Montag, 11. Juni 2012

64 Schiffdeck in Eiform

Nachdem man seine Wohnung versiegelt und das Schloss getauscht hatte, verdingte sich Toni als Schiffsangestellter. Er hatte den ganzen Tag Dielen geschruppt und die Reling poliert – obwohl kaum Gäste kamen.
„Was soll das, wenn doch niemand kommt?“, hielt er dem Adjutanten vor.
Der Kapitän trat hinzu, ein ruhiger Mann mit Pfeife. „Bereit sein ist alles!“, bemerkte er.
Halb tot von der Arbeit und vor Enttäuschung, legte Toni sich spätabends auf das schmale Kajütenbett, das man ihm angewiesen hatte. Nachts sehnte er sich nach seiner Geliebten, die ihm dreiundneunzig Tage lang Gesellschaft geleistet und ihm jede Nacht eine Geschichte erzählt hatte. Er verfluchte das Schiff und sein Schicksal.
Im Halbdunkel bewegte sich jemand.
„Wer ist da?“, rief er laut. Er sah einen Matrosen im blauen Jackett mit weißer Mütze. Toni setzte sich auf und winkte dem Burschen. Wie der näher kam, stockte ihm der Atem. Eine Matrosin? Als sie noch näher kam, wurde ihm plötzlich klar, wer sich in seine Kajüte geschlichen hatte.
„Mili, wie hast du das geschafft?“
Langsam zog sie sich aus. Dann legte sie sich zu ihm auf das schmale Bett – und alles, was er erlitten hatte, war vergessen. So schön war es noch nie gewesen. Nur aufrichten konnte sie sich nicht in dem Bett. Also setzte sie sich auf den einzigen Stuhl, steckte ihre Füße unter seine Decke und fing an zu erzählen wie Kermit … AS

Mit dem Rücken gegen die Brüstung gelehnt saß er da und versuchte Ordnung in seine Noten zu kriegen. Er hatte große Mühe sich zu konzentrieren. Als spürte sie, dass er zerstreut war, kam Henriette her und neckte ihn. Sie griff nach einem seiner Blätter, trat zwei Schritte zurück und tat so, als würde sie vom Blatt singen. Dabei ließ sie einzelne hohe Töne erklingen, die nicht mal so schlecht klangen. Henriette war ein süßes, etwas aufdringliches Mädchen, für das er gelegentlich zu sorgen hatte. Kermit wartete, bis sie ihm das Blatt zurückgab. Dann steckte er die Noten in die Tasche und bot ihr an, mit ihr zu spielen.
„Schere, Stein, Papier“ – ihr Lieblingsspiel – schlug sie vor.
Er war einverstanden. Henriette setzte sich im Schneidersitz ihm gegenüber und zeigte die Faust (Stein), während er Zeige- und Mittelfinger spreizte (Schere). Der erste Punkt war für sie.
Immer wieder sagte er sich, das Mädchen ist so, weil ich zu oft über meinen Noten sitze und ihr zu wenig Aufmerksamkeit schenke. Das war natürlich Unsinn. Sauerstoffmangel bei der Geburt hatte zu ihrer leichten Behinderung geführt.
Nach einer Weile war das Mädchen des Spiels überdrüssig – eigentlich war sie schon eine junge Frau – sie sprang davon. Weil die Fläche von einer Brüstung – genauer, einer Reling – umfasst war, brauchte er sich keine Sorgen um sie zu machen.
Auf das Bild von den Vögeln und den Schlangen hin, hatte Tristan ihm geraten, von einer Erwerbsarbeit abzusehen. Als Leiter der Truppe bot er ihm an, bei ihnen aufzutreten, verlangte aber, dass er sich davor im Vortrag seiner Kompositionen übe. Kermit hatte schon viel komponiert – hauptsächlich für die Querflöte –  aber war noch kaum je vor Publikum aufgetreten. Deshalb hatte ihn Tristan auf das Schiff begleitet.
Der Seegang war so ruhig, dass er vergaß, dass er unterwegs war. Erst im Moment des Anlegens kam ihm wieder zu Bewusstsein, dass er auf der Reise war und er am Ziel angekommen war. Er geriet in große Unruhe. Wo habe ich mein Gepäck abgelegt? Wo ist mein zweites Paar Schuhe? Wo habe ich meine Jacke aufgehängt? Beim Betreten des Schiffs hatte er sich auf eine Bank gesetzt und das Gepäck darunter geschoben. Später hatte er im Restaurant einen Kaffee getrunken und sich dann im vorderen Teil des Schiffes auf den Boden gesetzt, ans Schiffsgeländer und hatte an seinen Noten gefeilt. Bis das Mädchen kam und ihn störte. Er rannte hin und her, im Gefühl, dass ihm noch einiges fehlte. Beim Landen hatte sich das Deck schräg geneigt, die Spitzte des Schiffes ragte nach oben. Spitze war falsch gesagt, weil das Deck eine ovale Form hatte. Oben war die schmälere Rundung, unten die breitere. Das erkannte er, obwohl es zu groß war, um es zu überblicken und weil sich zu viele Leute darauf aufhielten. Die Ei-Form vermittelte ihm das Gefühl des Eingeschlossenseins, er spürte, dass es hier um seine materielle Existenz ging. Dass das Schiff schräg stand, erhöhte die Verunsicherung.
Wie weitläufig das Schiff war, fiel ihm erst auf, als er aufhörte, die immer gleichen Stellen nach seinen Habseligkeiten abzusuchen und stattdessen das Deck erkundete. Unten stieß er auf einen Bereich, der für Konzerte vorbereitet war. Die rechte Hälfte nahmen Notenständer, Vortragspulte, Stühle und Leselampen ein. Das erinnerte ihn daran, dass er Tristan versprochen hatte, sich im Vortrag zu üben. Sich umsehend, fiel ihm die Musiklehrerin Lore auf. Sie ging herum und ermunterte zum Auftritt. Ihre zupackende Art flößte ihm Mut ein. Doch als er sie von Kindern reden hörte, nahm er Abstand. Für ein Kinderprogramm fühlte er sich dann doch zu gut. Er wollte seine eigenen Kompositionen spielen und nicht Kinderlieder dudeln.
Ohne ein Stück gespielt zu haben, verließ er das Schiff. Als er Kampermann wieder traf, fragte ihn dieser als erstes.
„Und, hat es geklappt mit dem Auftritt?“
Kermit schüttelte betrübt den Kopf. „Lore war da. Aber sie hat nach Teilnehmern für ein Kinderprogramm gesucht.“
Tristans Gesicht wurde hart. „Sie hat gewiss deine Kompositionen gemeint. Das sind doch deine Kinder.“ MLF

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