendigem Fleisch im Boden.“
Toni verstand nicht genau, was Jasmus damit ausdrücken wollte. Aber er mochte auch nicht nachfragen. Schon als Mili damals beschrieb, wie Ruben mit seinen Helfern Fleisch freilegte und daraus die Raupensegmente bildete, hatte er passen müssen. Künstler leben in einer anderen Welt, hatte er sich gesagt. Man kann sie nie ganz verstehen.
„Ruben hat bei seinen Grabungen entdeckt, dass ein gewisser Bodo vor kurzem in dieses Viertel gezogen ist“, fuhr Jasmus fort. „Zu einem Freund, dessen Haus, wie sich herausstellte, genau in der Mitte dieses Karrees aus sieben mal sieben Häusern gestanden hatte. Merkwürdig nicht?“
„Geradezu unfasslich“, stieß Toni hervor und wiegte den Kopf. Er stutzte kurz, wegen dem Namen, Bodo, machte sich aber keine weiteren Gedanken.
„Ich musste Ruben zustimmen, dieser Vorfall war ein wirksames Rätsel, um in die Mitte seiner Arbeit gestellt zu werden“, sagte Jasmus. „Dramatischer Vorfall, keinerlei Hinweise, die Behörden bei der Aufdeckung überfordert, Versicherungen weigern sich zu zahlen, bevor der Fall nicht restlos aufgedeckt sei.“
Auf der Straße war ein ziemlicher Lärm. Der Gastgeber stand auf und schloss das Fenster. Wieder im Sessel sitzend, fuhr er fort.
„Obwohl ich nicht gerade der Freund von Todschlag, Unglücken und Naturkatastrophen bin, musste ich in Anbetracht, dass das Interesse der Zeitungen an Rubens Grabungen mehr als bescheiden war, zustimmen. Dieser Aufhänger könnte uns helfen, mehr Aufmerksamkeit für seine große Arbeit zu gewinnen.“
„Setzt zwar alles in ein etwas düsteres Licht“, bemerkte Toni, „aber Neugierde kann damit bestimmt geweckt werden. – Wie geht es denn den Leuten? Werden die Häuser schon wieder aufgebaut?“
„Ach keine Spur – das kann noch lange dauern.“
„Oh je“, rief Toni, „was für eine Not für die Betroffenen.“
„Ich habe nicht den Eindruck, dass sie in Not sind“, entgegnete Jasmus. „Neulich war ich mit Ruben dort. Sie wohnen in Notunterkünften, wie man sie aus den Katastrophengebieten kennt. Die Stimmung ist eine ganz andere, als man sie aus solchen Arbeitervierteln kennt.“ Er beugte sich vor. „Einer der Bewohner hat zu mir gesagt. Ein neues Leben. Das ist ein Glück für mich.“
Toni: „Was haben Sie und Ruben bisher zur Aufklärung unternommen?“
Auf Jasmus‘ Stirn bildeten sich Furchen. Ihm schien gar, dass sich Schweißperlen zeigten. Er berichtete weiter.
Da er sich für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig fühlte, hatte er sich einer Gruppe von Krimi-Schreibern angeschlossen. Sie bildeten eine Orchestergruppe und musizierten gemeinsam. Letzte Woche war er dort gewesen. Jasmus legte die flachen Hände vor seinen Augen. Er war schon mit schlechtem Gefühl hingegangen. Aber es erwies sich als noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Er stand auf und erläuterte. „Der Raum war etwa doppelt so groß wie dieser. Hier in der Mitte saßen die Meister. Soweit ich sehen konnte, alles Journalisten, die nebenher dem Krimi-Schreiben frönen. Sie spielten die ersten Geigen, die Bratschen, Cellos, Trompeten und Pauken. Ich hatte meine Querflöte dabei. Aber dafür hatten sie keine Verwendung und drückten mir einen Triangel in die Hand. Damit saß ich am Rand unter den Hobbyschreibern. Kling, kling, kling. Heute Morgen hat mich Ruben daran erinnert, dass wieder Dienstag ist. Ich habe ihm deutlich gesagt, dass ich mir die Triangel nicht nochmal antun werde.“
Toni schaute ihn fragend an.
Ruben habe gebrummt, wie immer, wenn ihm etwas nicht gefalle, berichtete er weiter. Er, Jasmus, habe ihm gesagt, er solle seine Funde nach weiteren Hinweisen zu den Vorfällen in diesem Viertel durchforsten. Das werde eine Weile dauern. Wie er, Toni, wohl wisse, seien diese ziemlich umfassend. AS

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